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Neuntes Kapitel

Das Jahr, das Madges vorübergehendem herbstlichen Auftauchen an der Londoner Bühne folgte, begann mit Neuwahlen fürs Parlament und einem daran anschließenden Ministerwechsel – einem Aufblühen des Handels – der allgemeinen Einbildung, daß es nun endlich auf der Welt besser werden würde – einem plötzlichen Zuwachs an Rührigkeit im politischen Leben, an kaufmännischer Unternehmungslust, öffentlichen Vergnügungen und privatem Aufwand. Diese Hochflut erneuter Bewegung reichte sogar an eine ehrwürdige künstlerische Institution heran, die den Namen ›Antient Orpheus Society‹ trug, vor fast einem Jahrhundert zur Aufführung von Orchestermusik begründet und seitdem in England für die Musik als bahnbrechend erachtet worden war. Diese Institution hatte mit der Aufführung Beethovenscher Symphonien begonnen und jetzt mit der Wiedergabe einer Sammlung typischer verschrobener Musikphilister abgeschlossen, die so schnell und so weitgehend nach rückwärts bahnbrechend wirkten, daß sie über die Neuerungen in der Ouvertüre zum ›Wilhelm Tell‹ noch die Köpfe schüttelten, als der Rest der Menschheit der Tannhäuserouvertüre schon überdrüssig zu werden begann. Die jüngeren Kritiker führten es als gebräuchlich ein, den ›Antient Orpheus‹ für veraltet hinzustellen; ja sogar die älteren fingen bereits an, das nahende Aussterben der ›Society‹ zu verkünden – es sei denn, daß durch das Dahinscheiden des größeren Teils der Vorstandsmitglieder ein schleuniger Verjüngungsprozeß eintreten würde. Wie solches aber immer der Fall ist, ertönten die Warnungsrufe der Presse erst lange nachdem das Publikum bereits begonnen hatte, den Konzerten des ›Antient Orpheus‹ fernzubleiben. Und da die Society hinwiederum den Mahnungen der Presse hartnäckigen Widerstand entgegensetzte, bis der Tod oder greisenhafte Verstandesschwäche die konservative Mehrheit des Vorstandes in eine Minorität umgewandelt hatte, so war der gute Ruf des ›Antient Orpheus‹ über das Stadium der Erholungsfähigkeit schon weit hinaus, als man sich schließlich tatsächlich zu einer Reform entschloß. Sobald die neuen Mitglieder des verjüngten Vorstandes – deren drei das fünfzigste Jahr noch nicht überschritten hatten – zu dieser ausschlaggebenden Erkenntnis gelangten, da erfaßte sie der gleiche Eifer, die Konzertprogramme mit neuen Werken anzufüllen, der ehedem ihre Vorgänger bestimmt hatte, solche Musikstücke auszuschließen. Als aber die Frage der Auswahl neuer Werke, Werke englischer Komponisten, die man bisher sehr vernachlässigt hatte, in Betracht gezogen wurde, entstand auch sofort der größte Zwiespalt. Einige drängten dahin, gerade die Gewohnheiten des alten Komitees beizubehalten, über die die Presse am ausdauerndsten Klage geführt hatte. Hiergegen wurde der Einwand erhoben, daß das Publikum trotz der patriotischen Klagerufe der Presse seine Meinung über englische Komponisten dadurch klar dargelegt habe, daß es gerade den Konzerten, bei denen solche Tonsetzer zu Worte kamen, geflissentlich fernblieb. Schließlich kam man dahin überein, beim ersten Konzert der Saison ein englisches Werk aufzuführen und die allenfalls abstoßende Wirkung eines solchen Unternehmens dadurch abzuschwächen, daß man einer jungen Polin, die neuerlich im Ausland als Pianistin bedeutende Erfolge erzielt hatte, zu einem Auftreten in England Gelegenheit gab. Sobald diese Angelegenheit ins reine gebracht war, tauchte die Frage nach der Art des neuen englischen Werkes auf. Der größere Teil der Komiteemitglieder besaß Manuskripte eigener Provenienz, die vor dreißig Jahren, und zwar in der Zeit komponiert worden waren, als die Verfasser nach dem Austritt aus der Musikakademie sich der Lehrtätigkeit so ausgiebig hingaben, daß ihnen alle schöpferische Tatkraft verloren ging. Da jedoch Werke dieser Art dem Publikum bereits einigemal zu dessen unverhohlener Langeweile vorgeführt worden waren, und da ferner jeder Verfasser zögerte, sein eigenes Opus in Vorschlag zu bringen, so blieb diese brennende Frage fürs erste unerledigt. Schließlich erwähnte ein neugewähltes Vorstandsmitglied – kein Berufsmusiker – eine Fantasie für Klavier und Orchester, die ihm persönlich bekannt sei. Sie war – wie er sagte – von einem jungen Menschen, einem Mr. Owen Jack, komponiert. Der Vorsitzende räusperte sich und bemerkte etwas kühl, sich eines solchen Namens nicht zu erinnern. Ein Mitglied fragte ohne Umschweife, wer dieser Jack wäre und ob irgendjemand schon jemals etwas von ihm gehört habe. Ein anderes Mitglied protestierte nachhaltig gegen eine Fantasie als solche: wenn dieser berühmte Unbekannte von musikalischer Form nicht genug wüßte – meinte er – um ein richtiges Concerto zu schreiben, so könne die ›Antient Orpheus Society‹, die fast ein Jahrhundert lang ohne seine Hilfe fertig geworden sei, dies aller Wahrscheinlichkeit auch noch etwas länger tun. Als der Beifall und das Gelächter, die diese Protestrede hervorrief, verklungen waren, erwähnte ein etwas wohlwollenderes Mitglied, einen Herrn namens Jack im Hause einer befreundeten Familie in Windsor kennen gelernt zu haben. Dort hätte der Betreffende einige Improvisationen und Variationen über ein von einer Dame komponiertes Lied in sehr eigenartiger und fesselnder Weise zum besten gegeben. Er unterstützte den Vorschlag, Jacks Fantasie unverzüglich einer Prüfung zu unterziehen, und zwar im Hinblick auf eine Wiedergabe durch die junge, für das nächste Konzert engagierte Polin. Ein anderes, weniger wohlwollendes, dafür aber auf den letzten Sprecher sehr eifersüchtiges Mitglied trat gleichfalls für den Vorschlag ein – auf Grund der Tatsache, daß gerade die Ansicht der Gesellschaft, sie könne ohne Sinn für das Neue nach wie vor hoch und hehr dastehen, sie an den Rand des Grabes gebracht habe. Hieraus ergab sich natürlich zunächst die empörte Versicherung, daß die Gesellschaft niemals in höherem Ansehen gestanden hätte als gerade jetzt; und dann folgte eine Debatte, im Verlaufe deren Jacks Fähigkeiten von Leuten, die seinen Namen bis zu dieser Stunde nie gehört hatten, leidenschaftlich angegriffen und verteidigt wurden. Der Abschluß bestand darin, daß der Herr, der die ganze Frage aufgeworfen hatte, die Erlaubnis erhielt, Mr. Jack zu einer Einreichung seiner Phantasie aufzufordern.

Bei der nächsten Versammlung lenkte ein Mitglied die Aufmerksamkeit seiner Kollegen unter Ausdrücken der Entrüstung auf ein Schriftstück, das gleichzeitig mit dem Manuskript, zu dessen Einsendung die ›Antient Orpheus Society‹ Herrn Jack in so ehrenvoller Weise aufgefordert habe, nunmehr eingetroffen sei. Es handelte sich um einen Brief an den Sekretär, der folgendermaßen lautete:

Sehr geehrter Herr!

Sie erhalten beifolgend die Instrumentalpartitur meiner für Klavier und Orchester komponierten Fantasie. Ich bin gewillt, dies Werk der ›Antient Orpheus Society‹ für ein Konzert unentgeltlich zur Verfügung zu stellen, und zwar unter der Bedingung, daß die Probe von mir geleitet und, falls ich es für nötig halte, eine zweite Probe angesetzt wird.

Das Mitglied sagte, es wolle auf den unpassenden Ton dieses Briefs nicht näher eingehen – eines Schreibens, das von einem minderwertigen Musiklehrer, der Mister Jack seinen Erkundigungen gemäß war, an die erste Musikgesellschaft ganz Europas gerichtet worden sei. Der Brief wäre ohnedies durch das Antwortschreiben des Sekretärs in die zukommenden Schranken zurückgewiesen worden, und die eingehende Prüfung der gleichzeitig abgelehnten Partitur hätte ergeben, daß das Werk trotz einiger unleugbarer Vorzüge in der Form zu exzentrisch und im harmonischen Aufbau zu unreif wäre, um bei den Konzerten der Gesellschaft öffentlich aufgeführt werden zu können. Dies Vorgehen hätte einen zweiten Brief des Mr. Jack zur Folge gehabt. Über diesen enthielt das Mitglied sich jeglicher Meinungsäußerung, zog es vielmehr vor, das Dokument für sich selber und für den Charakter des Schreibers sprechen zu lassen.

Church Street, Kensington W.

Mein Herr!

Sie sind, soviel ich weiß, zur Kritik nicht aufgefordert worden. Ihr Urteil ist zudem völlig wertlos und dient lediglich dazu, die unverwüstliche Beschränktheit der Pedanten zu beleuchten, denen Sie zum Sprachrohr dienen.

Hochachtungsvoll
Owen Jack.

Der geschickteste Diplomat hätte keinen Brief schreiben können, der mehr zu Jacks Gunsten gesprochen hätte. Die Reformpartei faßte ihn als eine glänzende Schlappe für ihre Gegner auf und entschloß sich sofort, den Sekretär dafür büßen zu lassen, weil er das Werk ohne Autorisation des ganzen Komitees zurückgewiesen hatte. Jacks Fürsprecher förderte ein Schreiben der jungen Polin zutage, in dem sie den Empfang einer Fantasie bestätigte und sich mit Freuden bereit erklärte, der englischen Zuhörerschaft ein derartig poetisches Werk eines Engländers vorführen zu können. Hierzu gab er die Erklärung ab, daß er sich eine Abschrift des Klavierauszugs von einer ihm bekannten jungen Dame, die sich gerade damit beschäftigte, geborgt und der polnischen Künstlerin gleich nach deren unlängst erfolgter Ankunft in England zugesandt habe. Ihr Urteil legte, wie er meinte, zur Genüge dar, daß der Brief des Sekretärs auf einer irrtümlichen Auffassung beruhe und die eingetroffene Antwort in vollem Umfange verdiene. Hiergegen äußerte sich der Sekretär voll Entrüstung des Sinnes, daß das Mitglied kein Recht besäße, seine Bekanntschaft mit der Pianistin zur Beeinflussung des Geschäftsganges der Gesellschaft auszunutzen, und er brandmarkte Jacks Brief als ungehobelte Rüdigkeit, wie solche der niedrigen Denkweise eines arroganten Charlatans eigen wäre. Von anderer Seite wurde nun die Ansicht geäußert, Jack hätte lediglich unter dem Einfluß künstlerischen Feingefühls gehandelt; zudem schlösse ein Vorgehen, das darin bestünde, Komponisten zur Einsendung ihrer Werke aufzufordern und diese dann zu behandeln, als ob sie Prüfungsarbeiten anmaßender Neulinge wären, eine Art Unverfrorenheit in sich, die dazu angetan sei, den ›Antient Orpheus‹ lächerlich und odiös zu machen. Das älteste Mitglied, das gerade den Vorsitz führte, erklärte nunmehr feierlich, die Fantasie mit eigenen Augen gesehen zu haben – sie wäre eine jener formlosen, in letzter Zeit gar zu häufigen Kompositionen, die die herrliche Kunst Haydns und Mozarts mit Windeseile dem Pfuhl moderner Sensationslust zutrieben. In Erwiderung hierauf gestattete sich jemand den Hinweis, der den Vorsitz führende Herr habe sich des öfteren im gleichen Sinne über Wagners Werke geäußert, wo doch Richard Wagner, wie sie alle wüßten, der größte Komponist der gegenwärtigen Zeit und aller Zeiten sei. Diese Behauptung erregte leidenschaftlichen Widerspruch auf der einen und lauten Beifall auf der andern Seite. In dem allgemeinen Durcheinander, das nun folgte, wurde Jacks Sache mit Wagners identifiziert. Schließlich brachte die Majorität einen Antrag ein, die Zurückweisung der Fantasie für ungültig zu erklären – und zwar ging dieser Antrag von den Bewunderern des deutschen Tonkünstlers aus, die sich samt und sonders um den englischen Komponisten keinen Deut kümmerten.

»Ich freue mich über unsern Sieg,« meinte Mr. Phipson, der Antragsteller, zu einem Freunde, als die Versammlung aufgehoben wurde. »Immerhin aber haben wir uns davon überzeugt, daß Mary Recht damit hatte, wenn sie meinte, Jack riefe nur Zank und Streit im Leben hervor – von der Musik ganz abgesehen.«

Anfänglich wollte Jack mit der ›Antient Orpheus Gesellschaft‹ überhaupt nichts mehr zu tun haben. Da er aber schließlich einsah, daß seine Halsstarrigkeit nur ihm allein Schaden zufügte, so gab er Mary Sutherlands Vorstellungen nach und erklärte sich bereit, die Gelegenheit, die sie ihm mit Phipsons Hilfe verschafft hatte, auch wirklich auszunutzen. Die geschäftliche Abwicklung nahm also ihren Fortgang. Und schließlich entstieg Jack an einem ungemütlich-feuchten Frühlingsvormittag in Piccadilly dem Omnibus und schritt durch den schlammigen Schmutz St. James's Hall zu, woselbst er in dem düsteren Raum unterhalb des Orchesters eine Gesellschaft von achtzig Herren antraf, die durcheinander schwatzten, sich der Kälte wegen eingemummt hatten und mit den Füßen stampften – sich über schwarze Lederfutterale und Kästen bückten, die Musikinstrumente enthielten – oder sich zögernd aus wollenen Schals herauswanden und ihre gewaltigen Überzieher aufknöpften. Er ging an ihnen vorbei in ein anderes Zimmer und sah hier drei Herren in höflicher Haltung vor einer jungen Dame im Pelzmantel mit einem kleinen Kopf, hellbraunem Haar und bleichen, etwas abgearbeiteten Gesichtszügen. Sie nahm ihre Höflichkeiten mit jener natürlichen Ungezwungenheit einer Prinzessin aus eigener Machtvollkommenheit an, wie sie von wirklichen Prinzessinnen aus anderer Leute Machtvollkommenheit mit so unzulänglichem Erfolge angestrebt wird. Während sie so in französischer Sprache mit den Herren verhandelte und deren Verständnis zeitweilig mit einigen Worten gebrochenem Englisch nachhalf, huschte zuweilen ein Lächeln über ihr Gesicht – offenbar mehr aus Liebenswürdigkeit, als aus angeborenem Frohsinn; denn ihre Züge verfielen immer wieder in den Ausdruck geduldiger, aber keineswegs unzufriedener Abgeklärtheit. In ihrer Nähe saß eine fremdländisch aussehende Dame von brünettem Teint, hoher Gestalt und grimmigen Gesichtszügen.

Jack trat einige Schritte zur Mitte des Zimmers vor, sah flüchtig auf die Herren, warf einen längeren prüfenden Blick auf die junge Dame, deren Aufmerksamkeit – wie die der übrigen – sogleich durch seine überwältigende Häßlichkeit abgelenkt wurde. Er maß sie mit derartig stechenden Blicken, daß sie sich unwillig und etwas verlegen abwandte. Zwei der Herren starrten ihn in steifer Haltung an. Der dritte kam auf ihn zu und fragte mit gemessener Höflichkeit: »Was suchen Sie hier, mein Herr?«

Jack sah ihn einen Augenblick an und verzog sein Gesicht in eine Unzahl abschreckender Fältchen.

»Ich bin Jack!« entgegnete er im herausforderndsten Tonfall seiner machtvollen Stimme. »Wer sind Sie denn?«

»Oh – ich bitte sehr um Entschuldigung,« entgegnete der Herr etwas weniger steif. »Leider hatte ich bis jetzt noch nicht den Vorzug, Sie von Ansehen zu kennen. Mein Name ist Manlius – ganz zu Ihren Diensten!«

Herr Manlius war der Kapellmeister des ›Antient Orpheus-Orchesters‹, ein geschulter Musiker, der sich einer großen Wertschätzung erfreute, weil er in der königlichen Familie Unterricht erteilt hatte und vom Orchester beim Dirigieren stets einen gewissen Zwang in der Haltung verlangte, wie ihm solcher mit Rücksicht auf die Herren und Damen auf den Fauteuilsitzen erforderlich schien.

Jack verneigte sich. Herr Manlius überlegte, ob er den Komponisten der jungen Dame vorstellen sollte. Während er noch zögerte, wurde zunächst ein Füßescharren und Getrampel im Nebenraum bemerkbar – dann folgte eine auf dem Klavier angeschlagene Note – dann die Hoboe – gleich darauf die ohrenbetäubende unbeschreibliche Dissonanz der Quinten von den zahllosen Saiteninstrumenten, in die sich die leichten chromatischen Tonleitern der Holzbläser und die klagenden Töne aus den Klappen der Blechinstrumente einmischten.

Jacks Augen leuchteten auf. Er kümmerte sich nicht weiter um Mr. Manlius, durchschritt vielmehr die in den Zuhörerraum führende Tür, woselbst er eine Gruppe älterer Herren im Gespräch antraf. Einer von ihnen flüsterte den andern sofort etwas zu – und sie setzten daraufhin ihre Unterhaltung in gedämpfterem Ton fort. Jack warf einen kurzen Blick auf das Orchester und kehrte dann wieder in den andern Raum zurück, allwo die ältliche Dame in französischer Sprache darauf bestand, daß die Klavier-Fantasie vor allem andern geprobt werden sollte, da sie keine Lust verspüre, den ganzen Tag in der Kälte zu warten. Herr Manlius entgegnete, ohnehin dieser Ansicht gewesen zu sein und seine Anordnungen demzufolge in diesem Sinne treffen zu wollen.

»Das bleibt sich ganz gleich,« meinte die junge Dame erst in gebrochenem Englisch, dann auf Französisch. »Selbst wenn Sie mit der Fantasie beginnen, Monsieur, so werde ich auf jeden Fall darauf warten, Ihr berühmtes Orchester in diesem ehrwürdigen Raum spielen zu hören.«

Manlius verneigte sich geschmeichelt. Als er sich wieder aufrichtete, sah er Jack dicht neben sich stehen. »Gestatten Sie mir, Ihnen Mr. Jack vorzustellen?«

»Das Gestatten liegt bei Monsieur Jaques,« entgegnete sie. »Die armselige Pianistin fühlt sich durch die Anwesenheit des berühmten englischen Komponisten tief geehrt.«

Jack schien durch eine ernste Verbeugung seine Anerkennung für die geziemende Ausdrucksweise des jungen Frauenzimmers zum allgemeinen Verständnis bringen zu wollen. Manlius grinste heimlich und schlug dann vor, das Orchester aufzusuchen, da die Musiker durch den allzu langen Zeitverlust vielleicht ihre gute Stimmung einbüßen könnten. Sie erhob sich sofort und stieg am Arm des Dirigenten die Stufen hinauf. Man begrüßte sie mit einem ermutigenden Händeklatschen und andauerndem Geklapper auf die Geigenrücken. Jack folgte mit der ältlichen Dame, die sich auf der obersten Stufe niederließ und zu häkeln begann.

»Wenn Sie die Probe zu leiten wünschen,« meinte Manlius höflich zu Jack, »so steht Ihnen dies natürlich in vollem Umfange frei.«

»Ich wünsche es allerdings – danke!« entgegnete Jack. Manlius, der die Annahme seines Anerbietens kaum erwartet zu haben schien, zog sich zum Flügel zurück und machte sich bereit, der Pianistin die Noten umzuwenden.

»Ich kann alles aus dem Kopf,« wandte sie sich an ihn, »wenn Monsieur Jaques mich nicht den Kopf verlieren läßt. Nach seinem Gesicht zu urteilen, ist er nicht übermäßig geduldig – – – o Gott! habe ich's nicht gesagt?«

Jack hatte kurz aufs Dirigentenpult geklopft und richtete jetzt einen unheilverkündenden Blick auf die Musiker, die seiner Aufforderung nicht schnell genug Folge zu leisten schienen. Er legte den Stock wieder weg, stieg vom Pult herunter und neigte sich dem Kapellmeister ans Ohr.

»Ich habe schon erwähnt,« sagte er, »daß ein Teil der Partituren zum Studium vor der Probe an die Musiker verteilt werden sollte. Ist das geschehen?«

Manlius lächelte. »Mein lieber, guter Herr,« meinte er, »ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, daß Musiker von solchem Ruf, wie es die Mitglieder des ›Antient Orpheus-Orchesters‹ sind, sich mit einer solchen Zumutung wohl kaum einverstanden erklären würden. Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen. Die Herren können alles vom Blatt spielen – absolut alles.«

Jack machte ein fürchterliches Gesicht und kehrte ohne ein Wort zum Pult zurück. Noch einmal klopfte er kurz auf – und begann. Die Musiker waren aufmerksam, doch versuchten mehrere, sich das gegenteilige Aussehen zu geben. Wenige Takte lang legte sich Jack beim Dirigieren Zwang auf und unterdrückte augenscheinlich sein Bedürfnis nach ausgiebiger Gestikulation. Als dann einige Harmonien und Sequenzen etwas eigenartig und weithergeholt zu klingen begannen, wurde unterdrücktes Gelächter vernehmbar. Und plötzlich legte der erste Klarinettist mit einem Ausruf des Unwillens sein Instrument nieder.

»Nanu!« rief Jack. Die Musik hielt inne.

»Das kann ich nicht spielen!« bemerkte der Klarinettist kurz.

»Und Sie? Können Sie's spielen?« wandte Jack sich mit unterdrückter Wut an den zweiten Klarinettisten.

»Nein!« erwiderte dieser. »Das kann kein Mensch spielen!«

»Dieser Satz ist aber schon gespielt worden – und er muß gespielt werden! Ein gemeiner Soldat hat ihn gespielt!«

»Wenn ein gemeiner Soldat es versucht hat – von Spielen gar nicht zu reden – so muß er betrunken gewesen sein,« warf der erste Klarinettist mit empörter Mißachtung für diese vermeintliche Unwahrheit ein.

Allgemeines Gekicher wurde laut.

Eine Weile lang kämpfte Jack einen innerlichen Kampf. Dann brach es plötzlich wie ein Sonnenstrahl durch eine dunkle Gewitterwolke: als ein Anflug von Humor auf seinen Zügen aufleuchtete. »Sie haben recht,« sagte er. »Er war tatsächlich betrunken.«

Das ganze Orchester brach in schallendes Gelächter aus.

»Ich bin aber nicht bettunken!« rief der Klarinettist mit verschränkten Armen.

»Aber wollen Sie nicht wenigstens den Versuch –.« Hier versagte Jack die Stimme bei seinem Bestreben höflicher Überredungskunst, und er geriet wieder in helle Wut: »Es kann gespielt werden! Es wird gespielt werden! Es muß gespielt werden! Sie sind der beste Klarinettist in ganz England. Ich weiß, was Sie leisten können.« Dabei schüttelte er drohend seine Faust gegen den Musiker, als wolle er ihn eines ehrlosen Verbrechens bezichtigen. Seine Schmeichelei aber fand lauten Beifall; und der Musiker errötete – nicht gerade unangenehm berührt. Ein Hornist neigte sich begütigend zu ihm und sagte in seinem irischen Dialekt: »Na, – vorwärts doch, Joe! Versuch's!«

»Sie können es – Sie werden es spielen!« brüllte Jack in einem Tone, der freundlich sein sollte und mit dem er sich größter Selbstbeherrschung befleißigte. »Also noch einmal vom zweiten Taktstrich an! So – jetzt!«

Das Orchester setzte ein. Der Klarinettist gab nach, nahm sein Instrument zur Hand und spielte den Satz, als dieser herankam, zu seiner eigenen Verwunderung mit größter Leichtigkeit. Die glänzende Wirkung trug noch dazu bei, ihn zeitweilig in eine Ausnahmestellung vorzurücken, die der der Pianistin fast gleich kam. Das Orchester hielt im Spiel inne, um zu applaudieren; und Jack beteiligte sich in gehobenster Stimmung.

»Wenn Sie sich nicht damit zurecht finden können,« meinte er, vor Behagen kichernd, »so kann ich's auch den Violinen zuschanzen.«

»Oh nein – danke bestens,« entgegnete der Klarinettist. »Jetzt habe ich's – jetzt kann ich's.«

Jack rieb sich vor Vergnügen die Nase, bis sie wie eine Kohle glühte. Dann wurde die Passage ohne Stockung zu Ende gespielt, da die Musiker erkannten, daß Jack der rechte Mann am rechten Platze war.

Als aber das mit › andante cantabile‹ bezeichnete Thema, das den Mittelsatz der Fantasie bildete, von der Pianistin begonnen wurde, wandte Jack sich dieser zu, rief: »Schneller! Schneller! Plus vite!« und schlug dazu auf seinem Pult den Takt. Sie sah ängstlich zu ihm auf, spielte einige Takte in dem von ihm angegebenen Tempo, hörte dann auf und hob die Hände in die Höhe.

»Ich kann nicht!« rief sie. »Ich muß es langsamer spielen – oder gar nicht.«

»Natürlich – wenn du es wünschest, wird es langsamer gespielt,« meinte die ältliche Dame auf der Treppenstufe. Jack starrte sie an, wie er zuweilen Mrs. Simpson anstarrte. »Natürlich – wird es nicht langsamer gespielt und wenn alle Engel im Himmel es wünschten!« entgegnete er in aussprachlich korrektem, grammatisch aber geradezu barbarischem Französisch. »Weiter – und richten Sie sich im Tempo nach meinem Takt!«

Die junge Polin schüttelte das Köpfchen, faltete die Hände in ihren Schoß und sah in geduldiger Ruhe auf das Notenblatt. Es folgte ein Augenblick des Schweigens, während dessen Jack sie angesichts dieser stummen Herausforderung mit verzerrten Zügen anglotzte. Manlius erhob sich verlegen. Jack trat vom Dirigentenpult ab, händigte ihm den Taktstock ein und sagte mit gedämpfter Stimme: »Wollen Sie die Güte haben, den Teil der Fantasie zu dirigieren, bei dem diese Dame zu tun hat. Sobald meine Musik wieder anfängt, stehe ich zu Ihrer Verfügung.«

Manlius bestieg, mit dem Taktstock in der Hand, das Pult, und das Orchester begrüßte ihn mit Applaus. Inzwischen schritt Jack von dannen, warf im Vorbeigehen der Pianistin einen vernichtenden Blick zu und übertrug ihn dann auf deren ältliche Begleiterin, die Augenbrauen und Schultern verächtlich hochzog.

Manlius war aber nicht die geeignete Persönlichkeit, seine eigene Auffassung einer Komposition dem widerspenstigen ausführenden Künstler aufzuzwingen. Und wenn er auch innerlich mit Jack darin übereinzustimmen geneigt war, daß die Dame sich im Tempo des Satzes irrte, so richtete er sich doch gehorsam im Takt nach ihrem Spiel. Bald aber ging der Eindruck, den das Musikstück anfänglich bei ihm hervorgerufen hatte, verloren, und ihn befiel eine Art Furcht vor Geräusch, das irgend jemand im Raum hervorrufen könnte. Er bewegte den Taktstock so ruhig wie möglich und hob die linke Hand, als wolle er auch die Musiker zu größter Ruhe anhalten. Diese aber beobachteten entweder die Pianistin aufs genaueste oder sie spielten ohne den geringsten Anflug jener virtuosen Oberflächlichkeit, die sie zu Beginn zur Schau getragen hatten. Über die Freude des Zuhörens vergaß Manlius, der Partitur zu folgen. Als er sich gesammelt und die betreffende Stelle wieder gefunden hatte, bemerkte er, daß der erste Hornist mit einer Passage eine durchgreifende, aber sehr glückliche Veränderung vornahm. Er sah fragend in der Richtung hinüber und erblickte Jack, der, mit einem Bleistift in der Hand, neben dem Musiker saß. Und da schien es ihm auch zum erstenmal, als hätte er ein ausdrucksvolles Gesicht und bedeutende Augen, als wäre er gar nicht so unerhört häßlich, wie er anfänglich gemeint hatte.

Die alten Herren auf den Parkettsitzen, die anfänglich mit gedämpfter Stimme geplaudert hatten, wurden ganz still; einige wenige schlossen die Augen in Verzückung. Nur die Dame auf der Treppenstufe schien sich um die Musik nicht zu kümmern.

Und jetzt begann die Melodie weniger tragend zu werden und gleichsam abzubröckeln. Es war, als richte die Klavierstimme an die Instrumente die Bitte, das Motiv weiter zu führen. Eine wehmütig gezogene Passage der Geigen gab eine in Hoffnungslosigkeit ersterbende Antwort zurück. Doch wurde der ganze Effekt dieser Stelle durch Geräusch und Bewegung im Orchester beeinträchtigt. Die Trompeten- und Posaunenspieler, die bisher still gesessen hatten, nahmen ihre Instrumente zur Hand und schoben ihre Schnurrbärte in die Höhe. Der Paukenschläger schraubte noch eilig an seiner Tonikapauke herum und hielt die Klöppel in Bereitschaft. Der Statist neben ihm erhob sich mit den Zimbeln in der Hand, richtete die Augen auf Manlius und schien offenbar bereit, dem Trompeter vor ihm einen dröhnenden Hieb auf den Kopf zu versetzen – wie eine Dame auf eine Motte zuschlägt, die aus einem Wollvorhang auffliegt. Manlius warf einen raschen Blick auf die Partitur, als ob er den Zusammenhang nicht ganz verstünde.

Plötzlich, als die Violen innehielten, rief Jack mit seiner weithin hallenden Stimme: »Wie eine Lawine muß das kommen – vom höchsten Gipfel bis in den tiefsten Abgrund des Himalaja!« Damit stürzte er sich auf das Dirigentenpult – Manlius machte ihm hastig Platz – und dann folgte eine donnerähnliche Explosion von Klangfülle.

»Lauter!« brüllte Jack. »Lauter! Weniger Geräusch und mehr Ton! Heraus damit, als ob fünfzig Millionen Teufel dahinter steckten!«

Und dann führte er das Tempo mit mitleidsloser Geschwindigkeit. Die Pianistin sah erschreckt auf, ebenso die Musiker, von denen die meisten schon während der ersten Takte die Stelle auf dem Notenblatt aus dem Auge verloren hatten. Jedesmal aber, wenn ein Instrument an die Reihe kam, sah der Spieler den glühenden Blick des Dirigenten auf sich gerichtet, und so wurde er – ohne zu wissen wie – wieder in seine Passage hineingetrieben.

Es war eine geradezu wahnwitzige Orgie von Tönen. Leichte Melodien, die anmutig vom Klavier angeschlagen oder von den Geigen angedeutet wurden, fanden bei den Blechinstrumenten sogleich ein dröhnendes, fast höhnendes Echo in harmonischen Terzen einer geradezu genialen Unverschämtheit. Die Kadenzen, die die junge Polin zierlich auf den Tasten ausführte, wurden von den Baßgeigen möglichst plump nachgeäfft. Und statt des orthodoxen Motivs tauchten Sätze auf, die wie Balladen mit Chorbegleitung klangen.

Die alten Herren auf den Parkettsitzen stöhnten und erhoben Einspruch. Die junge Polin, der die kapriziöse, zeitweilig übermäßige von ihr verlangte Schnelligkeit viel Unbehagen bereitete, hielt dennoch heldenmütig aus. Und währenddessen fletschte Jack unaufhörlich die Zähne, tanzte umher, gestikulierte, fuhr mit einem ›Scht! Scht!‹ ins Orchester oder brüllte nach mehr Ton und weniger Geräusch. Selbst die Dame auf der Treppenstufe begann zu dem hinreißenden Rhythmus mit dem Kopfe zu nicken.

Und dann endete der Zwischensatz gerade so unvermittelt wie er begonnen hatte. Das ganze Orchester sprang von den Stühlen und lachte und applaudierte aus vollem Herzen. Auch Manlius hatte mit dieser Fantasie jegliches Vorurteil gegen Jacks Rang als Musiker fallen lassen; er schritt auf ihn zu und schüttelte ihm mit Wärme die Hand. Die junge Polin, deren Züge in musikalischer Begeisterung wie verklärt schienen, streckte ihm gleichfalls die Hand entgegen. Jack nahm sie und hielt sie in der seinen.

»Hören Sie auf meine Worte – Sie hatten ganz recht – ich bin ein alberner Patron!« redete er in abgerissenen Sätzen auf sie ein. »Ich hatte selbst keine Ahnung, was in meiner Musik steckte. Wären Sie nicht dagewesen, ich hätte alles verdorben. Sie sind eine große Künstlerin – aus jeder Taste, die Sie berühren, locken Sie den wundervollsten Ton hervor – Sie bringen alles heraus, was jeder Satz sagen will, oft noch mehr. Sie sind ein wahrer Engel! Ich möchte Sie lieber Tonleitern als mich Sonaten spielen hören. Und –« er dämpfte seine Stimme und zog sie beiseite, »und ich verlasse mich auf Sie – Sie müssen meinem Werk beim Konzert zum Erfolg verhelfen. Manlius dirigiert das Orchester – Sie aber sollen Manlius dirigieren! Daß man ein Gentleman ist und ein guter Kontrapunktist – das allein genügt zum Dirigieren nicht! Verstehen Sie, was ich meine?«

»Jawohl, Monsieur – ich verstehe, ich verstehe vollkommen. Ich werde mir die größte Mühe geben. Ich werde mit Begeisterung dabei sein. Es ist einfach großartig!«

Ein ältlicher Herr trat auf Jack zu. »Gestatten Sie mir, Ihnen meinen Glückwunsch auszusprechen. Ihr Werk hat auf meine Kollegen und mich einen tiefen Eindruck gemacht. Ich darf Ihnen auch in ihrem Namen versichern, daß über die ungewöhnliche Eigenart Ihrer Kraft kein Zweifel mehr bestehen kann – wenn auch über die weise Mäßigung, mit der Sie über diese Ihre Kraft verfügt haben, unter uns noch einige Meinungsverschiedenheit vorherrschen mag. Wir freuen uns außerordentlich, ein Werk, das von soviel Originalität und Talent spricht wie das Ihre, zur Aufführung ausgewählt zu haben.«

»Vor zehn Jahren hätte ich Sie gern so sprechen gehört,« entgegnete Jack und sah ihm dabei voll in die Augen. »Die Zeit der Komplimente ist vorbei – es sei denn, Sie wollten mich deshalb beglückwünschen, weil mein Werk eine Zuhörerschaft gefunden hat. Bisher sind mir gerade mein Talent und meine Originalität am hinderlichsten gewesen.«

»Haben Sie es vielleicht nicht etwas gar zu eilig?« erwiderte der Herr, ein wenig außer Fassung gebracht. »Der Erfolg kommt in London erst spät. Und Sie sind – wenn ich so sagen darf – noch ein verhältnismäßig junger Mann.«

»Ich bin nicht alt genug, um mir besonders viel daraus zu machen, daß ich noch verhältnismäßig jung scheine. Ich zähle vierunddreißig Jahre – und wenn ich mir einen andern Lebensberuf als den des Komponisten ausgesucht hätte, so könnte ich mir jetzt schon mein anständiges Auskommen verdienen. Wenn ich die Wahrheit sagen soll – mit meinen Kompositionen habe ich noch keinen Heller verdient. Ich mache denen, die zwischen mir und der Öffentlichkeit standen, keinen Vorwurf. Ihre Unwissenheit ist ihr Unglück – nicht ihre Schuld. Jetzt aber, wo ich trotz all den Knüppeln, die sie mir zwischen die Beine geworfen haben, durch einen Zufall doch das Licht des Tages erblicke – jetzt habe ich keine Lust, mich mit ihnen auf schönklingende Redensarten einzulassen. Verstehen Sie mich recht, mein Herr – ich will Ihnen persönlich gegenüber nicht abstoßend erscheinen. Was aber Ihre Herren Kollegen betrifft, so sagen Sie ihnen, bitte, es mache keinen sonderlich guten Eindruck, wenn sie das, zu dessen Anerkennung ich sie nach langen harten Jahren soeben erst gezwungen habe, jetzt mit spontanem Beifall begrüßen. Sehen Sie sich doch Ihre Freunde dort an, wie sie kopfschüttelnd meine Partitur betrachten. Sie haben meine Musik wohl gehört, aber, ehe sie sie nicht schwarz auf weiß sehen, wissen sie nicht, was sie dazu sagen sollen. Oder wollen Sie mir vielleicht die Meinung beibringen, man fände meine Musik schön?«

»Ich bin der Überzeugung, daß meinen Freunden wohl nichts anderes übrig bleibt.«

»Jetzt suchen sie einander klarzumachen, warum ich die Musik nicht hätte schreiben sollen – sie suchen meine fortschreitenden falschen Quinten und Septimen und meine Dissonanzen heraus – sie suchen nach meinem ersten Thema, nach meinem zweiten Thema, nach der Ausarbeitung und nach all den sonstigen Kindereien, die man einem Pudel beibringen könnte. Ist es vielleicht nicht so?«

Der Herr schien nicht recht zu wissen, wie er das Gespräch weiter führen sollte. »Mit dem Orchester sind Sie hoffentlich zufrieden?« fragte er nach einer Weile.

»Nein – das bin ich nicht!« entgegnete Jack. »Die Musiker sind mir zu überbildet. Sie haben gerade so viel Angst, ihre Individualität zu zeigen, als ob sie gewöhnliche Salonherren wären. Ein Musikinstrument kann man nicht mit Glacéhandschuhen handhaben. Übrigens waren die Herren noch weit besser als ich erwartete. Sie haben wenigstens ein gewisses künstlerisches Gefühl. Die junge Person aber ist ein Genie.«

»Oh ja. Mehr oder weniger ein Genie. Sie ist eben jung. Immerhin aber besitzt sie nicht die – wie soll ich nur sagen – die gigantische Kraft und Energie wie andere Klavierspieler, wie zum Beispiel – –«

»Ach Unsinn!« unterbrach Jack. »Jedermann – ich oder irgendein anderer – kann vom Schwung einer Chopinschen Polonaise mitgerissen werden und sie auf dem Klavier herunterhämmern, daß die Wände wackeln. Sie aber! Man redet davon, daß man ein Klavier zum Singen bringt – dazu ist ein Kind imstande, das selbst ein bißchen singen kann. Sie aber bringt das Instrument zum Sprechen. Sie besitzt die Gabe der Beredsamkeit – die erste und letzte Gabe großer Klavierspieler, wie aller großen Menschen. Das Finale der Fantasie ist für sie zu ungefügig – es tut ihrem Naturell Gewalt an. Der Teil ist für einen unbändigen Patron komponiert – für einen Kerl wie mich.«

»Ohne Zweifel – ohne Zweifel! Sie ist eine ganz hervorragende Pianistin. Ich hatte mit meiner Äußerung niemals behaupten wollen – –«

Manlius klopfte aufs Pult. Jack verabschiedete sich mit einem wenig förmlichen Kopfnicken von dem Herrn und stieg von der Empore herab. Als er die Tür durchschritt, die in den Zuhörerraum führte, vernahm er die Stimme der ältlichen Dame.

»Man will dich hinters Licht führen, liebes Kind. Dieser Monsieur Jaques, mit dessen Komposition du hier dein Debüt machen sollst – ist der ein berühmter Mann in England? Ganz und gar nicht! Du lieber Gott – ein vollkommen unbekannter Mensch!«

»Beruhige dich nur, Mama. Er wird nicht lange unbekannt bleiben.«

Jack öffnete die Tür ein wenig, steckte den Kopf durch den Spalt und lächelte der Pianistin freundlich zu. Die Alte sah sie zusammenzucken, wandte sich um und gewahrte ihn, wie er in allernächster Nähe stand und Fratzen schnitt.

»Herr Jeses!« rief sie auf deutsch, und wich einen Schritt zurück. Er kicherte und entzog sich rasch ihren Blicken, als die ersten Noten der Ouvertüre zu Coriolan vom Orchester herübertönten.

Inzwischen hatte der alte Herr sich wieder seinen Freunden auf den Parkettsitzen zugesellt.

»Nun, wie steht's?« meinte einer. »Ist Ihr Mann sehr von sich entzückt?«

»Das könnte ich gerade nicht behaupten – oder vielleicht ist er's zu sehr. Er macht mir eigentlich einen sehr griesgrämigen Eindruck – möglich, daß er durch seine frühere bedrängte Lage verbittert worden ist. In der Unterhaltung ist er sicherlich ein sehr unliebenswürdiger Mensch.«

»Was können Sie denn auch besseres erwarten,« meinte ein anderer mit abweisender Kühle. »Ein Mensch, der die Musik zum Sprachrohr seiner eigenen vergritzten Gemütsverfassung erniedrigt und durch die Methode seiner Interpretation mißachtende Unkenntnis aller jener Gesetze an den Tag legt, mit denen die großen Komponisten Ordnung ins Chaos der Töne gebracht haben – ein solcher Mensch wird wohl auch im gewöhnlichen Leben kaum höfliche Umgangsformen oder verfeinertes Wesen zur Schau tragen.«

»Ich will Ihnen mal etwas sagen, Herr Professor,« unterbrach ein dritter, der die Partitur aufgeschlagen auf den Knieen liegen hatte. »Dieser Kerl hat schon eine ganze Menge los. Er spielt zwar mit der sonatischen Form Schindluder. Aber er tut es bewußt – daran ist einmal nicht zu rütteln!«

Der mit dem Titel Professor angeredete Herr blickte ernst und ungläubig auf. »Wenn Beethoven gespielt wird, kann ich solche Sachen nicht anhören. Ich habe gegen Herrn Jack und seinesgleichen offiziell protestiert. Mein Protest ist ungehört ad acta gelegt worden. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Die ›Antient Orpheus Society‹ wird mir noch einmal recht geben, weil ich geraten habe, dem Satan und allen seinen bösen Werken zu widerstehen.« Damit entfernte er sich, nahm auf einem andern Sitz Platz und wandte seine Aufmerksamkeit ostentativ dem Coriolan zu.

Bald darauf ließ die Pianistin sich an seiner Seite nieder. Die übrigen Herren gruppierten sich sogleich in ihrer Nähe. Sie aber redete sie nicht an und zeigte in ihrer Haltung, daß sie nicht angeredet zu werden wünsche. Ihre Mutter, die für den Coriolan nichts übrig hatte und sich nach Hause sehnte, häkelte weiter und warf ihr von Zeit zu Zeit einen flehentlichen Blick zu, da sie ihrer Ungeduld vor so zahlreichen Mitgliedern der Gesellschaft nicht offenkundig Ausdruck zu verleihen wagte.

Schließlich verließ Manlius das Podium; die ganze Gesellschaft erhob sich und ging in das für die Mitwirkenden bestimmte Zimmer.

»Wie finden Sie unser Orchester?« fragte Manlius, als sie ihren Muff zur Hand nahm.

»Glänzend!« entgegnete sie. »So ruhig, so fein, so vornehm – ganz wie der englische Gentleman.«

Manlius grinste schmunzelnd. Im selben Augenblick erschien Jack mit seinem Hut – einem fürchterlich mißhandelten Hut auf dem Kopfe.

»Ein litauisches oder ungarisches Orchester könnte nicht so spielen – was meinen Sie?« warf er ein.

»Nein – gewiß nicht,« erwiderte die junge Polin mit einem unmerklichen Achselzucken. »Das ist ganz ausgeschlossen.«

»Sehr schmeichelhaft für uns,« meinte Manlius sich verneigend. Jack begann zu lachen. Die Polin aber verabschiedete sich rasch und trat dann auf die Straße hinaus, woselbst ihr alsbald eine Droschke besorgt wurde. Die Mutter stieg unverzüglich ein. Die Pianistin stand im Begriff, ihr zu folgen, als sie plötzlich Jacks Stimme neben sich hörte.

»Darf ich Ihnen etwas Musik schicken?«

»Wenn Sie so liebenswürdig sein wollten, Monsieur.«

»Abgemacht! Wohin soll er fahren?«

»F–F–Fitz – –«

»Fitzroy Square!« brüllte Jack dem Kutscher zu.

Das Hansom fuhr davon. Er rannte, ohne den Straßenschmutz zu beachten, auf einen vorbeifahrenden Hammersmith-Omnibus zu. Da das Gefährt inwendig überfüllt war, so kletterte er aufs Verdeck und fuhr im strömenden Regen von hinnen.


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