Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebzehntes Kapitel

Als das Ereignis von Mrs. Hoskyns erstem Baby schon etwas von seiner Neuigkeit eingebüßt hatte, widerstand sie erfolgreich der Versuchung, es als eine tyrannische kleine Plage der Dienerschaft zu überlassen. Aber ihr unauslöschliches Kunstinteresse, das nicht länger durch die Wiege vollständig verdrängt wurde, nahm wieder Besitz von ihrer Seele. Dieses Interesse nahm wie gewöhnlich die Form einer Neugierde an, was wohl Adrian Herbert machte. Jetzt, da ihre häuslichen Neigungen durch Hoskyn befriedigt und bestimmt wurden, da das vollständige Aufgehen von Herberts Neigungen in seiner Frau über jeden Verdacht erhaben war, fühlte sie sich unbesorgter und ernsthafter in ihrer Freundschaft mit ihm als jemals zuvor. Die Ehe hatte ihre Befähigung zur Freundschaft bedeutend vertieft.

Eines Morgens blickte Hoskyn von seiner Zeitung auf und sagte: »Hast du die Times angesehn? Da steht etwas über Herbert drin, das ihm nicht lieb sein wird.«

»Ich hoffe nicht. Die Times sprach doch immer gut von ihm.«

Hoskyn händigte ihr ohne ein Wort das Blatt hin, das er gerade las, und nahm ein anderes.

»Oh, John,« sagte Mary und legte das Blatt mißvergnügt hin, »was sollen wir tun?«

»Tun! Wofür?«

»Für Adrian.«

»Ich weiß es nicht,« sagte Hoskyn versöhnlich. »Warum sollen wir etwas tun?«

»Ich vor allem würde sehr traurig sein, wenn er seine Position verlöre nach all seinem harten Ringen.«

»Er wird sie nicht verlieren. Wer gibt was auf die Times?«

»Aber ich fürchte sehr, die Times hat recht.«

»Wenn du so denkst, dann ist es was andres. In diesem Fall sollte Herbert wirklich etwas härter arbeiten.«

»Ja, aber er hat doch immer so angestrengt gearbeitet.«

»Ja, dann muß er aushalten, weißt du.«

Mary versank in Nachdenken und Hoskyn las weiter.

»Adrian hätte sich niemals verheiraten sollen,« sagte sie nach einer Weile.

»Warum nicht, meine Liebe?«

»Deshalb nicht,« antwortete sie, indem sie auf die Zeitung zeigte.

»Sie finden doch keinen Fehler an ihm, weil er ein verheirateter Mann ist.«

»Sie finden einen Fehler an dem, was seine Ehe aus ihm gemacht hat. Seine Gedanken und Sorgen sind nur bei seinem Weib.«

»Das brauchte ihn doch nicht vom Arbeiten abzuhalten,« sagte Hoskyn. »Ich bring es fertig, ein tüchtiges Stück Arbeit zu leisten,« fügte er mit einem Liebesblick hinzu, »ohne daß ich deshalb etwas weniger an meine Frau dächte.«

»Deine Frau rennt nicht fort von dir bis an das andere Ende von Europa auf einen plötzlichen Einfall hin, John. Sie lacht nicht über deinen Beruf und behandelt dich nicht wie einen kleinen Jungen, der manchmal etwas lästig wird.«

»Trotzdem,« sagte Hoskyn nachdenklich, »hat sie eine Art von bezauberndem Wesen an sich.«

»Unsinn,« sagte Mary, die annahm, daß ihr Gatte ihr ein Kompliment machen wollte, obgleich er in Wirklichkeit an Aurélie gedacht hatte. »Es ist mir bitter ernst in dieser Sache. Wie bedauerlich ist es, wenn man sieht, wie ein Mann wie Adrian der Sklave einer Frau wird, die sich andauernd nichts aus ihm macht – oder vielleicht sollte ich das nicht sagen. Aber sie macht sich bestimmt nicht so viel aus ihm, als er es um sie verdiente. Ich fange an zu glauben, sie macht sich nur aus Geld etwas.«

»Oh, geh!« entgegnete Hoskyn. »Du bist zu hart gegen sie, Mary. Sie scheint sich ja wirklich nicht so viel um ihn zu bekümmern, aber dann denke ich, er ist doch so ein Mann – halb Milch und halb Wasser. Ich weiß, er ist ein ganz guter Junge, aber es fehlt ihm doch etwas – nicht gerade das Rückgrat – aber doch so irgend etwas.«

»Er hat einen großen Mangel an Eigennutz und Gleichgültigkeit, und ich hoffe, daß das immer so bleiben wird, obgleich ein wenig von diesen beiden Eigenschaften ihm helfen würde, seine Frau zur Vernunft zu bringen. Dazu ist Adrian zu weich.«

»Ich denke auch. Für meinen Teil,« sagte Hoskyn, indem er seinen Bart strich und seine Frau ansah, als ob er eine gewagte Bemerkung machen wollte, »ich wundere mich, wie überhaupt eine Frau sich mit ihm abgeben kann! Ich mag voreingenommen sein, aber es ist meine Meinung.«

»Oh, das ist töricht,« sagte Mary. »Sie kann sich sehr glücklich schätzen, einen so guten Mann zu haben. Er ist viel zu gut zu ihr, darin liegt auch die Hauptschwierigkeit. Ihretwegen vernachlässigt er sich. Glaubst du, ich müßte einmal ernsthaft mit ihm über die Sache sprechen.«

»Hm!« murmelte Hoskyn bedenklich. »Es ist im allgemeinen nicht klug, sich in andrer Leute Sachen zu mischen, besonders in Familienangelegenheiten. Gewöhnlich erntet man wenig Dank dafür.«

»Ich weiß das. Aber ist es recht, sich fern zu halten, wenn man etwas Gutes tun kann, indem man sich an Bedenken solcher Art nicht stößt? Es ist immer am sichersten, nichts zu tun. Aber ich zweifle, ob es hochherzig ist.«

»Nun wohl, du kannst es halten, wie du willst. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich mich nicht hineinmischen.«

»Du hast dich auf die Idee verrannt, ich würde die Dummheit begehen und mit Adrian über seine Frau reden. Ich möchte ihm nur eine kleine Vorhaltung geben, wie ich es schon zwanzigmal früher getan habe. Ich bin in einer Art seine Studiengenossin. Denkst du nicht, ich könnte es wagen? Ich seh nicht ein, wie ich ihm Leid zufüge, wenn ich mit ihm darüber spreche, was die Times sagt.«

Hoskyn zog die Lippen zusammen und schüttelte seinen Kopf. Mary, die beschlossen hatte, Adrian zu ermuntern, und gern wollte, daß sie dazu aufgefordert würde, fügte mit etwas Ärger hinzu: »Natürlich werde ich nicht hingehen, wenn du nicht willst, daß ich es tue.«

»Ich! Oh mein Gott, nein, meine Teure, ich möchte dir nicht entgegen sein. Geh unter allen Umständen, wenn es dir lieb ist.«

»Selbstverständlich, John. Ich denke, es ist das beste.« Als sie dies sagte, als ob sie aus Rücksicht auf seine Wünsche gehen wollte, schien er einen Augenblick geneigt, zu widersprechen. Aber er überlegte es sich und vertiefte sich in die Zeitung, bis es für ihn Zeit wurde, in die City zu gehen.

Nach dem Frühstück an diesem Tage zog Mary ihren breiten Hut an und den Mantel – ihre Würde als Hausfrau hatte sie noch nicht mit Bonnets befreundet – und ging nach South Kensington, wo Herbert noch immer sein Atelier hatte. Die Avenue, Fulham Road, gleicht einem Spalierweg, der eher zu den Toren der Hintergärten der benachbarten Häuser zu führen scheint, als in den Hof eines Künstlers. Wenn nicht gerade ein Gipskoloß, der sich aus dem Atelier eines Künstlers herausdrängt, unverhältnismäßig groß am Ende einer kurzen Perspektive erscheint, würde niemand auch nur im Traume erwarten, hier Statuen oder Gemälde aufzufinden. Ohne auf ein gigantisches Tonpferd einen Blick zu werfen, das sich im Sonnenschein aufbäumte, die Nüstern zu einem Schnauben ausgemeißelt, wie sie Mary von den Elginstatuen und von den Springern unter ihren Schachfiguren bekannt war, trat sie zur Rechten in eine Tür, die auf einen langen Korridor führte, an dessen beiden Seiten Ateliers lagen. In einem von diesen fand sie Adrian, die Palette hingelegt und die leere Leinwand auf der Staffelei, aber mit der Times, die alle seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, in der Hand, wie er unbequem auf den Sprossen eines zerbrochenen Stuhles saß.

»Mrs. Hoskyn!« rief er aus, indem er sich schnell erhob.

»Ja, Adrian. Mrs. Hoskyns Komplimente; und sie ist erstaunt, zu sehen, wie Mr. Herbert die Zeitungen liest, die er einstmals verachtete, und wie er die Kunst vernachlässigt, in der er einstmals triumphierte.«

»Ich habe begonnen, beides zu tun, seitdem ich ein verheirateter Mann geworden,« antwortete er mit einem Seufzer. »Willst du auf den Thron steigen? Es ist der einzige Sitz hier, auf den man sich verlassen kann, daß er nicht zusammenbricht.«

»Danke, hast du seit deinem Frühstück immerzu die Times gelesen?«

»Hast du es gefunden, Mary?«

»Ja.«

Herbert lachte und sah dann ängstlich nach ihr hin.

»Es ist ganz recht, darüber zu lachen,« sagte sie, – »und, wie du weißt, verachtet niemand die Zeitungskritiken so gründlich wie ich, besonders wenn sie vorurteilsvoll oder oberflächlich sind.«

»Aber hier stimmst du doch wohl mit der Times überein.«

Mary setzte schnell ihren Kneifer auf und sah ihn fest an, was sie, wie er wußte, immer tat, wenn sie sagen wollte: »Ja!« Als sie so gesagt hatte, lächelte er geduldig.

»Adrian,« fuhr sie mit etwas Mitleid fort, »glaubst du nicht selbst, daß es richtig ist? Wenn nicht, dann werde ich gerne zugestehen, daß ich mich irre.«

»Es mag etwas richtiges darin sein – ich bin kaum ein unparteiischer Richter in dieser Sache. Es ist auch nicht leicht, meine Ansichten darüber zu entwickeln. Zunächst einmal tut es mir leid, daß ich Unsinn redete, wenn ich dir immer von der Notwendigkeit predigte, sich vollständig und ernsthaft dem Studium der Kunst zu widmen, um wirklich Hervorragendes zu erreichen – oder wenn ich wenigstens ausschließlich Praxis forderte, die eine Vorbedingung für Erfolg ist sowohl bei Kesselflickern und Schneidern als auch bei Malern, als ein großes Hauptprinzip speziell in der Kunst. Ich habe entdeckt, daß das Leben höher steht als irgendeine besondere Kunstfertigkeit. Die Schwierigkeit schien mir einst darin zu liegen, mich selbst zu einem universalen Verständnis der Kunst zu entwickeln, jetzt sehe ich ein, daß sie darin liegt, mich innerhalb der Grenzen meines Berufes zu konzentrieren. Und ich bin nicht einmal sicher, daß das ganz wünschenswert ist.«

»Nun natürlich, wenn du deine Überzeugung verloren hast, daß es der Mühe wert ist, ein Künstler zu sein, dann weiß ich überhaupt nicht, was ich dir noch sagen soll. Einst glaubtest du, sie sei jedes Opfers wert.«

»Ja, als ich ein Knabe war und nichts zu opfern hatte. Aber ich sage auch nicht, daß es nicht der Mühe wert ist, ein Künstler zu sein. Ich habe meinen Beruf nicht aufgegeben.«

»Aber du hast die Gunst der Times verscherzt.«

»Gewiß. Die Times sieht jetzt Fehler in meinen Arbeiten, die ich nicht sehen kann, gerade so wie sie früher Fehler in meinen Jugendarbeiten nicht sah, die mir jetzt völlig klar sind. Sie sagt ganz richtig, daß ich mir nicht mehr so unendliche Mühe gebe. Ich tue noch immer mein Bestes; aber ich gebe zu, daß ich weniger an meinen Gemälden arbeite, als ich es sonst tat, weil ich früher danach strebte, meine Mängel durch Arbeiten zu ersetzen, während ich jetzt begreife, daß einfaches Arbeiten künstlerische Mängel nie ersetzen kann, mit Ausnahme des Mangels an Arbeitsfreude selbst, was nicht immer ein Mangel, sondern oft das Gegenteil davon ist. Fleiß ist im besten Falle ein Um-Gnade-Bitten vor sich selber und vor den Kritikern. ›Sir Lancelot‹ ist ein schlechtes Gemälde, wenn du gestattest; aber glaubst du, irgendein Aufwand von Geduld würde es in ein gutes verwandelt haben? Meine teure Mary – ich bitte Mr. Hoskyn um Verzeihung –«

»Bitte lieber Mrs. Herbert um Verzeihung. Weiter.«

»Mrs. Herbert ist ein sehr gutes Beispiel meiner nächsten Ketzerei, die besagt, daß Ernsthaftigkeit der Absicht und Vertrauen auf die höhere Mission der Kunst unfähig sind, meiner künstlerischen Fähigkeit auch nur einen Zoll hinzuzufügen. Sie bringen eher einen geistigen Druck hervor, der jeder Freiheit der Konzeption und Ausführung schädlich ist. Ich kann sie nicht dazu bringen, Ideen und Bilder zu entwickeln: sie scheinen mir mehr die Sache der Theologen und Staatsmänner zu sein. Dein Mann hat einmal meiner Mutter erzählt, daß Kunst eine Art seichtes Wasser ist, in das die schwächlichen Kerle gehen, um aus dem wilden Wogen in der Mitte des Stromes zu kommen. Er dachte an mich, glaube ich – oh, verteidige ihn nicht, Mary, ich stimme ganz mit ihm überein. Es ist ein seichtes Wasser, und Glaube und Ernsthaftigkeit haben da keinen Wert: eher ist es ungeschlachtes Können, das alles in die Höhe bringt. Du fragtest mich einst, ob ich wohl Titian sein möchte, und ein Bündel anderer großer Maler alle in einer Person. Heute würde ich nur zu glücklich sein, wenn ich nur so gut wie Titian allein wäre. Aber ich würde nicht fünf Jahre meines Lebens für den Vorzug bezahlen, es würde nicht soviel wert sein. Welche Ansicht hatte Titian von seiner Aufgabe im Leben? Einfach, daß er Bilder malen und sie verkaufen sollte. Er malte religiöse Bilder, wenn die Kirche ihn dafür bezahlte; er malte anstößige Bilder, wenn ausschweifende Edelleute ihn dafür bezahlten; und er malte Porträts für das wohlhabende Publikum im allgemeinen. Glaube mir, Mary, draußen, mitten im Strom des Lebens, mag es wegen des Aufruhrs und der Gemeinheit, von dem wir beschlossen haben, uns fern zu halten, viele verschiedene Arten von Menschen geben – ernsthafte Menschen, frivole Menschen, aufrichtige Menschen, zynische Menschen, poetische Menschen, schmutzige Menschen und so weiter; aber für das seichte Wasser gibt es nur zwei Sorten von Malern, geschickte und ungeschickte. Ich bin kein geschickter Maler; und das ist unbedingt richtig. Selbstkritik nach moralischen Prinzipien und das Studium der Seichtwasserbibliothek würden weder meine Augen noch meine Finger besser machen. Ich sagte, daß Aurélie ein passendes Beispiel sei. Selbst die Times leugnet nicht, daß sie eine perfekte Künstlerin ist. Aber wenn du von ihr sprächest als einer Lehrerin im moralischen Sinne mit einer Fähigkeit und einer großen Aufgabe, würde sie dich nicht verstehen, obgleich sie einige verwirrte Vorstellungen hat, daß ihr Klavieranschlag eine sittliche Fähigkeit sei. Sie hält deinen Mann für einen äußerst selbständigen und tiefen Denker, weil er ihr zufällig einmal gesagt hat, musikalische Menschen seien im allgemeinen tüchtig. Als ich es unterließ, von ihrem Bericht hierüber gebührend überwältigt zu sein, dachte sie, glaube ich, ich sei auf ihn eifersüchtig, weil ich nicht selbst auf die Beobachtung verfallen war.«

»Vielleicht würde sie noch besser spielen, wenn sie auf sich selbst schaute als auf die Trägerin einer großen Gabe und einer großen Verantwortlichkeit.«

»Habe ich die Lady of Shalott besser gemalt, weil ich die Farben mit meinem Blut gemischt haben würde, falls das Gemälde dadurch hätte gewinnen können? Nein. Ich könnte es jetzt zweimal so gut malen, obgleich ich nicht halb so viel Gedanken daran verwenden würde. Aber laß Aurélie aus dem Gespräch, wenn du sie nicht bewunderst. Nimm –«

»Oh, Adrian, ich gab – –«

»– den Fall von Jack. Du wirst zugeben, daß er ein Genie ist: er hat die unerschöpfliche Flut von Mißtönen, die heutzutage aus einem Komponisten ein Genie machen. Ich nehme Auréliens Wort und deins, daß er ein großer Musiker ist, entgegen der Evidenz meiner Ohren. Wenn man ihn einfach als Gesellschaftsmenschen betrachtet, so ist er der roheste Wilde in London. Denkt er jemals von sich, er hätte eine Mission oder eine Aufgabe oder Verantwortung?«

»Ich bin sicher, daß er es tut. Betrachte, wieviel er früher durchgemacht hat, weil er nichts schreiben wollte für den Standpunkt des Durchschnittsgeschmacks.«

»Verlasse dich darauf, er hatte keine Gelegenheit, oder er konnte es nicht. Mozart, glaube ich, schrieb Balletts und Messen im italienischen Stil. Wenn Jack Mozarts Vielseitigkeit besäße, würde er unter ähnlichen Umständen genau so handeln, wie es Mozart getan hat. Ich mache mir kein Verdienst daraus, weil ich niemals dazu herabgestiegen, für illustrierte Zeitungen zu schaffen, denn wenn mich jemand dazu aufgefordert hätte, würde ich es sicher versucht und offenbar dabei gefehlt haben.«

»Adrian,« sagte Mary, indem sie von dem Thron herabstieg und sich ihm näherte, »weißt du, daß es mir großen Schmerz verursacht, wenn ich dich in der Art reden höre. Wenn es noch ein Laster gab, von dem ich sicher war, daß es dich niemals verderben könnte, so war es das Laster des Zynismus.«

»Du wirfst mir Zynismus vor!« sagte er mit einem Lächeln, indem er sich offenbar über eine Inkonsequenz bei ihr freute.

»Warum nicht?«

»Es gibt natürlich keinen Grund, warum du es nicht solltest – ausgenommen, weil du selbst zu wahrhaft ähnlichen Schlüssen gekommen bist.«

»Du hast dich niemals mehr geirrt, Adrian. Mein Glaube an die erhebende Gewalt der Kunst und an die hehre Mission des Künstlers ist so fest als er vor Jahren war, als du ihn zuerst mir einflößtest.«

»An diesem Glauben hast du niemals geschwankt?«

»Niemals.«

»Auch nicht für einen Augenblick?«

»Auch nicht für einen Augenblick.«

Ein leichtes Achselzucken war seine einzige Zustimmung. Er nahm seine Palette auf und beschäftigte sich damit, mit einem seltsamen Ausdruck an den Mundwinkeln.

»Was willst du sagen, Adrian?«

»Nichts. Nichts.«

»Du pflegtest offner zu sein als jetzt.«

»Ich pflegte manches zu sein, was ich jetzt nicht mehr bin.«

»Du gibst zu, daß du dich verändert hast.«

»Gewiß.«

»Dann ist die Veränderung in mir, auf die du anspieltest, nur eine Veränderung in deiner Art, mich zu betrachten.«

»Vielleicht.«

Es folgte eine Pause, in der er einige Flecke auf die Leinwand setzte und sie ihn in wachsendem Zweifel beobachtete.

»Du machst dir nichts daraus, meine Arbeiten zu sehen, da du hier bist!« sagte er kurz darauf.

»Adrian, erinnerst du dich des Tages an der untern Klippe zu Bonchurch, als ich dir ankündigte, ich sei in der Theorie von dem Ernst unserer Kunstanbetung abgefallen?«

»Ja. Warum fragst du danach?«

»Ich dachte damals wenig daran, wer von uns wohl zuerst in der Praxis abfallen würde. Wenn ein Prophet dich mir gezeigt hätte wie du jetzt bist, wie du die Erhabenheit des Plans geringschätzest und der harten Arbeit entsagst, ich würde keine Worte gefunden haben, die stark genug waren, um die Zurückweisung der Prophezeiung auszudrücken.«

»Ich kann nicht sagen, daß ich damals nicht vermutete, wer der erste sein würbe, der abfiele,« sagte Adrian ruhig, obgleich seine Gesichtsfarbe etwas dunkler wurde. »Aber ich würde so skeptisch gewesen sein wie du, wenn dein Prophet dich mir gezeigt hätte –« Er unterbrach sich selbst.

»Nun, Adrian?«

»Nein, ich bitte um Verzeihung. Ich wollte etwas sagen, zu dem ich kein Recht habe.«

»Was es auch sein mag, du denkst es, und ich habe ein Recht, es zu hören, damit ich mich verteidigen kann. Wie konnte der Prophet mich gezeigt haben, daß es dich so in Erstaunen versetzt?«

»Als Mrs. Hoskyn,« antwortete er, indem er sie einen Augenblick fest ansah und dann mit seiner Arbeit fortfuhr.

»Ich verstehe nicht,« sagte Mary ängstlich nach einer Pause.

»Ich sagte dir, daß da nichts zu verstehen sei,« sagte er erleichtert. »Ich meinte, daß es seltsam sei, in erster Linie, daß wir beide verheiratet sind und nicht miteinander – ich hoffe, es macht dir nichts, wenn ich darauf anspiele. Es ist noch seltsamer, daß ich mit Aurélie verheiratet bin, die nichts von der Malerei versteht. Aber es ist das seltsamste, daß du mit Mr. Hoskyn verheiratet bist, der überhaupt von gar keiner Kunst etwas versteht.«

Mary, die ihn jetzt ganz gut verstand, wurde sehr rot, und gab sich für einen Augenblick alle Mühe, eine Bemerkung zurückzuhalten, die über ihre Lippen kam. Er fuhr fort, aufmerksam zu malen. Dann sagte sie unwillig: »Nimmst du an, ich machte mir nichts aus meinem Mann, weil ich schaffen, arbeiten und mich selbst achten kann – weil ich nicht seine Sklavin bin in seiner Gegenwart und die Sklavin meines Denkens an ihn, wenn er abwesend ist?«

»Mary!« rief Herbert aus, indem er seine Palette hinlegte und ihr gegenübertrat mit einer Farbe so rot wie ihre eigene. Sie stand fest da, ohne mit einem Nerv zu zucken. Dann erholte er sich und sagte: »Ich bitte dich um Verzeihung. Es war sehr unrecht von mir, daß ich etwas über deine Ehe sagte. Hab ich dich gekränkt?«

»Du hast dir deine Meinung über mich entgleiten lassen, Adrian.«

»Und du die deine über mich, glaube ich, Mary.«

Hierauf folgte eine zweite gezwungene Pause, die sie beide aus der Fassung brachte. Diesmal gewann Mary zuerst ihre Selbstbeherrschung wieder. »Du hast mich gerade jetzt gekränkt,« sagte sie, »aber ich dachte, wir sollten uns nicht streiten. Ich hoffe das auch von dir.«

»Nein, gewiß nicht,« sagte er eifrig. »Ich hoffe, wir werden niemals eine solche Absicht haben, was auch zwischen uns geschehen mag.«

»Dann,« erwiderte sie, indem sie instinktiv auf seine Bewegtheit mit einer Regung eines Zugeständnisses antwortete, »laß mich dir ehrlich sagen, wie weit du mit dem, was du sagtest, recht hast. Ich heiratete, weil ich ebenso wie du entdeckte, daß die Welt größer ist als die Kunst, und daß es da unendlich viel Interessantes gibt für solche, welche nicht einmal wissen, was die Kunst will. Aber ich bin niemals verliebt gewesen in der Art der Erzählungsbücher, und ich hatte allen Glauben an die Realität dieser Art Liebe aufgegeben, als ich mein Schicksal mit dem Johns verband, obgleich ich ihn sehr gerne habe und durchaus nicht bereue, Mrs. Hoskyn zu sein.«

»Es ist seltsam, daß die Wege unseres Handelns sich so ähnlich sind und unsere Beweggründe so verschieden! Mein Bekenntnis ist so klarliegend, daß es kaum der Mühe wert ist, es auszusprechen. Ich verliebte mich in der Art der Erzählungsbücher, und das ist die wahre Erklärung dessen, was die Times in meiner Arbeit sieht. Ich will nicht sagen, daß ich nicht länger schaffen, denken oder mich selber achten kann – ich hoffe, so schlimm ist es nicht; aber das übrige stimmt. Ich bin ihr Sklave in ihrer Gegenwart und ein Sklave meiner Gedanken an sie in ihrer Abwesenheit. Vielleicht verachtest du mich deshalb.«

»Ich kann dich schwerlich verachten, weil du deine Frau liebst. Das würde sehr unvernünftig sein.«

»Es gibt viele Dinge, die nicht vernünftig und doch ganz natürlich sind. Öfters verachte ich mich selbst. Das kommt, wenn ich Auréliens Einfluß auf mein Schaffen dem deinigen gegenüberstelle. Bevor ich sie traf, arbeitete ich ausdauernd in diesem Atelier, dachte an dich, wenn jemals meine Arbeit mich niederdrückte, und verfehlte niemals, durch dich frischen Mut zu schöpfen. Ich weiß jetzt, besser als ich es damals tat, wieviel von meinem ersten Erfolg und von der entschlossenen Arbeit, die ihn gewann, ich dir verdanke. Der neue Einfluß ist ein ganz anderer – ein verwirrender. Wenn ich an Aurélie denke, dann hat mein Arbeiten ein Ende. Wo in der alten Zeit ich stets neugestärkt und konzentriert wurde, bin ich jetzt aufgeregt und zerstreut; ungeduldig wegen eines unbestimmten Morgens, das niemals kommt; fähig zu nichts außer zu Verwirrung und Begeisterung. Dann denke dir, wie hoch ich deine Freundschaft schätze – denn du mußt nicht denken, daß du deine alte Macht über mich verloren hast. Selbst heute, weil ich diese Gelegenheit hatte, mit dir zu reden, fühle ich mich viel mehr als mein altes künstlerisches Ich, wie ich es seit langer Zeit getan habe. Wir verstehen einander, ich könnte aber nicht dasselbe zu Aurélie sagen. Darum, Mary, willst du, wie töricht ich dich auch nach deiner Meinung verlassen habe – doch meine Freundin sein und mir helfen, den verlorenen Boden wieder zu gewinnen, wie du mir früher geholfen hast, ihn zu erobern?«

»Sehr gerne,« sagte Mary begeistert, indem sie ihre beiden Hände ihm entgegenstreckte. »Ich will dich beim Wort nehmen, daß ich fähig bin, dir zu helfen, obgleich ich weiß, daß du dir stets selbst geholfen hast, indem du mir halfst. Und jetzt sind wir wieder treue Freunde, nicht wahr?«

»Treue Freunde,« wiederholte er, indem er ihre Hände ergriff und ihren Blick mit herzlicher Bewunderung und Dankbarkeit erwiderte.

»Aha!« rief eine Stimme. Sie zogen schnell ihre Hände auseinander und wandten sich bleich und erschrocken nach dem Ankömmling. Aurélie, in leichtem Sommerkleid, kam lächelnd aus dem Flur auf sie zu.

»Ich fürchte, ich störe Sie,« sagte sie auf Englisch, das sie jetzt leicht und mühelos sprach, wenn auch mit einem leichten fremden Akzent. »Wie geht es Ihnen, Madame Hoskyn? Bin ich zu viel hier – ja?«

Mary, verwirrt durch die Plötzlichkeit ihres Hereintretens und noch mehr durch die unschuldige und liebkosende Art ihres Sprechens, murmelte einige Worte der Begrüßung.

»Das ist eine ganz ungewöhnliche Ehre, Aurélie,« sagte Herbert und versuchte zu lachen.

»Ja, ich wußte bis vor kurzem selbst noch nicht. Ich geriet in den falschen Zug und kam nach South Kensington anstatt nach Addison Road. So sagte ich mir, ›ich will Adrian überraschen‹. Und so kam es.«

»Sie kommen in einem interessanten Augenblick,« sagte Mary, die jetzt zum Teil ihre Selbstbeherrschung und all ihren Mut wiedergefunden hatte. »Mr. Herbert und ich haben einen ernsthaften Streit miteinander gehabt, und wir waren gerade dabei, ihn nach englischer Art zu beenden.«

»Oh, das ist nicht eine englische Art. Überall zanken sich die Leute so. Und Sie sind jetzt bessere Freunde als jemals. Nicht wahr?«

»Ich hoffe es,« sagte Mary.

»Ich wußte es,« sagte Aurélie, indem sie mit den Fingern winkte. »Die menschliche Natur ist überall die gleiche in der ganzen Welt. Oh ja. Was für ein unordentliches Atelier ist das! Wie kannst du erwarten, daß große Damen hierherkommen, um dir zu ihren Porträts zu sitzen?«

»Ich wünsche nicht, daß sie kämen, Aurélie.«

»Aber gerade durch ihre Porträts verdienen die englischen Maler große Summen Geld. Warum kurieren Sie ihn nicht von diesen seltsamen Ideen, Madame? Sie haben so viel Verständnis, und er schätzt Sie so hoch. Er verspottet mich, wenn ich über Malerei spreche, trotzdem bin ich sicher, daß ich recht habe.«

Mary lächelte unbehaglich und wußte nicht bestimmt, was sie antworten sollte. Aurélie ging in dem Atelier umher, nahm Skizzen auf und setzte sie nieder, ohne sie anzusehen. Sie blickte verstohlen in die Ecken und benahm sich wie ein neugieriges Kind. Zuletzt rief ihr Mann, der sah, daß sie dabei war, ein Stück Draperie in Unordnung zu bringen, ihr zu, sich in acht zu nehmen.

»Was ist jetzt los?« sagte sie. »Steckt da jemand hinter? Ciel! Es ist eine große Puppe.«

»Bitte, berühre es nicht,« sagte er. »Ich zeichne danach. Wenn nur eine einzige Falte geändert wird, ist all meine Arbeit verloren.«

»Ja, aber das ist nicht recht. Du solltest nicht Gegenstände auf deinen Bildern abmalen. Du solltest sie alle aus dem Kopf malen.« Sie ging hinüber zur Staffelei. »Ist das das große Werk für nächstes Jahr? Warum hat dieser Mann eine Haube auf?«

»Es ist keine Haube, es ist ein Helm.«

»Ah, dann ist es also ein Feuerwehrmann. Tiens! Du hast ihn mit langen Lockenhaaren gezeichnet! Da – ich weiß – er ist ein Ritter von der Tafelrunde, all deine Ritter sind dasselbe. Wozu braucht man solche Barbaren? Ich ziehe die Nibelungen vor und Wotan und Thor – in Wagners Musik. Sein Arm ist ein großes Stück zu lang, und der Kopf des kleinen Knaben ist nicht halbwegs groß genug im Verhältnis zu seiner Größe. Das arme Kind ist wie ein Mann in Miniatur. Madame Hoskyn, wollen Sie mir eine hohe Ehre erweisen – das heißt, wenn Sie nicht verhindert sind?«

»Ich habe heute zum Glück keine Verabredungen,« sagte Mary. »Sie können über mich verfügen.«

»Dann kommen Sie mit uns nach Hause und bleiben Sie zum Essen. Oh, Sie dürfen es mir nicht abschlagen. Wir wollen Mr. Hoskyn ein Telegramm senden, daß er auch kommt. En famille, verstehen Sie. Adrian wird Sie unterhalten, ich werde für Sie spielen, und meine Mutter soll Ihnen das Bambino zeigen. Es ist ein drolliges Kind, Sie sollen es selbst beurteilen.«

»Sie sind sehr gütig,« sagte Mary schwankend. »Mr. Hoskyn erwartet mich zum Essen bei ihm zu Hause; aber –.« Sie blickte fragend Adrian an.

»Wie Aurélie es sagt, wir können Mr. Hoskyn telegraphisch bitten. Ich hoffe, du wirst kommen, Mary.«

Mary errötete, als er sie mit dem Vornamen anredete, obgleich sie daran gewöhnt war. »Danke sehr,« sagte sie. »Ich werde mit Vergnügen kommen.«

»Ah, das ist sehr schön,« sagte Aurélie, offenbar entzückt. »Nun komm,« fügte sie auf Französisch zu Adrian hinzu. »Wirf diese sottises weg und laß uns gleich gehen.«

»Hörst du es!« bemerkte er zu Mary. »Sie nennt meine Staffelei und meine Pinsel sottises.« Trotzdem legte er sie nachgiebig fort, während Aurélie übermütig mit Mary plauderte. Als er fertig war, gingen sie zusammen hinaus an dem weißen Roß vorbei, dessen Schatten sich zu einiger Länge ostwärts erstreckte, und gelangten auf den Fulham Road, wo sie stehen blieben, um zu überlegen, ob sie gehen oder fahren sollten. Während sie da standen, näherte sich ihnen ein junger Mann mit ernsthaftem Gesichtsausdruck, langem und schönlockigem Haar und einer Samtjacke. Er las beim Gehen in einem Buch, ohne die Personen zu beachten, an denen er vorüberkam.

»Wie, das ist Charlie,« rief Mary aus. Der junge Mann sah auf und blieb sofort stehen, indem er das Buch zuschlug und einen hohen Grad von Verwirrung zeigte. Dann, zum Erstaunen seiner Schwester, zog er seinen Hut und versuchte, vorbei zu kommen.

»Charlie,« sagte sie, »willst du uns schneiden?« Er blieb jetzt von neuem stehen und schaute sie alle verwirrt an.

»Wie geht es Ihnen?« sagte Adrian, indem er ihm die Hand reichte, die begierig angenommen wurde. Charlie versuchte nun, nach Aurélie zu blicken, und wurde dabei noch roter. Sie wartete in vollkommener Ruhe und augenscheinlich ohne jedes Interesse für den Ausgang der Begegnung.

»Ich dachte, du kanntest Mrs. Herbert,« sagte Mary erstaunt. »Mein Bruder, Mrs. Herbert,« fügte sie hinzu, indem sie sich zu Aurélie wandte.

Charlie zog feierlich seinen Hut und empfing als Antwort einen Gruß, der eher ein Senken der Augenlider als eine Verneigung war.

Herbert, der einsah, daß ein unangenehmes Schweigen offenbar folgen wollte, fiel gutgelaunt ein. »Was sind denn Ihre neuesten Pläne?« sagte er. »Falls Sie noch Ingenieur sind, ist Ihr Äußeres wenig berufsmäßig. Dem Augenschein nach zu urteilen, müßte ich sagen, ich sei der Ingenieur und Sie seien der Künstler.«

»Oh, ich habe die technischen Studien aufgegeben,« sagte Charlie. »Es ist nur ein Geschäft. Tatsache ist, ich komme wieder zu Ihrer Ansicht zurück, daß nichts der Kunst gleicht. Ich habe mich jetzt der Literatur zugewandt.«

»Der Poesie, vermute ich,« sagte Herbert, indem er das Buch unter seinem Arm wegzog und nach dem Titel sah.

»Ich wünschte, ich hätte den kleinsten Fetzen von Genie, um aus mir einen Dichter zu machen. Auf jeden Fall muß ich dies Vagabundenleben aufgeben, das ich geführt habe, und mich an eine ernsthafte Arbeit machen. Ich mag vielleicht niemals imstande sein, ein anständiges Buch zu schreiben, aber schließlich kann ich beim Studium von Kunst, Literatur und dergleichen bleiben.«

»Bei der Literatur bleiben!« wiederholte Mary. »Oh, Charlie! Wie viele Romane und Trauerspiele hast du angefangen, seit wir nach Beulah gezogen sind? Und nicht eins von allen kam bis zum zweiten Kapitel.«

»Ich zeigte meinen guten Geschmack, indem ich nicht eins von ihnen beendigte. Was ist aus den Bildern geworden, an denen du immer so angestrengt gearbeitet hast, und aus den großen Kompositionen, die aus deinen Studien mit Jack entstehen sollten?«

»Ich denke,« sagte Herbert scherzend, »wenn wir hier warten, bis Sie und Mary über das Thema Ihrer Ausdauer einig sind, wird unser Essen kalt sein. Mrs. Hoskyn will heute abend bei uns essen, Charlie. Ich denke, Sie kommen mit.«

»Danke sehr,« sagte er hastig. »Es würde mir lieber als alles sein; aber ich bin nicht angezogen, und – –«

»Sie können bei unserer langjährigen Bekanntschaft kaum vorschützen, sich meinetwegen zum Diner anzuziehen, und Mrs. Herbert wird Sie, denke ich, entschuldigen.«

»Sie werden willkommen sein, Monsieur,« sagte Aurélie, die zerstreut nach der Aussicht und dem weißen Roß hinuntergeblickt hatte.

»Ich danke Ihnen ganz außerordentlich,« sagte Charlie. Nachdem dies entschieden war, wurde beschlossen, daß sie mit dem Zug nach High Street fahren und von da nach Herberts Wohnung gehen sollten; denn er hatte noch immer nicht seine Absicht ausgeführt, ein Haus zu haben, weil seine Frau nur nominal mehr in London als in anderen europäischen Hauptstädten zu Hause war. Sie gingen also nach der Eisenbahnstation, Adrian mit Mary voraus und Charlie hinterher mit Aurélie, die seine Anwesenheit nicht zu beachten schien, obgleich seine Unruhe, seine häufigen Blicke seitwärts nach ihr hin und seine gelegentlichen verdrießlichen Versuche, eine nichtssagende Bemerkung anzubringen, ihr unangenehmer waren, als er vermutete. Auf diese Weise kamen sie bis auf hundert Yards von South Kensington Station ohne ein Wort zu wechseln, während seine Bestürzung mit jedem Schritt wuchs. Er warf noch einen Blick zu ihr hinüber, der diesmal ihre Augen traf, die ihn fest ansahen, als ob sie die eines alten Seemannes seien. Und je länger sie blickte, desto roter und verwirrter wurde er.

»Nun, Monsieur Beatty,« sagte sie ruhig.

Er schaute furchtsam nach Adrian hinüber, der sich in Hörweite befand. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll,« sagte er, »aber ich heiße nicht Beatty.«

»Ist es möglich! Ich bitte Sie um Verzeihung, Monsieur, ich hielt Sie irrtümlich für einen Herrn dieses Namens, den ich in Paris traf. Sie gleichen ihm außerordentlich.«

»Nein, ich versichere Ihnen,« sagte Charlie eifrig. »Ich gleiche ihm ganz und gar nicht. Ich kenne den Burschen, den Sie meinen. Er war ein betrunkener Lump, den Sie davor bewahrten, überfahren oder ausgeplündert zu werden auf der Straße, und der als Dank einen elenden Esel aus sich machte. Er ist tot.«

»Jesu Christ!« rief Aurélie aus mit erschrockenem Auffahren, das sie nicht unterdrücken konnte. »Sagen Sie nicht so was. Was meinen Sie?«

»Tot wie ein Türnagel,« sagte Charlie triumphierend, weil er sie aus der Ruhe gebracht, aber doch ganz ernsthaft. »Er wurde getötet, zerhackt, vernichtet durch Gewissensbisse, und weil er den Kontrast nicht ertragen konnte zwischen seiner Wertlosigkeit und Ihrer – Ihrer Güte. Wenn Sie ihn nur vergessen und nicht an ihn denken würden, wenn Sie mich sehen, würden Sie mir eine wirklich große Gunst erweisen – eine viel größere, als ich verdiene. Wollen Sie es, bitte, tun, Mrs. Herbert?«

»Ich glaube, Sie werden als Dichter einen großen Erfolg haben,« sagte Aurélie, indem sie ihn kühl ansah. »Sie sind – was Sie geistreich nennen. Ach! diese Untergrundbahn ist ein Schrecken.«

Sie sprachen nichts mehr miteinander, bis sie an der High Street den Zug verließen und von da wieder wie vorhin gingen, Charlie wieder in Verlegenheit, was er sagen sollte, aber nicht mehr zu furchtsam, um zu sprechen. Sein erster Versuch war:

»Ich hoffe, Madame Szczympliça geht es gut.«

»Danke sehr, sie ist ganz wohl. Sie werden sie nachher sehen.«

»Wie, wohnt sie jetzt bei Ihnen?«

»Ja. Freut Sie das?«

»Nein, eigentlich nicht,« antwortete er offen. »Wie sollte es mich freuen? Sie erinnert sich des Vagabunden, von dem wir sprachen. Was soll ich tun?«

Aurélie schüttelte langsam ihren Kopf. »In Wahrheit, ich weiß es nicht,« antwortete sie. »Sie mögen sich auf das Schlimmste vorbereiten.«

»Es ist sehr leicht für Sie, aus der Sache einen Scherz zu machen, Mrs. Herbert. Wenn Sie soviel Grund hätten, ein Zusammentreffen mit ihr zu scheuen, würden Sie nicht über mich lachen. Indessen, da Sie mir vergeben haben, denke ich, wird sie es auch tun.«

Madame Szczympliça empfing ihn auch wirklich, ohne auch nur die leiseste Erregung zu zeigen. Sie erinnerte sich seiner nicht. All ihr Interesse wurde in Anspruch genommen durch andere Betrachtungen, die sie veranlaßten, ihre Tochter in eine persönliche Unterredung auf der Treppe zu ziehen, während ihre Gäste dachten, sie wollte das Baby holen.

»Mein Kind, hast du das Essen zugleich mit den Gästen gebracht? Was sollen sie essen? Glaubst du, daß unsere Wirtin ein doppeltes Diner aus dem Stegreif herrichten kann?«

»Sie muß, maman. Es ist sehr einfach. Laß sie in die Läden gehn – zum Speisewirt. Laß sie gehen, wohin sie will, wenn nur das Diner fertig wird. Vielleicht ist auch genug im Hause.«

»Und wie –?«

»Sie wird es schon machen. Und wenn nicht, wie kann ich ihr helfen? Ich verstehe nichts von solchen Dingen. Hole das Bambino, und ärgere dich nicht wegen des Diners. Es wird schon gehen, verlaß dich drauf.« Und sie zog sich schnell wieder in den Salon zurück. Madame Szczympliça erhob ihre Hände zum Protest und ließ sie resigniert wieder fallen. Dann ging sie hinauf und kam gleich wieder zurück mit einem kleinen Baby, das sehr traurig und alt aussah.

»Siehe da!« sagte Aurélie, indem sie ihre Finger hinter ihrem Rücken kreuzte und ihrem Kind aus einiger Entfernung zunickte. »Sieh, wie feierlich es guckt! Es ist ein richtiger Engländer.« Das Baby stieß einen Klagelaut hervor und streckte eine Faust aus. »Aha! kennst du die Stimme deiner Mutter, du Schelm? Sieht es nicht Adrian ähnlich?«

Mary nahm das Kind vorsichtig auf. Sie küßte es und schüttelte ihm die Zehen. Sie gab ihm zärtliche Namen und lockte einige unartikulierte Kundgebungen aus ihm heraus. Adrian genierte sich und zeigte seine Stimmung durch ein mattes Lächeln. Charlie hielt sich absichtlich zurück. Mary war gerade dabei, das Kind behutsam der Madame Szczympliça zurückzugeben, als Aurélie schnell dazwischen trat. Sie warf es empor zur Decke und fing es gewandt wieder auf. Adrian trat erschreckt vor, Madame stieß einen polnischen Ausruf hervor, und das Baby selbst wurde böse. Als es noch einmal emporgeschleudert wurde, schrie es mit aller Macht.

»Jetzt sollen Sie sehen,« sagte Aurélie und legte es mit dem Rücken auf den Flügel, während es strampelte und schrie. Dann begann sie die Schlittschuhläuferquadrille aus Meyerbeers Oper ›Der Prophet‹ zu spielen. Sofort hörte das Baby auf zu strampeln; es wurde ruhig und lag still da, mit der freundlichen Miene eines Hundes, der gestreichelt wird, oder einer Dame, deren Haar gekämmt ist.

»Es hat einen schlechten musikalischen Geschmack,« sagte sie, als das Stück vorbei war. »Es ist altmodisch in jeder Beziehung. Ach ja. Monsieur Sutherland, wollen Sie freundlichst das Kleine meiner Mutter geben.«

Madame Szczympliça trat schnell vor, um Charles bei der Ausführung dieses Auftrags zuvorzukommen, der nur gegeben war, um ihn in Verlegenheit zu setzen. Aber er hob das Kind sehr geschickt empor und gab ihm sogar einen Kuß, bevor er es der alten Dame überreichte, die auf ihn acht gab, als ob er ein wertvolles Stück Porzellan überreichte.

»Da. Trag es fort,« sagte Aurélie. »Sie würden ein gutes Kindermädchen geben, Monsieur.«

»Was für eine Mutter!« zischte Madame Szczympliça. »Armes Kind!« und sie trug es unwillig fort.

»Ich wünschte, er würde auf einmal groß werden,« sagte Aurélie. »Wenn er einmal ein Mann ist, werde ich eine alte Frau sein, halb taub, mit Gicht in den Fingern. Er wird die neuen Klaviervirtuosen hören und sich wundern, wie ich meinen Ruf erhalten konnte. Ach, es ist eine verrückte Welt! Vor Ihnen darf man das ja sagen, denn Sie sind eine Philosophin.«

Madame Szczympliça kehrte bald zurück, und sie half viel dabei, das Gespräch im Gange zu halten, da sie nicht wie die andern drei immer wieder ängstlich auf ihre Tochter blicken mußte. Beim Diner sprach Aurélie nichts mehr, da sie sah, daß die Unterhaltung auch ohne ihre Hilfe weiterging, aber sie aß nur wenig und trank Wasser. In ihrer Zerstreutheit lenkte sie die Aufmerksamkeit der andern noch mehr als sonst auf sich. Mary, die versuchte, die wahre Natur von Adrians Frau zu erraten, betrachtete sie aufmerksam aber vergeblich. Der Charakter der Pianistin erschien ihrem Gehirn so unbestimmt, wie das Gesicht ihren kurzsichtigen Augen. Selbst Herbert, obgleich er mit dem Appetit eines Ehemannes aß, schaute oft die Tafel entlang mit der Bewunderung eines Verliebten. Charlie durfte nicht so oft hinübersehen, aber er suchte nach verzerrten Bildern ihres Gesichts auf Glasgefäßen und Löffelwölbungen und blickte zum Ersatz hierauf. Zuletzt beschloß Mary, die durch ihr Schweigen bedrückt wurde, sie zum Sprechen zu bringen.

»Ist es möglich, daß Sie keinen Wein trinken?« sagte sie. »Sie, die Sie so hart arbeiten.«

»Niemals!« sagte Aurélie, die sofort alle ihre Energie zusammennahm. »Ich habe in jeder Fingerspitze ein Gefühl der allerfeinsten und zartesten Empfindlichkeit, die Sie sich ausdenken können. Es ist eine – chose – eine Art besondere Nervenorgane. Ein einziges Glas Wein würde alle diese kleinen Nerven zum Schlafen bringen. Meine Finger würden Hämmer werden, wie die Finger all der anderen, und ich würde entzückt sein und ein großes Vergnügen am Hämmern haben, wie alle andern. Aber es wäre nicht länger Musik, was ich machte.«

»Aurélie hat merkwürdige Ansichten über das, was sie ihr feines Gefühl nennt,« sagte Herbert. »Tatsächlich mache ich die Erfahrung, daß sie, wenn sie in musikalischer Laune ist und Freude an ihrem eigenen Spielen hat, sagt, sie habe ihre Finger gefunden! Aber wenn nur andere Leute Freude daran haben, dann ist das Gefühl vergangen. Die Finger sind wie die Finger aller andern, und ich erhielt die ausdrückliche Mitteilung, daß Mademoiselle Szczympliça dabei ist, sich vom Musikberuf zurückzuziehen.«

»Ja, ja, du bist sehr klug. Du hast nicht dieses feine Gefühl, und du verstehst nichts. Wenn du es hättest, oh, wie würdest du zeichnen! Du würdest größer sein als irgendein Künstler auf der Welt.«

Mary errötete vor Unwillen über Aurélie, denn sie wußte, wie sehr es Herbert verletzte, wenn man ihn daran erinnerte, daß er kein erstklassiger Künstler war. Aurélie, unbekümmert über den Eindruck ihrer Rede, versank wieder in Nachdenken, bis sie die Tafel verließen, worauf sie sich an den Flügel setzte und Charlie erlaubte, sie in ein Gespräch zu verknüpfen, während Herbert ganz vertieft war in eine Diskussion mit Mary über die Malerei, und Madame Szczympliça ruhig strickend in einer Ecke saß.

»Was!« sagte Aurélie, als Charlie eine Weile gesprochen hatte, »waren Sie auch auf jenem Konzert?«

»Ja.«

»Dann waren Sie in jedem Konzert, in dem ich spielte, seit ich nach London zurückgekehrt bin. Gehen Sie in alle Konzerte?«

»In alle, in denen Sie spielen. Nicht in die andern.«

»Oh, ich verstehe. Sie machen mir ein Kompliment. Ich bin sehr – sehr anerkennend, so sagt man doch? – über Ihre Wertschätzung.«

»Wissen Sie, ich bin musikalisch. Ich sollte ein Musiker werden und hatte Stunden bei dem alten Jack in dieser hohen Kunst. Aber ich habe es, wie ich leider gestehen muß, aufgegeben.«

»Welch eine Vermessenheit! Es steht Ihnen nicht an, von einem großen Mann in dieser Art zu sprechen, Monsieur Charles.«

»Gewiß, Mrs. Herbert. Aber es achtet ja niemand darauf, was ich sage.«

» Tiens!« sagte Aurélie lachend. »Sie haben recht. Sie verstehen allem einen flüchtigen Anstrich zu geben. Und so haben Sie die Musik aufgegeben und wollen nun ein Poet werden. Können Sie sich keinen noch mehr passenden Beruf ausdenken?«

»Es ist der einzige, der mir geblieben ist, außer Soldat zu werden; und das betrachtet man als ausgeschlossen für mich, weil das schon mein Bruder ist – der Schwiegersohn von Phipson, wie Sie wissen. Erst sollte ich ein Universitätslehrer werden – ein Professor. Dann ging ich zur Musik. Dann versuchte ich die Rechte, die Medizin, die Technik, den indischen Zivildienst, aber alles ermüdete mich. In Wahrheit, ich habe nur die Kirche nicht versucht –«

»Was ist das? Die Kirche nicht versucht!«

»Es ist, was Sie ganz richtig einen idiotisme nennen. Ich meine, ich wollte mich nicht herablassen, ein Pfarrer zu werden.«

»Welch ein Philosoph! Weiter.«

»Ich will jetzt – wenn es mit der Poesie, was höchstwahrscheinlich ist, nichts ist, Geschäftsmann werden. Ich werde mich um einen Posten in der Conolly-Elektro-Motor-Company bewerben.«

»Ich denke, das wird auch das beste für Sie sein. Ich will Ihnen was vorspielen, um Sie zu ermutigen.«

Sie begann eine Polonaise von Chopin zu spielen. Herbert und Mary hörten auf zu sprechen, nahmen aber dann ihre Unterhaltung in gedämpftem Tone wieder auf. Charlie lauschte aufmerksam. Als die Polonaise zu Ende war, hörte sie nicht auf, sondern spielte weiter, die Augen zur Decke gerichtet, indem sie von Zeit zu Zeit nach Charlies Gesicht blickte.

»Aurélie,« sagte Herbert, indem er plötzlich seine Stimme hob, »wo sind die Skizzen, die Mrs. Scott letzten Dienstag hierließ?«

»Aber, hören Sie mal!« sagte Charlie in einem Tone heftigster Ermahnung, als die Musik aufhörte. Herbert, der ihn nicht verstand, sah ihn fragend an. Aurélie erhob sich, nahm die Skizzen vom Notenständer und übergab sie schweigend Mrs. Hoskyn.

»Es tut mir leid, daß wir Sie unterbrochen haben,« sagte Mary errötend. Aurélie wies die Entschuldigung durch eine Handbewegung freundlich zurück und setzte sich in einen niedrigen Sessel nahe beim Fenster.

»Ich wollte, Sie spielten noch einmal, wenn Sie nicht ermüdet sind, Mrs. Herbert,« sagte Charlie furchtsam.

Sie schüttelte den Kopf.

»Es ist hart, daß ich zu leiden habe, weil meine Schwester einen hölzernen Kopf ohne Ohren hat,« flüsterte er, indem er zornig nicht nach Mary, sondern nach Herbert hinüberblickte. »Ich war vollkommen im Himmel, als man Sie unterbrach. Ich wünschte, Jack wäre hier. Er hätte ihnen seine Meinung zu kosten gegeben.«

»Mr. Herbert kann Mr. Jack nicht leiden.«

»Mr. Jack kann ebenso Mr. Herbert nicht leiden. Zwischen ihnen gibt's keine Liebe. Adrian haßt Jacks Musik und Jack lacht über Adrians Bilder.«

» Maman, klingele. Laß etwas Tee bringen.«

»Ja, mein Engel.«

Die Konversation wurde nun allgemein und unzusammenhängend. Mary, die fürchtete, daß sie schon unhöflich und unaufmerksam gegen ihre Gastgeberin gewesen, hielt es für besser, ihre Unterhaltung mit Adrian nicht fortzusetzen. »Ich sehe, unser Telegramm war ohne Erfolg,« sagte sie. »Mr. Hoskyn hat offenbar im Klub gespeist.«

»Um so törichter von ihm,« sagte Charlie verdrießlich.

»Was soll das heißen?« fragte Mary, überrascht durch seinen Ton. Er schaute finster nach dem Flügel und gab keine Antwort. Dann ließ er einen Blick auf Aurélie gleiten und geriet sehr aus der Fassung, als er sah, daß sie ihm freundlich ihre volle Teetasse anbot. Er nahm sie und setzte sie ganz verwirrt wieder auf den Tisch.

»Und so,« sagte sie, als er wieder in ihrer Nähe saß, »haben Sie in keinem Ihrer Berufe Erfolg gehabt.«

Diese plötzliche Rückkehr zu dem abgebrochenen Gesprächsgegenstand brachte ihn noch mehr aus der Fassung. »Ich – Sie meinen meine –«

»Ihre métiers – wie Sie sie auch nennen. Ich wundere mich darüber nicht, Monsieur Charles. Sie haben keine Ausdauer.«

»Ich habe Ausdauer genug, wenn es mir Freude macht.«

»Haben Sie jemals diese Freude?«

»Manchmal. Wenn Sie spielen, zum Beispiel, könnte ich ein Jahr lang lauschen, ohne zu ermüden.«

»Sie würden sehr hungrig werden. Und ich würde sehr müde werden vom Spielen. Übrigens –«

Ein dumpfer Fall, dem ein lautes Kindergeschrei folgte, unterbrach sie. Sie lauschte einen Moment und verließ, gefolgt von ihrer Mutter, das Zimmer. Mary und Adrian, die an solche Zufälle gewohnt waren, rührten sich nicht. Charlie, den ihre Gleichgültigkeit beruhigte, nahm das Skizzenbuch auf.

»Adrian,« sagte Mary mit leiser Stimme, »glaubst du, daß Mrs. Herbert auf mich böse ist?«

»Nein. Warum?«

»Ich meine, war sie erzürnt – heute – im Atelier?«

»Ich denke nicht. N–nein. Warum sollte sie über dich erzürnt sein?«

»Vielleicht nicht gerade über mich. Aber über uns beide. Du mußt mich verstehen, Adrian. Ich fühlte mich in einer außerordentlich schiefen Lage, als sie hereintrat. Ich meine nicht ausdrücklich, daß sie vielleicht eifersüchtig war, aber –«

»Beruhige dich, Mary,« sagte er mit einem trüben Lächeln. »Sie ist nicht eifersüchtig. Ich wollte, sie wäre es.«

»Du wünschest es?«

»Ja. Es würde mir ein Beweis der Liebe sein. Ich zweifle daran, ob sie überhaupt zur Eifersucht fähig ist.«

»Ich hoffe nicht. Sie muß es sehr seltsam gefunden haben, und wir schauten natürlich so schuldbewußt wie möglich aus. Menschen, die unschuldig sind, tun das immer. Still! Da ist sie. – Haben Sie den Frieden in der Kinderstube wieder hergestellt, Mrs. Herbert?«

»Meine Mutter besorgt das,« sagte Aurélie. »Es ist wirklich ein Pechvogel. Es gibt kein Bettchen, aus dem es nicht herausfällt. Aber bleiben Sie doch sitzen. Ist es möglich, daß Sie schon gehen wollen?«

Mary, die sich trotz Herberts Versicherung nicht ganz beruhigt fühlte, erfand unwiderlegbare Gründe, um gleich nach Hause zu gehen. Charlie mußte mit ihr aufbrechen. Er versuchte Aurélie in gleichgültiger Weise gute Nacht zu sagen, aber es gelang ihm nicht. Mary bemerkte gegen Herbert, der sie an die Tür begleitete, daß Charlie sich als Knabe viel weniger ungeschickt benommen habe, wie jetzt als Erwachsener. Adrian stimmte ihr bei und ließ sie hinaus. Einen Augenblick blieb er noch stehen, um die Schönheit des Abends zu bewundern, dann kehrte er in den Salon zurück, wo Aurélie auf einer Ottomane saß, offenbar tief in Gedanken.

»Siehst du!« sagte er munter, »gewinnt Mrs. Hoskyn nicht bei näherer Bekanntschaft? Ist sie nicht eine hübsche Frau?«

Aurélie schaute ihn einen Augenblick träumerisch an, dann sagte sie: »Bezaubernd.«

»Ich wußte, daß sie dir gefallen würde. Das war ein glücklicher Einfall von dir, sie zum Diner einzuladen. Ich bin sehr glücklich deswegen.«

»Ich war dir eine Genugtuung schuldig, Adrian.«

»Wofür?« fragte er, indem er sich instinktiv bedrückt fühlte.

»Weil ich euer tête-à-tête unterbrochen habe.«

Er lachte. »Ja,« sagte er. »Aber du bist mir deswegen keine Genugtuung schuldig. Du kamst ganz gelegen.«

»Das ist genau, was ich dachte. Ah, mein Freund, wieviel mehr bewundere ich dich, wenn du in Mrs. Hoskyn, als wenn du in mich verliebt bist! Du bist so viel mehr männlich und gedankenreich. Und sie hast du verlassen, um mich zu heiraten! Welch eine Torheit!«

Adrian stand mit offnem Munde da, nicht nur erstaunt, sondern auch ängstlich, sie möchte sein Erstaunen bemerken. »Aurélie,« rief er aus, »ist es möglich – es ist kaum zu begreifen – daß du eifersüchtig bist.«

»N–nein,« antwortete sie nach einigem Nachdenken. »Ich denke nicht, daß ich eifersüchtig bin. Vielleicht ist es Mr. Hoskyn, wenn er zufällig zu einem andern tête-à-tête kommt. Aber da ihr euch in England nicht duelliert, schadet es nichts.«

»Aurélie, sprichst du im Ernst?«

»Warum soll ich nicht im Ernst sprechen?« sagte sie, indem sie sich etwas erhob.

»Weil,« antwortete er mit Würde, »deine Worte besagen, daß du eine verächtliche Meinung von Mrs. Hoskyn und mir hast.«

»Oh nein, nein,« sagte sie, ihn gleichmütig beruhigend. »Ich glaube nicht, daß du ein verruchter Frauenjäger bist wie Don Juan. Ich weiß, ihr würdet das beide für eine große Sünde in England halten. Ich vermute von euch gar nichts, mit Ausnahme dessen, was ich in euren Gesichtern las, als du ihre Hände in deine gefaltet hattest. Mich könntest du niemals so ansehen.«

»Was willst du damit sagen?« fragte er unwillig.

»Ich will es dir zeigen,« antwortete sie ruhig, indem sie sich erhob und ihm nähertrat. »Gib mir deine Hände.«

»Aurélie, das ist kind–«

»Beide Hände. Gib sie mir.«

Sie nahm sie bei diesen Worten, während er sie verwirrt ansah. »Nun,« sagte sie, indem sie einen Schritt zurücktrat, so daß sie ungefähr in Armlänge voneinander standen, »verstehe, was ich meine. Sieh mir in die Augen, wie du es ihr getan, wenn es dir möglich ist.« Sie wartete; aber sein Gesicht drückte nur Verwirrung aus. »Du kannst nicht,« fügte sie hinzu und versuchte, ihre Hände freizumachen. Aber er hielt sie fest, zog sie an sich und küßte sie. »Ah,« sagte sie, indem sie sich ruhig losmachte, »diesen Teil habe ich nicht gesehen. Ich war nur einen Augenblick an der Türe, bevor ich sprach.«

»Unsinn, Aurélie. Ich beabsichtigte nicht, Mrs. Hoskyn zu küssen.«

»Dann hättest du es tun sollen. Wenn eine Frau dir beide Hände gibt, erwartet sie so etwas.«

»Aber ich verpfände dir mein Wort, daß du dich irrst. Wir haben einfach unsere Hände geschüttelt für ein Übereinkommen: die allergewöhnlichste Sache, die es in England gibt.«

»Ein Übereinkommen?«

»Eine Einigung – eine Akt Verabredung zwischen uns.«

» Eh bien! Und was war das für eine Verabredung, die ein solches Licht in euren Augen entzündete?«

Adrian, der eine offene Erklärung geben wollte, zauderte, als er sich den Eindruck vorstellte, den seine Worte offenbar erzeugen würden. »Es ist sehr schwierig zu erklären,« begann er.

»Dann erkläre es nicht; denn es ist sehr leicht zu verstehen. Ich weiß, ich weiß. Mein armer Adrian, du bist verliebt, ohne es zu wissen. Ah! Ich beneide Mrs. Hoskyn.«

»Wenn du das wirklich meinst,« sagte er eifrig, »will ich dir alles andere vergeben.«

»Ich beneide sie um ihre Fähigkeit, sich zu verlieben,« versetzte Aurélie, indem sie sich wieder hinsetzte und in nachdenklichem Tone weitersprach. »Ich kann nicht lieben, ich kann fühlen in der Musik – im Roman – in der Poesie; aber im wirklichen Leben ist es mir unmöglich. Ich habe maman gern, das bambino gern, manchmal habe ich dich gern; aber das ist keine Liebe – keine solche Liebe, wie du sie immer für mich fühltest – wie sie sie jetzt für dich fühlt. Ich sehe die Menschen und Dinge zu scharf, um zu lieben. Oh ja, ich muß mich mit der Musik begnügen. Es ist nur ein Schatten. Aber schließlich ist auch das so real wie die Liebe.«

»Kurz gesagt, Aurélie, du liebst mich nicht und hast mich niemals geliebt.«

»Nicht auf deine Art.«

»Warum hast du mir das früher nicht gesagt?«

»Weil du mich liebtest, und es würde dich verwundet haben.«

»Ich liebe dich noch, und du weißt das. Warum erzähltest du mir das nicht, bevor wir uns heirateten?«

»Ah, ich hatte es vergessen. Ich muß dich damals geliebt haben. Aber du warst nur halb real, ich kannte dich nicht. Was ist dir?«

»Du fragst mich, was mir ist, nach – nachdem –«

»Komm, setz dich neben mich und sei ruhig. Du machst Grimassen wie ein Schauspieler. Ich tu mehr für dich, als du verdienst; denn ich liebkose dich noch als meinen Ehemann, trotzdem du Übereinkommen, wie du sie nennst, mit andern Frauen abschließest.«

»Aurélie,« sagte er finster, »da ist ein Weg und nur einer für uns übrig. Wir müssen uns trennen.«

»Trennen! Und warum?«

»Weil du mich nicht liebst. Ich vermutete es schon früher, jetzt weiß ich es. Deine Achtung vor mir ist ebenso verschwunden. Ich kann dich wenigstens freimachen, ich bin das mir selber schuldig. Du magst die Notwendigkeit dafür nicht einsehen, ich kann sie dir auch nicht zeigen. Nichtsdestoweniger müssen wir uns trennen.«

»Und was soll ich für einen Mann tun. Vergißt du, was du mir und meinem Kinde schuldig bist? Nun ja, das macht nichts aus. Geh. Aber paß auf, Adrian, wenn du dein Heim verläßt, nur um diese Frau von den Ihrigen wegzuziehen, das wird eine Gemeinheit sein – die mich auf ewig von dir trennt. Hoffe nicht, wenn du ihrer müde bist – denn man wird aller scharf ausgeprägten Menschen müde, und sie ist im Aussehen und im Charakter scharf ausgeprägt – hoffe nicht, dich dann bei mir zu trösten. Du magst schwächlich und töricht sein, wenn du willst; aber wenn du aufhörst, ein Ehrenmann zu sein, bist du nicht länger mein Adrian.«

»Und was in Himmels Namen kann mir denn noch passieren, wenn ich jetzt nicht länger dein Adrian bin. Du hast mir erzählt, daß du dir nie was aus mir gemacht hast –«

»Ach was! Ich sage dir, daß ich keine Natur bin, die sich verliebt. Sei ruhig und rede nicht von Trennung und von solchen törichten Dingen. Bin ich heute nicht gut gegen sie und dich gewesen?«

»Bei meiner Seele,« schrie Adrian verzweifelt, »ich glaube, du bist entweder toll oder du willst mich toll machen.«

»Jetzt flucht er!« rief sie aus und erhob ihre Hände.

»Ich bin nicht in Mary verliebt,« fuhr er fort. »Es ist eine schwere und törichte Verleumdung von uns beiden, so etwas zu sagen. Wenn sich jemand schämen müßte, dann bist du es – ja du, Aurélie. Du hast die niedrigste Folgerung aus einer vollkommen unschuldigen Handlung meinerseits gezogen; und jetzt erzählst du mit dem zynischsten Gleichmut, daß du dir nichts aus mir machst.«

Aurélie gab ihm mit einem leisen Achselzucken zu verstehen, daß sie mit ihm fertig sei. Sie erhob sich und ging zum Flügel. Im Augenblick, als ihre Finger die Tasten berührten, schien sie ihn zu vergessen. Aber sie hielt sofort wieder inne und sagte mit schwerem Erstaunen: »Was sagtest du, Adrian?«

»Nichts,« antwortete er kurz.

»Nichts!« wiederholte sie ungläubig.

»Nichts, was für deine Ohren bestimmt war. Wenn du es gehört hast, dann bitte ich dich um Verzeihung. Ich beleidige dich nicht oft mit solch einer Sprache; aber heute nacht spreche ich es aus tiefster Seele: dieser verdammte Flügel!«

»Ohne Zweifel hast du das schon oft im stillen gesagt,« sagte Aurélie und schloß ruhig das Instrument.

»Gehst du weg?« sagte er ängstlich, als sie auf die Tür zuschritt. »Nein,« rief er aus, indem er vorwärts sprang und vorsichtig seinen Arm um sie legte. »Ich wollte nicht sagen, daß ich dein Spiel nicht liebte. Ich hasse nur den Flügel, wenn du mich gegen ihn eifersüchtig machst – wenn du zu ihm gehst, um mich zu vergessen.«

»Es ist nicht schlimm. Sei ruhig. Ich bin nicht beleidigt,« sagte sie kühl und versuchte sich loszumachen.

»Du bist es doch, Aurélie. Bitte sei nicht so –«

»Adrian, du quälst mich – du wirst mich zum Weinen bringen; und dann werde ich dir niemals vergeben. Laß mich gehen.«

Bei der Drohung, zu weinen, ließ er sie los und sah sie traurig an.

»Du solltest mir keine Szenen machen,« sagte sie vorwurfsvoll. »Wo ist mein Taschentuch? Ich hatte es noch vor einem Augenblick.«

»Hier ist es, Teuerste,« sagte er demütig, indem er es vom Boden aufnahm, wohin es gefallen. Sie nahm es, ohne ihm zu danken. Dann, als sie ärgerlich nach ihm hinblickte und ihn niedergeschlagen und traurig stehen sah, wurde sie weicher und streckte ihre Arme aus nach einer Zärtlichkeit.

» Mon âme,« flüsterte sie besänftigend, während sie, das Gesicht gegen seines gelehnt, stehen blieb.

» Ma vie,« antwortete er glühend und zog sie mit bebendem Entzücken an seine Brust.


 << zurück weiter >>