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Drittes Kapitel

An einem der letzten Tage des Monats Juli war Mary Sutherland im Hause ihres Vaters zu Windsor damit beschäftigt, eine A. H. gezeichnete Skizze zu kopieren. Das Zimmer hatte ein bis auf den Boden reichendes Fenster, das auf einen kleinen, mit Buschwerk bestandenen Rasen hinausging; jenseits, fern in der flimmernden Sommeratmosphäre, schlängelte sich der Fluß durchs Tal.

Marys Augen sahen nicht in dieser Richtung. Wie sie so ihre Aufmerksamkeit auf das mit Farbenklexen bedeckte Stückchen Papier gerichtet hatte, konnte sie für die ästhetisch angehauchte Tochter eines Landwirtschaft treibenden Mannes gelten.

Schließlich fiel ein Schatten auf das Reißbrett. Sie wandte sich um und sah eine hochgewachsene, ansehnliche Dame, die über die mittleren Jahre hinaus war, am Fenster stehen.

»Oh, Mrs. Herbert!« rief sie, indem sie den Pinsel wegwarf und der unerwarteten Besucherin entgegenlief, um sie zu umarmen. »Ich dachte, Sie wären in Schottland.«

»Das war ich auch – bis vorige Woche. Die erste Persönlichkeit, die ich in London angetroffen habe, war Ihre Tante Jane. Sie hat mich überredet, zwei Wochen mit ihr in Windsor zu verbringen. Sie sehen ja prächtig aus! Ich habe Ihr Porträt in Adrians Atelier gesehen – es ist Ihnen nicht ein bißchen ähnlich.«

»Hoffentlich haben Sie ihm das nicht gesagt. Außerdem – es muß mir doch ähnlich sein – Adrians sämtliche Freunde halten sehr viel davon.«

»Natürlich – und er hält dafür sehr viel von ihren Werken. Das ist ein abgekartetes Geschäft. Armer Adrian, er hatte keine Ahnung, daß ich von Schottland zurückkommen würde! Ich habe ihm eine recht unangenehme Überraschung bereitet, als ich am letzten Montag in seinem Atelier auftauchte.«

»Unangenehm? Ich möchte darauf schwören, daß er sich sehr gefreut hat.«

»Er hat sich nicht einmal die Mühe gegeben, angenehm berührt zu erscheinen. Seine Manieren werden immer schlimmer und schlimmer. Wer ist der merkwürdige Mensch, der mir die Gartenpforte geöffnet hat – eine Art Zyklop mit einer ehernen Stimme?«

»Ach, das ist nur Mr. Jack, Charlies Hauslehrer. Er hat augenblicklich nichts zu tun, weil Charlie gerade vierzehn Tage in Cambridge verbringt.«

»Ach, nicht möglich! Ihre Tante Jane hatte eine Unmasse von ihm zu erzählen. Sie mag ihn nicht leiden. Ich muß sagen – seine äußere Erscheinung bestätigt ihre Abneigung – trotz der recht gutmütigen Augen. Wessen Geschmack war denn dieser Mr. Jack?«

»Meiner – so heißt es wenigstens. Eigentlich aber habe ich mit seinem Engagement nicht mehr zu tun als Papa oder Charlie.«

»Ich freue mich nur, daß Adrian nichts damit zu tun gehabt hat. Und sonst, Mary – haben Sie irgendwelche Neuigkeiten für mich? Ist irgendein großes Wunder passiert, während ich in Schottland war?«

»Nein – soviel ich weiß, keins. Sie haben doch gehört, daß Papas Tante Dorcas gestorben ist?«

»Das war ja schon im April – kurz ehe ich abreiste. Ich habe gehört, daß ihr schon zu Anfang der Saison wieder aus London zurückgekommen seid. Ich finde es einfach kindisch, sich hier zu vergraben. Sie müssen sich verheiraten, mein Kind.«

Mary errötete.

»Hat Adrian Ihnen etwas von seinen neuen Plänen gesagt?« fragte sie.

»Adrian sagt mir nie etwas. Der Wahrheit die Ehre – ich mache mir auch nichts daraus, von seinen Plänen zu hören, ehe er den absurden Gedanken, Maler zu werden, nicht ein für allemal aufgegeben hat. Davon will er natürlich nichts wissen – er hat es mir sogar nie verzeihen können, daß ich es überhaupt nur angedeutet habe. Und das einzige, was die schönen Künste für ihn bis jetzt im Gefolge gehabt haben, ist seine Abneigung gegen seine Mutter. Ich hoffe nur, daß nichts Schlimmeres danach kommt.«

»Sie irren Mrs. Herbert – ich versichere Sie, Sie irren sich wirklich. Er ist vielleicht ein wenig empfindlich, weil Sie sein Talent nicht anerkennen, aber er hat Sie doch sehr, sehr lieb.«

»Machen Sie sich keine Gedanken, mein liebes Kind, weil ich sein Talent nicht anerkenne, wie Sie es zu nennen belieben. Ich leide nicht an der mindesten Voreingenommenheit gegen die Kunst, und wenn Adrian nur die geringste Aussicht besäße, ein guter Maler zu werden, so würde ich meine Witwenrente mit ihm teilen und ihn ins Ausland schicken, damit er ordentlich studieren kann. Er wird aber nie etwas Vernünftiges malen. Ich bin nicht, was man im allgemeinen einen Schöngeist nennt, und solche Bilder, die durchschnittlich für die Vervollkommnung moderner Kunst gelten, haben für mich etwas unweigerlich Langweiliges, weil ich sie nicht verstehe. Dafür verstehe ich aber Adrians Tünchereien, und ich weiß, daß sie unveränderlich minderwertig und schwächlich sind. Die ganze Royal Academy könnte mich nicht vom Gegenteil überzeugen – wahrscheinlich wird sie es auch gar nicht versuchen. Ich wollte, ich könnte Ihnen den Glauben beibringen, daß jeder, der Adrian davon abredet, länger bei der Kunst zu bleiben, sicherlich sein bester Freund ist. Haben Sie denn nicht dasselbe Gefühl, Mary, wenn Sie seine Bilder sehen?«

»Nein,« entgegnete Mary, indem sie ihren Kneifer aufsetzte und ihre Besucherin scharf ansah, »ich habe gerade die gegenteilige Empfindung.«

»Dann sind Sie entweder blind oder verblendet. Nehmen Sie doch nur Ihr eigenes Porträt als Beispiel – kein Mensch kann Sie darauf erkennen. Adrian hat mir sogar selbst gesagt, er würde es vernichtet haben, wenn Sie's ihm nicht verboten hätten. Dabei platzte er aber eigentlich vor unterdrücktem Ärger, weil ich es nicht bewundern zu können behauptete.«

»Ich glaube fest daran, daß Adrian doch noch ein großer Mann wird und daß auch Sie Ihren Irrtum dann zugeben.«

»Sie sind eben jung, mein Kind, und trotz aller Ihrer Klugheit nicht sehr weltweise. Außerdem haben Sie auch Adrians Vater nicht gekannt.«

»Das nicht, aber ich kenne Adrian – sehr gut sogar, glaube ich. Ich glaube an den unumstößlichen Wert seiner Konzeptionsfähigkeit. Und er hat auch bewiesen, daß er vor der harten Arbeit nicht zurückscheut. Weiter braucht er doch nichts, um sich die Fähigkeit zu erwerben, das auch darzustellen, was er konzipiert. Sie können ohne lange Praxis und andauerndes Studium doch keinen großen Maler aus ihm machen wollen!«

»Von Metaphysik verstehe ich nichts, Mary. Konzeption und Darstellung sind für mich böhmische Dörfer. Dafür weiß ich aber, daß Adrian niemals glücklich werden wird, ehe er nicht mit einer vernünftigen Frau verheiratet ist. Und solange er Künstler bleibt, kann er nicht heiraten.«

»Warum nicht?«

»Welche Frage! Wie soll er denn mit dreihundert Pfund jährlich heiraten? Von mir würde er keinen Zuschuß annehmen, selbst wenn ich ihm einen gewähren könnte. Seitdem wir wegen dieser ekelhaften Kunst auseinander gekommen sind, ist er mir in jeder erdenklichen Weise aus dem Wege gegangen. Und dazu noch mit einer Ostentation, die – von allen natürlichen Empfindungen abgesehen – höchst geschmacklos ist. Mit seiner Malerei wird er sein Einkommen nie um einen Heller vergrößern – davon bin ich fest überzeugt. Und um eine Frau mit Geld zu heiraten, hat er nicht genug Schneid. Wenn er bei seiner Verblendung verharrt, wird er seine Frau mit dem Warten auf einen Erfolg, der doch nicht kommt, bis ins Unendliche hinzerren. Gesellschaftliche Talente hat er auch nicht. Wäre er ein Genie wie Raffael, dann käme es auf seine Eckigkeit nicht an. Und wenn alles Humbug und Schwindel mit ihm wäre wie mit seinem Onkel John, dann würde er Blüten treiben wie jeglicher Humbug in dieser schlechten Welt. Aber Adrian ist leider keins von beiden. Er ist nur ein tölpelhafter Stiesel, der arme Kerl!«

Mary errötete und sagte nichts.

»Haben Sie irgendwelchen Einfluß auf ihn?« fragte Mrs. Herbert, indem sie sie genau beobachtete.

»Wenn ich welchen hätte,« entgegnete Mary, »so würde ich ihn nicht dazu benutzen, ihm den Mut zu nehmen.«

»Das tut mir leid. Ich hatte gehofft, Sie würden mir dabei behilflich sein, ihn davor zu bewahren, seine beste Zeit zu vergeuden. Ihre Tante Jane hat mir erzählt, Sie wären mit ihm verlobt – aber das ist nun schon eine derartig alte Geschichte, daß ich gar nicht mehr sonderlich darauf achte.«

»Hat Adrian Ihnen denn nicht gesagt, daß ...«

»Liebes Kind, ich habe nun schon mindestens ein dutzendmal erwähnt, daß Adrian mir niemals etwas sagt. Je wichtiger seine Angelegenheiten sind, desto absichtlicher und offenkundiger schließt er mich davon aus. Hoffentlich sind Sie nicht unvernünftig genug gewesen, sich, soweit Ihr künftiger Unterhalt in Frage kommt, auf seine Ruhmesvisionen zu verlassen.«

»Um also die Wahrheit zu sagen – wir sind seit letztem April verlobt. Ich wollte, Adrian sollte Ihnen schreiben. Er sagte, er wolle lieber persönlich mit Ihnen darüber sprechen. Ich dachte, er hätte es gleich nach Ihrer Ankunft getan. Indes – er hat sicherlich seine Gründe gehabt, wenn er es mir überlassen hat, Ihnen davon Mitteilung zu machen. Im übrigen bin ich ganz zufrieden, bis er den Lohn für seine Arbeit erntet, zu warten. Wir müssen uns schon damit abfinden, wenn unsere Ansichten über sein Talent auseinandergehen. Ich setze unerschütterlichen Glauben in ihn.«

»Das tut mir wirklich sehr leid – um Ihretwillen, Mary. Wenn Sie nicht die Geduld verlieren und ihn eines schönen Tages sitzen lassen, so werden Sie, fürchte ich, Ihr ganzes Leben zusehen müssen, wie Ihr eigenes Geld dahingeht – bei den Versuchen, eine Familie mit dreihundert Pfund jährlich zu erhalten. Wenn Sie sich doch nur raten lassen und ihn von seiner künstlerischen Eingebildetheit abbringen wollten – Sie wären in ganz England die beste Frau für ihn. Sie haben soviel Charakterfestigkeit – gerade das, was er nicht hat.«

Mary lachte.

»Sie irren sich in jeglicher Hinsicht mit Adrian,« meinte sie. »Er ist es, der die ganze Charakterfestigkeit hat – ich bin nur seine Schülerin. Er hat mir seinen ganzen Ideengang aufgedrängt – vielleicht mehr durch dessen Reinheit und Wahrheit als durch seinen persönlichen positiven Einfluß. Adrian ist alles, nur kein Dogmatiker. Ich folge ihm nur nach – er ist der Führer.«

»Das ist alles recht schön und gut, Mary. Aber mein altmodischer gesunder Menschenverstand hat mehr Wert als Ihr kluger moderner Unverstand. Indes – da Adrian Ihnen nun einmal den Kopf verdreht hat, so bleibt auch nichts anderes zu tun, als ruhig zu warten, bis Sie beide wieder zur Vernunft kommen. Ich höre jemand an der Tür – das muß Ihre Tante Jane sein. Sie hat versprochen, in einer halben Stunde nachzukommen.«

Mary runzelte die Stirn; nur mit sichtlicher Anstrengung gelang es ihr, ihr heiteres Wesen wieder anzunehmen, als sie sich erhob, um ihre Tante, Mrs. Beatty, zu begrüßen – eine ältliche Dame, deren Züge denen Mr. Sutherlands glichen; nur waren sie fleischiger und im Ausdruck anmaßender.

»Hoffentlich bin ich nicht zu früh gekommen, Mary?« rief sie laut. »Du hast dich wohl gewundert, als du Mrs. Herbert zu Gesicht bekamst?«

»Oh ja – Mr. Jack hat ihr die Pforte aufgemacht, und sie stand plötzlich, wie aus den Wolken gefallen, vor mir.«

»Mr. Jack ist eine angenehme Persönlichkeit für ein respektables Haus,« meinte Mrs. Beatty spöttisch. »Weißt du, wo ich ihn zuletzt gesehen habe?«

»Nein,« entgegnete Mary etwas ungeduldig, »ich will es auch gar nicht wissen! Ich habe das Reden über Mr. Jacks minderwertiges Betragen satt.«

»Minderwertiges Betragen? Ich nenne das einen Skandal, Mary – einfach schamlos!«

»Großer Gott, was hat er denn nun wieder angerichtet?«

»Du hast gut fragen. Augenblicklich zeigt er sich in Gesellschaft gemeiner Soldaten auf den Straßen von Windsor – er geht offenkundig mit ihnen in die Kneipen.«

»Bist du dessen ganz sicher, Tante Jane?«

»Vielleicht wirst du mir gestatten, meinen eigenen Augen zu trauen. Ich bin auf meinem Wege hierher durch die Stadt gefahren. Sie wissen ja, was eine kleine Stadt ist, Mrs. Herbert, wie einer den andern vom Ansehen kennt – von einer so auffälligen Persönlichkeit, wie es Mr. Jack ist, ganz abgesehen. Der erste Mensch, den ich zu Gesicht bekam, war der Gemeine Charles, das schlimmste Subjekt in meines Mannes Regiment – er stand in einer Unterhaltung mit dem Hauslehrer meines Neffen in der Tür vom »Grünen Mann« und dann gingen sie vor meinen eigenen Augen zusammen in die Bar hinein. Jetzt sage mir, bitte – was denkst du von deinem Mr. Jack?«

»Er hat vielleicht seine Gründe.«

»Gründe? Papperlapapp! Mit welchem Recht spricht ein Bediensteter meines Bruders am hellen, lichten Tag auf der Straße mit einem liederlichen Soldaten? Dafür gibt es überhaupt keine Entschuldigung! Hätte Mr. Jack nur einen Atom Selbstachtung, er würde sich sogar einen Wachtmeister in geziemender Entfernung vom Leibe halten. Und dabei ist dieser Charles noch ein derartiger Trunkenbold, daß er die Hälfte seiner Zeit im Arrest zubringt. Er wäre längst vom Regiment entlassen – aber er ist ein Spielmann, und der Kapellmeister hat meinen Mann gebeten, ihn nicht fortzuschicken, weil er unersetzlich ist.«

»Wenn er ein Musiker ist,« erwiderte Mary, »so erklärt sich damit alles. Mr. Jack wollte von ihm offenbar irgendeine Auskunft in einer musikalischen Angelegenheit ...«

»Ich muß sagen, Mary – es ist einfach unerhört, wenn du solches Betragen noch verteidigst. Ist eine Kneipe vielleicht der richtige Ort, um Musik zu lernen? Hätte sich Mr. Jack nicht an deinen Onkel wenden können? Hätte er mir etwas gesagt – Oberst Beatty würde den Mann angewiesen haben, Jack jede Auskunft zukommen zu lassen.«

»Entschuldige, bitte, liebe Tante – aber du bist, wie mir scheint, die letzte Persönlichkeit, an die sich Mr. Jack um eine Gefälligkeit wenden könnte – nach der Art, wie du dich ihm gegenüber zu benehmen pflegst.«

»Da haben wir's!« rief Mrs. Beatty, indem sie sich empört Mrs. Herbert zuwandte. »So werde ich in diesem Hause behandelt, um nur ja Mr. Jack zufriedenzustellen. Letzte Woche wurde mir gesagt, ich hätte die Angewohnheit, mit Dienstboten zu klatschen, weil Mrs. Williams Hausmädchen ihn am Sonntag im Park – bedenken Sie, am Sonntag – gesehen hat, wie er pfiff und sang und sich wie ein Verrückter benahm. Und jetzt, wenn Marys Schützling auf frischer Tat dabei ertappt wird, wie er mit dem Gemeinsten der Gemeinen herumzecht, dann dreht sie die ganze Sache so, als ob ich nicht wüßte, wie ich mich vor einem Hauslehrer zu benehmen hätte.«

»Das habe ich nicht gesagt, Tante – und du weißt es auch ganz gut.«

»Oh, bitte sehr, wenn du jetzt gegen mich ausfallend werden willst ...«

»Ich werde gar nicht ausfallend, Tante – aber du nimmst ohne jeglichen Grund an allem und jedem Anstoß. Und du bringst Mrs. Herbert den Glauben bei, als ob ich Mr. Jacks besonders bestellte Verteidigerin wäre – du hast ihn soeben meinen Schützling genannt. Tatsache ist, Mrs. Herbert, daß kein Mensch diesen Mr. Jack leiden mag. Wir behalten ihn auch nur, weil Charlie bei ihm einige Fortschritte macht und ihn respektiert. Tante Jane hat eine leidenschaftliche Abneigung gegen ihn gefaßt.«

»Ich, Mary – was ist mir Mr. Jack, daß ich ihn mögen oder nicht mögen sollte, bitte –«

»Und sie trägt mir immer allerhand Geschichten über seine Untaten zu. Als ob ich daran schuld wäre! Und wenn ich ihn dann gegen offenkundige Ungerechtigkeiten verteidigen will, so wird mir vorgeworfen, ich verteidigte und beschützte ihn.«

»Das tust du auch!« warf Mrs. Beatty ein.

»Ich sage alles, was ich zu seinen Gunsten sagen kann,« entgegnete Mary etwas scharf, »weil er mir viel zu unsympathisch ist, als daß ich mich dazu herbeilassen könnte, an Angriffen teilzunehmen, die hinter seinem Rücken gegen ihn geführt werden. Und außerdem habe ich auch keine Angst vor ihm – wie du und Papa.«

»Du bist wirklich zu lächerlich,« entgegnete Mrs. Beatty. »Angst!«

»Ich sehe,« warf Mrs. Herbert besänftigend ein, »meine neue Bekanntschaft, der Zyklop, ist hier zum Zankapfel geworden. Wenn ihn alle nicht sehen können – warum entlaßt ihr ihn dann nicht und schafft euch an seiner Stelle eine etwas populärere Figur an? Eine Zierde eures Hauses ist er sicherlich nicht. Wo ist denn Ihr Vater, Mary?«

»Er ist zum Diner nach Eton hinüber. Vor Mitternacht kommt er nicht zurück. Es wird ihm sehr leid tun, Sie verfehlt zu haben. Aber er wird Sie natürlich morgen aufsuchen.«

»Und Sie sind ganz allein hier?«

»Jawohl – allein mit meiner Arbeit.«

»Wie stellen Sie sich denn zu unserm Plan, Sie mit uns zu nehmen und den Abend über bei uns zu behalten?«

»Ich möchte wirklich lieber bleiben und meine Arbeit vollenden.«

»Ach, Unsinn, Kind!« mischte sich Mrs. Beatty ein. »Du kannst nicht den ganzen Tag arbeiten. Du mußt dich herausschälen und etwas von deinem Leben haben.«

Mary gab mit einem Seufzer nach und ging, um sich ihren Hut zu holen.

»Ich glaube sicher, dies fortwährende Malen und Gedichtelesen ist nicht gut für ein junges Mädchen,« meinte Mrs. Beatty während Marys Abwesenheit. »Es ist ja sehr nett von Ihrem Adrian, daß er sich soviel Mühe nimmt, Marys Geist zu bilden. Aber gar zu viel Studium kann ihrem Verstand nur schaden. Sie ist sehr eigenwillig und hat allerlei seltsame Ideen im Kopfe. Es fehlt ihr eben an der richtigen Aufsicht. Der arme Charles hat nicht mehr Willenskraft als ein Baby. Und auf mich will sie nicht hören, wenngleich ...«

»So, ich bin fertig,« sagte Mary, als sie jetzt zurückkam.

»Du machst mich ganz nervös. Du tust alles so furchtbar hastig,« meinte Mrs. Beatty nörgelnd. »Kannst du denn nicht etwas kürzere Schritte nehmen,« fügte sie hinzu, während sie auf ihrem Wege durch das Strauchobst verzweiflungsvoll auf die Röcke ihrer Nichte blickte. »Es macht keinen hübschen Eindruck, wenn ein junges Mädchen wie ein Mann dahinschiebt. Das gibt dir etwas Dreistes, wenn du so losrast und die Leute durch deinen Kneifer anstarrst ...«

»Ein Verbrechen, dessen ich mich nun schon lange schuldig mache, Mrs. Herbert,« meinte Mary. »Ich gehe nie mit Tante Jane aus, ohne eine Predigt zu bekommen, weil ich nicht so gehe, als ob ich Schuhe mit hohen Hacken hätte. Sogar der Oberst hat mich eines Abends deswegen vorgenommen. Er meinte, ein Mann müßte gehen wie ein Pferd und eine Frau wie eine Kuh. Seine Klage bestand darin, daß ich wie ein Pferd ginge. Er sagte: Du, Tante, du gingest, wie es sich gehörte – wie eine Kuh. Keine Frau sollte besonderen Wert auf ein solches Kompliment legen. Das war das erste und einzige Mal, daß Mr. Jack in unserm Hause gelacht hat.«

Mrs. Beatty wurde dunkelrot und bereitete sich auf eine ärgerliche Antwort vor, als der Hauslehrer gerade durch die Gartenpforte schritt und sie offen hielt, um die Damen durchzulassen. Mrs. Herbert dankte; Mrs. Beatty, die ihr folgte, befleißigte sich, ihn möglichst hochmütig anzusehen. Dann aber klappte sie zusammen und bedachte ihn mit einer leichten Verneigung, die er mit einem Lüften des Hutes erwiderte.

»Mr. Jack,« sagte Mary stehen bleibend, »wenn Papa vor mir nach Hause kommt – wollen Sie ihm dann bitte mitteilen, daß ich bei Oberst Beatty bin?«

»Wann erwarten Sie ihn zurück?«

»Nicht vor elf Uhr frühestens. Ich glaube bestimmt, daß ich vor ihm zu Hause bin. Wenn ich mich zufällig doch verspäten sollte ...«

»Ich werde es ihm sagen,« entgegnete Jack.

Mary ging weiter, und er sah ihr nach, bis Mrs. Beattys Wagen verschwand. Dann eilte er ins Haus und brachte einen Haufen Musikmanuskripte in das Zimmer, das die Damen gerade verlassen hatten. Er klappte den Flügel auf und ließ sich davor nieder. Statt aber zu spielen, begann er zu schreiben. Nur dann und wann berührte er die Tasten, um den Effekt einer Sequenz zu prüfen, oder er stand auf und schritt mit zusammengezogenen Augenbrauen im Zimmer auf und ab.

Solchermaßen beschäftigte er sich bis sieben Uhr. Dann hörte er jemand draußen auf der Straße pfeifen und ging in den Garten hinaus. Bald darauf kam er mit einem nicht ganz nüchternen Soldaten zurück, der eine Notenrolle und ein Futteral mit drei Klarinetten unter dem Arm trug.

»Jetzt lassen Sie uns einmal hören, was Sie damit fertigbringen können,« sagte Jack, indem er wieder am Instrument Platz nahm.

»Sie geht scheußlich schnell – was diese Allegropartie ist,« meinte der Soldat, während er sein Notenblatt auf Marys Staffelei anzubringen versuchte. »Geben Sie mal Ihr B an, Herr Doktor.«

Jack schlug den Ton an, und der Soldat blies.

»Die Pianos, die die Damen zur Begleitung beim Singen benutzen, sind immer verdammt niedrig gestimmt,« schimpfte er. »Ich habe den Zug so weit herausgezogen, wie es nur gehen wollte. Warten Sie einen Augenblick, bis ich eine andere Birne in das verdrehte Ding gesteckt habe.«

»Es will mir scheinen, als ob Sie, seitdem ich Sie zuletzt gesehen habe, getrunken haben, anstatt zu üben,« meinte Jack.

»Gott soll mich strafen, Herr Doktor – ich habe den ganzen Nachmittag geübt. Nur auf dem Wege her habe ich ein Gläschen genommen, um mich in Stimmung zu bringen. So, Herr Doktor, nu' bin ich fertig.«

Jack machte sich augenblicklich mit der Klangfülle eines ganzen Orchesters über Marys Piano her. Bald darauf fiel die Klarinette mit einer prächtigen Kadenz ein.

Der Soldat war ein überaus geschickter Spieler; seine Tongebung war sehr fein. Die einzige Veränderung in der Ausdrucksform, die ihm zu Gebote stand – die des Munteren oder Rührenden, befriedigten sogar Jack, der den Soldaten in anderen Dingen bald mit seiner Mäkelei zu quälen begann.

»Halt,« rief er, »das ist ganz und gar nicht der Effekt, den ich herausbringen will. Es ist nicht helltönend genug. Nehmen Sie die andere – versuchen Sie's mit der C-Klarinette.«

»Was, ich soll alle diese B's auf einer C-Klarinette spielen? Das ist ganz unmöglich! Wenigstens soll mich der Teufel holen, wenn ich es kann – nanu – da ist ein Herr, der Sie sprechen will.«

Jack wandte sich um.

Adrian Herbert stand auf der Schwelle und hielt staunend die Klinke der offenen Tür in der Hand.

»Ich habe draußen eine Weile zugehört,« sagte er höflich. »Hoffentlich störe ich nicht.«

»Nein,« entgegnete Jack, »unser Freund Charles hier ist des Zuhörens schon wert, nicht wahr, Mr. Herbert?«

Der Gemeine Charles senkte bescheiden die Augen, ließ seine Sporen klirren, räusperte sich und spuckte zum offenen Fenster hinaus.

Adrian schien weder seine Tongebung noch seine Ausführung zu würdigen – was er aber würdigte, das waren seine aufgedunsenen Züge, seine verschleierte heisere Stimme und sein Kasernenjargon. Da er eine Klarinette und ein rotes Taschentuch auf einem Seidenkissen liegen sah, das er auf einem Basar für Mary gekauft hatte, so blickte er erst mit Widerwillen auf den Soldaten und dann mit wachsender Empörung auf Jack.

»Augenscheinlich ist niemand zu Hause,« bemerkte er kühl.

»Miß Sutherland ist bei Mrs. Beatty und kommt vor elf Uhr nicht zurück,« entgegnete Jack, indem er Adrian mit dem mürrischsten Gesichtsausdruck, der ihm zu Gebote stand, ansah und seine mächtige Stimme nicht im geringsten dämpfte – einen Klang, der dem Künstler immer die Empfindung des Inhaltslosen aufzwang. »Mrs. Beatty und eine Dame, die bei ihr zu Besuch ist, sprachen hier vor und nahmen sie dann mit. Mr. Sutherland ist in Eton und kommt vor Mitternacht nicht wieder. Mein Schüler ist in Cambridge.«

»Hm,« meinte Adrian, »dann gehe ich gleich zu Mrs. Beatty weiter. Ich würde Sie wahrscheinlich auch stören, wenn ich länger bliebe.«

Jack nickte mit dem Kopf und wandte sich ohne weitere Umschweife wieder zu seinem Piano. Charles hatte einen von Marys Pinseln zur Hand genommen und befestigte ihn auf dem Pult gegen das Notenblatt, das sich aufzurollen begann. Dies war das letzte, was Herbert sah, ehe er ging. Während er davonschritt, hörte er, wie die Klarinette mit dem langsamen Rhythmus des Concertos einsetzte; trotz seiner ärgerlichen Stimmung ergriff ihn die Melodie als über alle Maßen schön. Dennoch beeilte er sich, außer Hörweite zu kommen; er empfand eine Art Mißachtung gegen die ganze musikalische Kunst, weil ein halbbetrunkener Soldat ihn in solchem Maße damit zu fesseln verstand.

Ungefähr eine halbe Meile von dem Sutherlandschen Hause gelangte er an eine Pforte, durch die er in einen Blumengarten trat. Ein hochgewachsener Herr mit rotem Haar stand auf dem Wege und rauchte eine Zigarre. Dieser Herr war Oberst Beatty – von dem der Ankömmling erfuhr, daß die Damen sich im Salon aufhielten. Hier fand er denn auch seine Mutter und Mrs. Beatty, die mit einer bunten Wollhandarbeit beschäftigt waren, während Mary in einiger Entfernung von ihnen in einen Band Browning vertieft zu sein schien. Sie konnte sich eines Seufzers der Erleichterung nicht erwehren, als sie ihn eintreten sah.

»Ist dies deine gewöhnliche Besuchszeit?« meinte Mrs. Herbert als Antwort auf das kühle ›Guten Abend, Mutter‹ ihres Sohnes.

»Jawohl,« entgegnete er. »Abends kann ich nicht arbeiten.«

Er ging an ihr vorbei und ließ sich am andern Ende des Zimmers zur Seite Marys nieder. Mrs. Beatty warf Mrs. Herbert ein vielsagendes Lächeln zu, worauf diese dann verständnisvoll mit den Achseln zuckte und sich wieder ihrer Wollarbeit zuwandte.

»Was ist geschehen, Adrian?« fragte Mary mit leiser Stimme.

»Warum?«

»Du siehst verstimmt aus.«

»Ich bin nicht verstimmt. Nur bin ich mit der Art und Weise, wie es bei euch während deiner Abwesenheit zugeht, nicht ganz zufrieden.«

»Großer Gott!« rief Mary. »Du auch! Wann werde ich einmal nichts von Mr. Jack zu hören bekommen? Es ist schon schlimm genug, alle Tage mit ihm zusammenkommen zu müssen – ohne daß mir seine Untaten vor morgens bis in die späte Nacht in die Ohren geblasen werden.«

»Ich sollte meinen, Mary, diesem Zustand müßte ein Ende gemacht werden. Ich habe mir oft genug Vorwürfe gemacht, weil ich dich diesen so wenig rücksichtsvollen Menschen habe engagieren lassen. Ich dachte, seine Anwesenheit im Hause könnte dich an sich nicht berühren – und daß seine berufliche Tätigkeit sich lediglich auf Charles beschränken würde. Die unheilvollen Erfahrungen aber, die ich schon hinsichtlich des bloßen stillschweigenden Kontakts eines groben Naturells mit einem feinbesaiteten gemacht habe – die allein hätten mich eines Besseren belehren sollen. Mr. Jack ist nicht die passende Persönlichkeit, mit dir unter einem Dache zu leben, Mary.«

»Vielleicht aber liegt die Schuld auf unserer Seite. Von der Gedankensphäre, aus der ich niemals wünschte herabsteigen zu müssen – davon hat er keine Ahnung. Im übrigen aber haben wir wohl an ihm nichts auszusetzen. Wir können ihn nicht entlassen, weil er keinen Sinn für Bilder hat.«

»Nein – aber ich glaube annehmen zu dürfen, daß er sich in deiner Abwesenheit nicht ganz so gut benimmt, wie wenn du zu Hause bist. Heute abend zum Beispiel, als ich bei euch ankam – da ging ich natürlich geradenwegs ins Haus. Die Töne einer musikalischen Abendunterhaltung, die offenbar im Gange zu sein schien, schlugen mir ans Ohr. Als ich ins Zimmer trat, empfing mich eine Flut von Flüchen, die ein betrunkener Soldat unserm Mr. Jack zukommen ließ. Sie waren zusammen im Salon und bemerkten mich anfänglich nicht, da Jack an deinem Piano saß und den Soldaten begleitete, der das Flageolett spielte. Der Kerl benutzte deine Malstaffelei als Notenpult und deinen Spachtel als Beschwerer, um das Notenblatt festzuhalten. Darf Mr. Jack, wenn du aus bist, immer seine militärischen Freunde bei sich sehen?«

»Gewiß nicht!« entgegnete Mary errötend. »So etwas ist ja noch niemals dagewesen! Ich finde Mr. Jack im höchsten Grade unverschämt.«

»Was ist denn los?« fragte Mrs. Beatty, da sie den Unwillen ihrer Nichte bemerkte.

»Nichts, Tante,« entgegnete Mary eilig. »Bitte, sage Tante Jane nichts davon,« fügte sie leise für Adrian hinzu.

»Warum nicht?«

»Ach, sie setzt einem dann fortwährend zu. Ich bitte dich, erwähne nichts davon. Was sollen wir aber dabei tun, Adrian?«

»Mr. Jack kurzerhand einfach entlassen.«

»Aber –. Ja, ich glaube, es bleibt nichts anderes übrig. Die einzige Schwierigkeit besteht nur darin, daß –« Mary zögerte. Schließlich sagte sie: »Ich fürchte nur, er wird es für eine Art Racheakt halten, weil er Charlie gesagt bat, er solle seine musikalischen Ideen nicht von meiner Art zu malen abhängig machen – und weil er meine ganze Malerei über die Achsel ansieht.«

»Er sieht dein Malen über die Achseln an! Soll das heißen, daß er sich dir gegenüber ungebührlich benommen hat? Dann müßtest du ihn augenblicklich entlassen. Mary, solche Bedenken, wie du sie eben ausgedrückt hast, können doch bei dir sicherlich nicht ins Gewicht fallen, nicht wahr?«

Mary wurde wieder über und über rot und erwiderte mit einem Anfluge von Ärger:

»Du hast gut reden, Adrian – Leute nur so ohne weiteres zu entlassen. Müßtest du es selbst tun – du würdest schon merken, wie unangenehm es ist.«

Adrian machte ein ernstes Gesicht und antwortete nicht. Nach einer kurzen Pause des Schweigens erhob sich Mary. Sie ging gedankenlos durch das Zimmer, ließ sich am Klavier nieder und begann zu spielen. Herbert setzte sich nicht zu ihr und hörte ihr nicht zu, wie es sonst seine Gewohnheit war. Er ging hinaus und suchte den Oberst im Garten auf.

»Worüber habt ihr euch denn gezankt, liebes Kind?« fragte Mrs. Herbert.

»Wir haben uns nicht gezankt,« erwiderte Mary. »Wie kommen Sie darauf?«

»Adrian ist ärgerlich.«

»Oh nein – wenigstens wüßte ich nicht, worüber er ärgerlich sein sollte.«

»Und er ist doch ärgerlich! Ich weiß, was Adrians geringfügigstes Achselzucken zu sagen hat.«

Mary schüttelte den Kopf und spielte weiter. Adrian kam nicht eher wieder, als bis sie sich alle zum Abendessen in ein anderes Zimmer begaben. Und dann sagte Mary, sie müsse nach Hause; Herbert erhob sich, um sie zu begleiten.

»Gute Nacht, Mutter,« sagte er. »Ich werde dich morgen besuchen. Ich habe hier in der Stadt ein Zimmer für die Nacht, und ich gehe gleich hin, sobald ich Mary sicher abgeliefert habe.« Er nickte ihr zu; dann verabschiedete er sich durch einen Händedruck von Mrs. Beatty und dem Oberst und verließ mit Mary das Zimmer.

Eine Zeitlang schritten sie schweigend nebeneinander hin. Dann fragte Mary:

»Bist du ärgerlich, Adrian – deine Mutter hat es gesagt.«

Er zuckte zusammen, als ob er einen Schlag erhalten hätte.

»Ich glaube fast, ich kann keine einzige Bewegung machen,« entgegnete er unwillig, »ohne daß mir meine Mutter nicht irgendein unpassendes Motiv unterlegt. Sie verliert keine Gelegenheit, mich zu verunglimpfen und Unheil zu stiften.«

»Sie meint es aber nicht so, Adrian. Es liegt nur daran, daß sie dich nicht vollkommen versteht. Du sagst auch manchmal etwas Häßliches über sie, und ich weiß, daß du nicht unfreundlich von ihr sprechen willst.«

»Entschuldige, bitte, Mary – im Gegenteil, ich will es. Ich hasse alle Art von Heuchelei. Du ärgerst mich damit, wenn du bei mir irgendwelche zärtlichen Empfindungen für meine Mutter voraussetzt. Ich mag sie nicht. Ich würde sie sogar nicht mögen – glaube ich – wenn sie mich gut behandelt und mir die landläufige Achtung entgegengebracht hätte, auf die ich bei meinen Eltern ebensogut Anspruch machen kann wie bei irgend jemand sonst. Unsere Naturen sind völlig entgegengesetzt. Unsere Anschauungen von Leben und Pflicht sind unvereinbar – wir haben nichts Gemeinsames. Das ist die reine Wahrheit, so unangenehm sie dich auch berühren mag. Falls du nicht bereit bist, sie als unumstößlich anzunehmen, so wäre es mir eigentlich lieber, du ließest die Sache fallen.«

»Ich meine, Adrian – ich meine, du tust nicht recht ...«

»Meine liebe Mary, ich glaube nicht, daß du in der Lage bist, mir über Sohnespflichten irgend etwas mitzuteilen, was mir nicht schon im weitesten Umfange bekannt wäre. Für meine Sympathien und Antipathien kann ich nicht – ich muß mich, wenn sie mich befallen, mit ihnen abfinden, ohne Ansehen ihres Herkommens und ihrer Schicklichkeit ... Und soweit die Empfindungen meiner Mutter in Frage kommen, magst du vollkommen beruhigt sein. Meine respektwidrigen Gefühle bieten ihr den Hauptstoff zu ihrer Zerstreuung – den Vorwand, sich über mich beklagen zu können.«

Mary betrachtete ihn nachdenklich und schritt etwas niedergeschlagen weiter. Er blieb plötzlich stehen, wandte sich ihr mit unverkennbarem Ernste zu und begann von neuem:

»Mary – aus einer deiner Bemerkungen entnehme ich, daß du dich mit dem Plan trägst, mich mit meiner Mutter auszusöhnen. Diesen Gedanken mußt du fallen lassen. Ich habe alle meine Bemühungen in diesem Sinne längst erschöpft. Ich habe die wahre Natur der Gefühle, die ich ihr entgegenbringe, so lange zu verbergen gesucht, bis sogar die Selbsttäuschung, die doch die andauerndste Erscheinungsform der Illusion ist, nicht mehr möglich war. Damals hätte ich deine freundliche Vermittelung mit Freuden angenommen. Heutzutage empfinde ich nicht den geringsten Wunsch nach Aussöhnung. Mary, ich habe es ja schon gesagt – wir haben nichts Gemeinsames – ihre Zuneigung wäre mir geradezu eine Last. Und deshalb – denke nicht mehr daran! Sobald du den Wunsch haben solltest, mich in meiner denkbar unliebenswürdigsten Stimmung zu sehen, so bringe den Gegenstand wieder aufs Tapet, und du wirst vom Erfolg im höchsten Grade befriedigt sein.«

»Ich werde ihn vermeiden, da du es so wünschest. Ich möchte nur erwähnen, daß ich von dir in die denkbar peinlichste Lage gebracht worden bin. Du hast es unterlassen, ihr von unserer Verlobung Mitteilung zu machen.«

»Das ist wahr. Es war unüberlegt und rücksichtslos von mir. Ich hatte die Absicht, es ihr zu sagen, aber es bot sich keine passende Gelegenheit. Außerdem – es hat nichts zu bedeuten. Sie hätte mich doch nur einen Hanswurst genannt. Hast du ihr etwas davon gesagt?«

»Jawohl – sobald ich herausgefunden hatte, daß sie schon alles von Tante Jane wußte.«

»Und was hat sie erwidert?«

»Oh – eigentlich nichts. Sie hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß du nicht wohlhabend genug zum Heiraten wärst.«

»Und ihren Glauben verkündet, daß ich niemals wohlhabend werden würde, ehe ich nicht meine Malerei aufsteckte.«

»Sie hat in sehr freundlicher Weise mit mir über alles gesprochen. Sie ist allerdings etwas voreingenommen ...«

»Ja, das weiß ich. Um Himmels willen, laß uns an etwas anderes denken, von etwas anderm reden. Sieh hinauf zu den Sternen. Sie lassen das Himmelsgewölbe wie einen herrlichen Dom erscheinen – jetzt, wo kein Mondschein das Auge von ihnen ablenkt. Und doch – ein großer Künstler mit einer winzigen Elle Leinewand kann unsere Seele ebenso tief rühren wie dieser unendliche Raum voll Luft und Licht.«

»Ja. Die Sache mit Mr. Jack ist mir im höchsten Grade unangenehm, Adrian. Wenn er schon entlassen werden soll, so muß es vor Charlies Rückkehr geschehen – sonst gibt es Zank. Wer soll aber mit ihm sprechen? Es ist recht schwer, an ihm etwas auszusetzen, und Papa wird wahrscheinlich lieber alle möglichen Entschuldigungen für ihn finden, als ihm mit einer Entlassung ins Gesicht springen. Oder – was noch schlimmer wäre – er wird ihm für seine Entlassung einen verkehrten Grund angeben, um eine Explosion zu vermeiden und – ich weiß nicht, wie es kommt – ich möchte lieber irgend etwas tun, als mich dazu herbeilassen, Mr. Jack eine Lügengeschichte zu erzählen. Wäre er ein anderer – es würde mir nichts daran liegen.«

»Ich sehe keinen Grund, warum man seine Zuflucht zur Unwahrheit nehmen sollte. Unwahrheit ist immer widerwärtig, ganz gleich, wem man damit gegenübertritt. Die Abmachung lautet so, daß seine Anstellung mit monatlicher Kündigung von der einen wie von der anderen Seite aufhört. Dein Vater soll ihm einen Kündigungsbrief schreiben. Gründe brauchen nicht angegeben zu werden. Der Brief kann in höflichen Worten abgefaßt sein – mit einem Dank für geleistete Dienste und der einfachen Erklärung, daß Charlies Unterricht in andere Hände gelegt werden soll.«

»Aber es ist doch so unangenehm, ihn einen Monat lang sozusagen mit der Verurteilung zur Entlassung um uns zu haben.«

»Das läßt sich nicht ändern. Dann gibt es eben nur die andere Alternative, ihn wegen unpassenden Benehmens aus dem Hause zu werfen.«

»Das ist unmöglich! Ein Brief ist doch das beste. Ich wollte, wir hätten ihn nie gesehen oder er wäre schon fort. Still – horche einen Augenblick –«

Sie blieben stehen.

Die Klänge des Klaviers schlugen an ihr Ohr.

»Er spielt noch immer,« sagte Mary. »Laß uns umkehren und Oberst Beatty holen; er kann mit dem Soldaten am besten fertig werden.«

»Der Soldat muß längst fort sein,« entgegnete Adrian. »Ich höre nur das Klavier. Laß uns hineingehen. Er überschreitet die Grenze seiner zugestandenen Rechte nicht, solange er allein spielt. Er hat bei seiner Aufnahme ausdrücklich darauf gedrungen.«

Sie gingen weiter. Als sie sich dem Hause näherten, tönten ihnen allerlei seltsame Geräusche entgegen, die sich dem Klange des Klaviers untermischten. Mary zögerte und wäre am liebsten stehengeblieben. Adrian aber schritt mit energischem Gesichtsausdruck eilig weiter.

Mary hatte den Schlüssel zur Gartenpforte. Sie gingen daher auf diesem Umwege hinein. Als sie sich näherten, wurde das Geräusch geradezu ohrenbetäubend. Der Spieler schlug nicht nur auf die Tasten ein, daß das Fenster in seinem Rahmen erzitterte, sondern er brachte auch eine außerordentliche Menge abwechselnder Geräusche mit seinem Kehlkopf hervor. Mary ergriff Adrian am Arm, während sie sich dem Fenster näherten und hineinblickten.

Jack war allein. Er saß am Klavier; seine Augenbrauen waren zusammengezogen, seine Augen glühten, seine Handgelenke sausten auf die Tasten herab und schnellten wieder in die Höhe, und seine mürrischen Gesichtszüge schienen durch einen Ausdruck aufs Höchste gespannter Energie und Begeisterung fast verklärt. Er spielte nach einem Partiturmanuskript und suchte den Mangel eines Orchesters durch eine Nachahmung der einzelnen Instrumente zu ersetzen. Er grunzte und brummte die Fagottentöne, er summte, wenn das Cello die Melodie führte, er pfiff für die Flöten, sang mit rauher Stimme für die Hörner, er brüllte für die Trompeten, quiekte für die Oboen, brachte allerhand unbeschreibliche Geräusche als Imitation der Klarinetten und Trommeln hervor, und markierte jedes Sforzando, indem er den Kopf nach hintenüber warf und mit den Zähnen knirschte. Dann ließ er seine etwas exzentrische Instrumentation fallen und sang mit der ganzen Kraft seiner furchtgebietenden Stimme, bis der Schlußakkord kam, den er mit voller Gewalt anschlug und in jeder denkbaren Umstellung von einem Ende der Klaviatur bis zur anderen wiederholte. Dann sprang er auf und ging mit langen Schritten aufgeregt hin und her. Bei seiner zweiten Wendung bemerkte er Herbert und Mary, die gerade ins Zimmer getreten waren und ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrten. Er fuhr zusammen und glotzte sie selbst völlig fassungslos an.

»Offenbar habe ich das Unglück gehabt, Sie zum zweiten Male zu stören,« meinte Herbert mit unterdrücktem Ärger.

»Nein,« entgegnete Jack mit einer Stimme, die von der übermäßigen Anstrengung etwas geschwächt schien. »Ich habe jetzt ganz allein gespielt. Der Soldat, den Sie vorhin hier gesehen haben, ist längst in seine Kaserne zurück.«

Während er des Soldaten Erwähnung tat, blickte er zu Mary hinüber.

»Sie hätten es gar nicht erst zu bestätigen brauchen, daß Sie gespielt haben,« erwiderte Adrian. »Wir haben Sie schon aus ganz ansehnlicher Entfernung gehört.«

Jacks Wangen glühten wie ein rußgesprenkelter Kupferkessel, und er warf Herbert einige Augenblicke lang einen finsteren Blick zu; dann kam ein Ausdruck von Humor in seine Augen zurück.

»Haben Sie viel von meiner Leistung zu hören bekommen?«

»Wir haben gerade genug davon gehört, Mr. Jack,« meinte Mary, indem sie sich dem Piano näherte, um ihren Hut darauf zu legen. Währenddessen nahm Jack eilig seine Manuskripte fort.

»Ich fürchte, Sie haben mein armes Spinett nicht sonderlich verbessert,« bemerkte sie mit einem kläglichen Blick auf die Tasten.

»Dazu ist ein Klavier nun einmal da,« meinte Jack mit einem gewissen Ernst. »Es mag ja ein wenig gelitten haben – wenn Sie es aber das nächste Mal berühren, so werden Sie fühlen, daß die Hände eines Musikers sich darüber hergemacht haben, und daß sein Herz endlich einmal geschlagen hat.«

Während er dies sagte, sah er sie scharf und durchdringend an; dann wandte er sich wieder zu Herbert:

»Vor einiger Zeit hat Miß Sutherland sich darüber beklagt, mich niemals spielen gehört zu haben. Das hat sie auch nicht, denn sie sitzt gewöhnlich selbst hier, wenn sie zu Hause ist. Und dann mag ich sie natürlich nicht stören. Ich freue mich, weil sie nun endlich eine Vorstellung genossen hat, die – ich versichere Sie – für mein Wesen äußerst charakteristisch ist. Vielleicht ist es Ihnen auch etwas komisch vorgekommen ...«

»Allerdings, der Meinung war ich,« warf Herbert mit sichtbarem Ernst ein.

Der Rest der Erregung schien in Jack noch einmal aufzusteigen.

»Dann habe ich wenigstens das Glück gehabt,« sagte er, »von aller Beobachtung verschont zu bleiben – mit Ausnahme der eines Herrn, der so außerordentlich sachgemäß zu beurteilen weiß, was ein Künstler ist. Wenn ich nicht so gut zu komponieren verstehe, wie Sie malen können, so liegt der Grund hierfür – glauben Sie mir – darin, daß die Kunst, zu der ich mich bekenne, dem Seelenleben eines stark empfindenden Mannes näher liegt als jene andere, mit der die Natur Sie gleichzeitig mit der Gabe des Würdigens und Beurteilens ausgestattet hat. Gute Nacht.«

Einen Augenblick lang sah er die beiden an, dann drehte er sich auf den Hacken um und verließ das Zimmer.

Sie sahen ihm schweigend nach und hörten ihn verstohlen kichern, als er die Treppe hinaufstieg.

»Ich werde Papa veranlassen, ihm morgen zu schreiben,« sagte Mary, sobald sie sich wieder etwas gesammelt hatte. »Kein Mensch auf dieser Welt soll noch einmal Gelegenheit haben, dir in meines Vaters Hause, solange ich hier die Herrin bin, sarkastische Ausdrücke zukommen zu lassen.«

»Davon laß dich nicht bestimmen, Mary. Es liegt nicht in meiner Veranlagung, mich über die alberne und eingebildete Unwissenheit eines andern zu beklagen. Aber gegen dich war er ungezogen.«

»Das ist mir gleichgültig.«

»Mir aber nicht. Ich kann mir keine größere Insolenz denken, als was er über dein Piano gesagt hat. Viele seiner früheren Bemerkungen haben wir als den Ausfluß einer natürlichen Ungehobeltheit hingenommen, für die er nichts konnte. Jetzt bin ich der Meinung, daß er lediglich bösartig veranlagt und unerzogen ist. Dergleichen darf keinen Augenblick länger geduldet werden.«

»Ich habe mir bisher Mühe gegeben, für seine Handlungsweise die denkbar beste Erklärung zu finden und ihn Tante Jane gegenüber zu verteidigen,« meinte Mary. »Jetzt tut es mir sehr leid, daß ich es getan habe. So etwas nennt sich einen Künstler!«

»Musiker maßen sich oft diesen Titel an,« erwiderte Herbert. »Und an einem Übermaß von Bescheidenheit scheint er ja nicht zu leiden. Ich glaube, ich höre deinen Vater die Haustür öffnen. Wenn er es wirklich ist, so brauche ich wohl nicht länger zu bleiben – es sei denn, du wünschest, ich soll ihm von dem Vorgefallenen Mitteilung machen.«

»Oh nein – heute abend nicht. Wir würden ihm nur die Nachtruhe stören. Ich werde es ihm morgen früh selbst sagen.«

Herbert wartete nur, um Mr. Sutherland zu begrüßen, dann küßte er seine Verlobte und suchte seine Behausung auf.


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