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Vierzehntes Kapitel

Während der noch übrigen Wochen der Saison nahm Mary an einer Reihe Unterhaltungen von einer ihr ganz neuen Art teil. Seit ihrer Kindheit hatte sie den Crystal Palace nur zu den klassischen Sonnabendnachmittag-Konzerten besucht. Jetzt verbrachte sie mit Mr. Hoskyn, dessen Schwester und den Kindern den ganzen Nachmittag dort und wartete aufs Feuerwerk. Sie sah Akrobaten, Taschenspieler, singende Negergesellschaften, Panoramen, Ausstellungen von Katzen, Ziegen und Molkereigerätschaften – und sie schämte sich fast vor sich selbst, weil sie sich dabei amüsierte. Zum erstenmal in ihrem Leben kam sie in einen Zirkus, in ein Variété und zu athletischen Sportveranstaltungen. Dann fuhr sie auf einem billigen Ausflüglerdampfer die Themse bis Hampton Court hinauf und gönnte hier den Bildern im Schlosse kaum einen Blick, beschäftigte sich vielmehr lediglich mit anderen interessanten Dingen, die sie bei früheren Besuchen übersehen hatte. Zu guter Letzt ging sie sogar in Madame Tussauds Raritäten- und Wachsfigurenkabinett.

Hoskyn hatte alle diese Ergötzlichkeiten der Kinder wegen in Vorschlag gebracht; und es galt als ausgemachte Voraussetzung, daß Mary und Mrs. Phipson, indem sie sich daran beteiligten, dem guten Onkel Johnny aus Gutmütigkeit behilflich waren, den kleinen Phipsons frohe Tage zu bereiten. In der Rolle des Onkel Johnny ging Hoskyn im Hause seines Schwagers zu allen Stunden ein und aus, so daß sich zwischen ihm und Mary bald ein recht ungezwungener Verkehr entwickelte. Er war in der besten Laune und offenbar mit sich selbst in vollem Umfange zufrieden. Wo es galt, einen Ausflug vorzubereiten, Wagen zu besorgen und zu bezahlen, zufällig leer gebliebene Sitze inmitten eines dichtgedrängten Publikums zu erspähen und sich den Weg zu diesen zu bahnen, die Kinder zu beaufsichtigen und überhaupt bei allen Vorkommnissen so viel wie nur irgend möglich aus seinem Gelde herauszuschlagen – da war er niemals in Verlegenheit noch im Rückstand. Er war sehr ausfragerischer Natur und machte sich jede Gelegenheit zunutze, mit Eisenbahnangestellten, Dampferkapitänen, Droschkenkutschern und Polizisten Gespräche anzuknüpfen, um sich über ihre verschiedenartigen Berufstätigkeiten zu belehren. Wenn diese seine Gewohnheit ihn zu einer zeitweiligen Vernachlässigung Marys verleitete, so belästigte er sie niemals mit Entschuldigungen, sondern erzählte ihr ohne den geringsten Zweifel, daß es sie höchlich interessieren müsse, alles, was er in Erfahrung gebracht hatte. Und es interessierte sie tatsächlich mehr, als sie früher erwartet haben würde, wenngleich dies Interesse sich zuweilen aus der offenkundigen Lügenhaftigkeit der Hoskynschen Gewährsleute herleitete: war er doch für Einzelheiten, die er gelegentlich Anzapfungen verdankte, ebenso leichtgläubig, wie er jeder rechtmäßig begründeten und öffentlich anerkannten Tatsache eine unüberwindliche Skepsis entgegenbrachte. In seiner Gegenwart wurde Mary weder von der Angst gequält, sich von ihrer besten Seite zu zeigen, wie solches bei Herberts zartem Geschmacksempfinden und seiner nervösen Besorgnis für die Aufrechterhaltung ihrer Würde und ihres seelischen Wohlbefindens stets der Fall gewesen war, noch sah sie sich zu der umsichtigen Behutsamkeit gezwungen, die sie im Verkehr mit Jack immer für notwendig erachtet hatte, um jede Verletzung seines anspruchsvollen Wesens zu vermeiden. Jack sowohl wie auch Herbert hatten, ein jeder in seiner Art, etwas für sie Erniedrigendes in ihrem Benehmen gehabt. Hoskyn bewunderte sie, soweit ihre äußere Erscheinung in Frage kam, und sah mit Ehrfurcht zu ihrer Bildung empor, ohne sich selbst dabei, trotz seiner rückhaltslosen Anbetung, darum irgendwie kleiner zu fühlen. Zudem begann sie sich bewußt zu werden, daß sie sich auf Grund der Lehrzeit, die sie bei den zwei Künstlern durchgemacht, das Recht erworben hatte, einem Manne wie Hoskyn gegenüber einen erhöhten Rang als Kennerin moderner Kultur für sich in Anspruch zu nehmen. Als sie gemeinsam die Ausstellung der Academy besuchten, so war er ganz entzückt darüber, daß sie alle Bilder, an denen er Wohlgefallen fand, mit Mißachtung betrachtete. Nach Verlauf einer Stunde hatten sie indes beide des Bilderbesehens genug und schlossen den Tag mit ihrem Ausflug nach Hampton Court ab.

Bei Ende der Saison kam man dahin überein, daß Mr. Phipson für den Monat August mit der Familie nach Trouville gehen sollte. Hoskyn, der sich anzuschließen beabsichtigte, zweifelte keinen Augenblick, daß Mary gleichfalls zur Reisegesellschaft gehören würde, – bis sie den Tag ihrer Abfahrt auf Sir John Porters Landsitz in Devonshire ankündigte. Sie hatte Lady Geraldine Porters Einladung bereits vor einem Monat angenommen. Hoskyn hörte ganz fassungslos zu und trieb sich während des Restes des Tages kopfhängerisch im Hause umher, statt zum Zeitvertreib einen Ausflug in Vorschlag zu bringen. Kurz nach dem Lunch befand er sich allein im Wohnsalon und starrte trostlos zum Fenster hinaus, als Mary eintrat. Sie nahm ohne viel Umschweife Platz und begann zu lesen.

»Hören Sie mal!« sagte er gleich darauf. »Die Sache mit Trouville ist ein glatter Reinfall!«

»Wieso? Ist denn irgend etwas geschehen?«

»Ich meine – daß Sie nicht mitkommen wollen.«

»Damit hat aber auch kein Mensch je gerechnet. Es war doch schon längst abgemacht, daß ich nach Devonshire gehen würde.«

»Ich habe kein Sterbenswort von Devonshire gehört – bis Sie's beim Lunch erwähnt haben. Können Sie nicht irgendeine Ausrede machen – Lady Porter mitteilen, Sie wären Ihrer Gesundheit halber vom Arzt nach auswärts geschickt worden – oder Annie nähme es Ihnen übel, wenn Sie sich ihr nicht anschlössen – oder sonst etwas dergleichen?«

»Aber warum denn nur? Ich will nach Devonshire, und nach Trouville will ich nicht!«

»Oh! Wenn's so steht, dann werden Sie sich wohl von uns trennen.«

»Allerdings. Sie werden sich doch hoffentlich wegen meiner Ausreißerei auch keinen allzu großen Kummer machen, nicht wahr?«

»Das vielleicht nicht. Nur der ganze Witz von der Sache ist futsch.«

»Wie schade!«

»Ich rede in vollem Ernst.«

»Daran kann kein Mensch zweifeln, wenn man Ihr Gesicht sieht. Läßt sich nichts zu Ihrem Trost tun?«

»Mit Verulken jedenfalls nicht. Wozu wollen Sie überhaupt nach Devonshire? Das schlimmste Klima in ganz England für Leute, die auf der Brust nicht ganz sattelfest sind – neblig, naß und feuchte Wärme.«

»Ich bin, Gott sei Dank, auf der Brust ganz sattelfest. Waren Sie schon mal in Devonshire?«

»Nein. Aber ich habe es von Leuten gehört, die jahrelang dort gelebt haben und schließlich fort mußten.«

»Ich bleibe ja nur einen Monat.«

Hoskyn begann die Gardinenschnur um den Zeigefinger zu wickeln. Als er die Quaste zweimal gegen die Fensterbank geschleudert hatte, legte Mary sich ins Mittel.

»Wäre es nicht besser, das Fenster zu öffnen, wenn Sie frische Luft haben wollen?«

»Ich kann Ihnen nur das eine sagen,« entgegnete er, die Quaste fallen lassend, »daß Sie wirklich mit uns kommen könnten!«

»Sehr richtig. Nur gibt es vielerlei, was ich wirklich tun könnte, was ich aber wirklich nicht tun will. Hierzu gehört, Lady Geraldine nicht vor den Kopf zu stoßen.«

»Lady Geraldine soll sich aufhängen! Das heißt, wenn sie Ihre Freundin ist, kann sie's auch bleiben lassen – aber sie hätte Sie ebensogut zu einer andern Zeit einladen können.«

»Mir will es scheinen, als hätten Sie von meiner Abreise nachgerade genug Aufhebens gemacht. Ich fühle mich ungeheuer geschmeichelt, Herr Hoskyn, und bin mir darüber klar, wie schmerzlich Sie alle mich vermissen werden. Und damit wollen wir die Sache fallen lassen.«

»Wann werde ich Sie dann also wiedersehen?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Vielleicht habe ich während der nächsten Saison das Vergnügen. Bis dahin werde ich mich wahrscheinlich in Windsor verkriechen.«

»Wenn Sie damit sagen wollen, daß wir uns auf Bällen und ähnlichen Geschichten treffen könnten, so werden wir uns voraussichtlich überhaupt nicht mehr begegnen. Ich gehe nie auf Bälle.«

»Dann sollten Sie lieber Tanzunterricht nehmen und mit Ihren Gewohnheiten brechen.«

»Nicht zu machen! Es genügt vollkommen, von Ihnen zum Narren gehalten zu werden, ohne daß ich mich selbst dazu herausbilde.«

Mary wurde unruhig. »Ich fürchte, wir kommen wieder aufs alte Thema,« sagte sie.

»Keineswegs. Ich dachte an etwas ganz anderes, Miß Sutherland – –.« Er erhob seine Stimme, die dabei überschnappte und ihn zwang, innezuhalten und sich zu räuspern. »Miß Sutherland – ich hoffe nur, ich werde mir den Kram nicht vermasseln, indem ich zu hastig und, sozusagen, zu sehr Hals über Kopf vorgehe. Wenn Sie aber wirklich und wahrhaftig fort wollen, würden Sie mich dann vielleicht vorher wissen lassen, ob es Ihnen widerstrebt, etwas über die Möglichkeit, Frau Hoskyn zu werden, nachzudenken? Wissen Sie – nur darüber nachzudenken!«

»Ist das Ihr Ernst?« fragte Mary ungläubig.

»Selbstverständlich! Sie können doch nicht annehmen, ich sagte so etwas zum Spaß!«

Mary geriet außer Fassung; innerlich beklagte sie ihr weibliches Unvermögen, mit einem Manne freundschaftlich zu verkehren, ohne sich damit einen Heiratsantrag zuzuziehen. »Ich glaube, wir lassen besser auch dies fallen, Herr Hoskyn,« entgegnete sie. Dann sammelte sie sich wieder und fügte noch hinzu: »Von allen Vorschlägen, die Sie bis jetzt gemacht haben, halte ich diesen für den bei weitem unüberlegtesten.«

»Lassen wir's also fallen, wenn Sie wünschen. Ich habe keine Eile – wenigstens, meine ich damit, will ich Sie nicht zur Eile drängen. Aber nachdenken werden Sie doch darüber, nicht wahr?«

»Halten Sie es nicht für angebrachter, selbst darüber nachzudenken?«

»Ich habe schon darüber nachgedacht seit – warten Sie mal! Seit ich Sie zum erstenmal sah, sind jetzt ungefähr einundzwanzig Tage und zwei Stunden verstrichen. Genau so lang habe ich unaufhörlich darüber nachgedacht.«

»Überlegen Sie sich's noch einmal zum guten!«

»Soll geschehen! Je mehr ich's mir überlege, desto mehr ist es zum guten. Und wenn Sie nur Ja sagen wollten, so soll mich's in diesem Leben nicht mehr gereuen. Gestehen Sie mir eins, Miß Sutherland, haben Sie mich jemals vorbeihauen sehen?«

»Nicht während meiner in einundzwanzig Tagen und zwei Stunden mit Ihnen gemachten Erfahrungen.«

»Einundzwanzig Tage und zwei Stunden. Gut! Ich sage Ihnen, ich haue auch jetzt nicht vorbei. Kümmern Sie sich nicht um meine Aussichten für die Zukunft – halten Sie sich an Ihre eigenen. Wenn Sie's nur mit mir durchhalten können – so verlassen Sie sich darauf, daß meine Familienangelegenheiten ein für allemal erledigt sind. Was meinen Sie also?«

»Ich meine, wir sollten die Sache lieber fallen lassen.«

»Fürs erste?«

»Für immer, wenn ich bitten darf, Herr Hoskyn.«

»Immer ist eine lange Zeit. Ich hab's überstürzt. Immerhin können Sie sich die Geschichte durch den Kopf gehen lassen, während Sie sich in Devonshire amüsieren. Es hat keinen Zweck, daß Sie sich jetzt, wo wir alle auseinandergehen, damit abgeben. Still! Da kommt Annie!«

Durch Mrs. Phipsons Erscheinen wurde Mary daran gehindert, Hoskyns Antrag mit dürren Worten abzuweisen. Während des übrigen Tages schien er seine gewohnte gute Laune wiedergefunden zu haben; er plauderte ungezwungen mit Mary, bemühte sich jedoch, mit ihr nicht allein gelassen zu werden. Als sie sich zur Nachtruhe zurückzog, hatte er noch eine kurze Unterredung mit seiner Schwester, die ihn fragte, ob er Mary etwas gesagt habe.

»Jawohl.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Nicht viel. Sie war etwas verblüfft. Ich weiß sehr gut, daß ich zu früh losgelegt habe. Wir sind uns einig geworden, die Sache in der Schwebe zu lassen. Aber es wird sich schon alles zurechtziehen.«

»Was soll denn das in aller Welt nur heißen – die Sache in der Schwebe zu lassen? Hat sie Ja gesagt oder Nein?«

»An den Hals gesprungen ist sie mir nicht. Eigentlich hat sie sogar Nein gesagt – aber das war nicht ihre wahre Meinung.«

»Nicht an die Wand zu malen! Mich soll's wirklich wundern, wen sie für gut genug hält! Wenn sie nur nicht eines Tages mit ihren Körben zu freigebig umgegangen sein wird!«

»Sie wird mich schon nicht abweisen. Und wenn sie's schließlich täte, so sehe ich keinen Grund, warum du deswegen aus der Haut fahren solltest, da du mir ja von vornherein alle Aussicht abgesprochen hast.«

»Ich fahre nicht aus der Haut. Ich wußte es ganz genau, daß sie dich abweisen würde. Ich fürchte nur, sie wird es noch weiter treiben und schließlich noch schlechter abschneiden.«

»Sie hat mich nicht abgewiesen. Und – merke dir gefälligst, was ich dir sage, Annie – kein Wort zu ihr über die Angelegenheit! Halte deinen Mund! Laß dir auch nicht merken, daß du von meinen Plänen weißt. Verstanden?«

»Du brauchst dich nicht so zu haben, Johnny! Ich denke gar nicht daran, mit ihr darüber zu reden. Mir ist es total schnuppe, ob sie sitzen bleibt oder nicht.«

»Desto besser. Wenn du so etwas fallen läßt, wie weiter treiben und schlechter abschneiden – ich weiß, daß du darauf brennst – dann hat's bei mir geschnappt.«

Fürs erste hörte Mary nichts mehr von Mr. Hoskyns Bewerbungen. Am folgenden Tage verließ sie das Phipsonsche Haus und reiste mit Lady Geraldine nach dem südwestlichen Teil von Devonshire, woselbst Sir John Porter ein großes weißes Landhaus mit einer dorischen Säulenhalle besaß, das mitten in einem von bewaldeten Hügeln umgebenen Parke stand. Schon am dritten Tage begann Mary zu skizzieren – trotz ihrem früheren Entschluß, diese Liebhaberei aufzugeben. Lady Geraldine befaßte sich nach der Abwesenheit während der Saison zu eingehend mit ihrer neuangetretenen Herrschaft über das Hauswesen und die Meierei, als daß sie sich in die Beschäftigung ihres Gastes hätte einmischen können. Eines Abends aber seufzte sie erleichtert auf und sagte:

»Mit unserer Einsamkeit ist es jetzt aus, Mary. Morgen kommt mein Mann. Er bringt Mr. Conolly mit als einen Vorläufer der Invasionsarmee herbstlicher Besucher. Seit mein Gatte einer der Direktoren der Elektromotorgesellschaft geworden ist, ist er wie versessen darauf, hier alles elektrisch zu haben. Nächstens bekommen wir noch zwei Motoren vor den Ponywagen gespannt.«

»Mr. Conolly kommt also in geschäftlichen Angelegenheiten?«

»Er kommt natürlich, um uns einen Besuch abzustatten und sich ein paar freie Tage zu machen. Aber er wird sich natürlich auch ganz zufällig Aufzeichnungen darüber machen, wie das Gut mit seinem Maschinenkram am unpassendsten von unterst zu oberst gekehrt werden kann.«

»Dann ist Ihnen sein Kommen wohl nicht angenehm?«

»Es ist mir gleichgültig. Im Herbst kommen immer so viel Leute her, an denen mir nichts liegt, daß ich gegen die Anstrengung, sie freundlich aufzunehmen, schon abgehärtet bin. Ich habe gern junge Menschen um mich. Mein Mann hat natürlich mit Geschäftsleuten und Politikern zu tun, und er lädt sie alle ein, während der Nachsaison auf vierzehn Tage herüberzuflitzen. Und dann flitzen sie eben herüber. Bis sie wieder fortgehen, ist es fast niemals möglich, sie mit irgendwelchen Mitteln zu unterhaltlichen Zwecken in Gang zu bringen.«

»Conolly scheint es nie nötig zu haben, in Gang gebracht zu werden. Mögen Sie ihn nicht?«

»Er scheint überhaupt niemals etwas nötig zu haben, und darin liegt teilweise der Grund, daß ich ihn nicht mag. Ich habe nichts an ihm auszusetzen – und das ist, glaube ich, noch ein Grund. Seit ich ihn kennen gelernt habe, bin ich gegen menschliche Schwäche unvergleichlich duldsamer geworden. Ich habe Respekt vor dem Kerl – aber ich mag ihn nicht.«

Diesen Conolly kannte Mary als einen Mann, der früher ein ganz obskurer Arbeiter gewesen und dann plötzlich als Erfinder eines Elektromotor benannten Gegenstandes, an dem er zudem viel Geld verdient hatte, berühmt geworden war. Ferner hatte er eine vornehme, in der Gesellschaft wegen ihrer Schönheit bekannte junge Dame geheiratet. Bald darauf war sie mit einem Herrn ihrer Kreise, der ihr von jeher nahegestanden, durchgebrannt. Conolly hatte sich scheiden lassen, seine Junggesellengewohnheiten wieder aufgenommen und dabei so wenig Herzenskummer zur Schau getragen, daß viele, die seine gewesene Frau kannten, ihm mit Mißtrauen und Abneigung begegneten; sie waren der Ansicht, daß er nicht der Mann dazu sein konnte, einer jungen Frau, die sich in ihren väterlichen Kreisen an die zartfühlendste Aufmerksamkeit und ritterlichste Höflichkeit gewöhnt hatte, ein Heim zu schaffen. Selbst solche Frauen, deren Sympathie er durch Vorspiegelung von Herzenskummer keine Schranken auferlegen würde, schlugen sich insofern auf die Seite seiner Exgattin, daß sie es als besser zugaben, wenn er sie niemals geheiratet hätte. So viel von seiner Lebensgeschichte war Mary aus dem allgemeinen Gerede zu Ohren gekommen, und sie hatte ihn in der Londoner Gesellschaft mehrfach getroffen.

»Ich kann ihn ganz gut leiden,« entgegnete sie auf Lady Geraldines letzte Bemerkung. »Nur ist er eine Art unwiderlegbarer Persönlichkeit. Und ich zweifle stark, daß es ihm irgend etwas ausmachen würde, ob die ganze Welt ihn liebte oder haßte.«

»Stimmt! Kann man sich also etwas Unliebenswürdigeres denken? So ein Mann sollte Richter sein oder Scharfrichter.«

»Schließlich ist er aber auch nur ein Mensch und muß irgendwelches Empfinden haben,« meinte Mary.

»Dann sollte er's wenigstens zeigen,« erwiderte Lady Geraldine.

In diesem Augenblick trat ein Diener ein und brachte die Abendpost. Auch für Mary befanden sich einige Briefe darunter – insbesondere einer, dessen Adresse mit einer schlanken Geschäftshand geschrieben war, deren sie sich nicht erinnerte. Sie öffnete sie zerstreut und dachte dabei im stillen, daß ein wenig nähere Bekanntschaft mit Herbert und Jack bei Lady Geraldine rasch alle Einwände gegen Conollys gewaltige Selbstbeherrschung verflüchtigen würde. Dann begann sie zu lesen. Ein Brief war von Miß Cairns, die sich in einer Wasserheilanstalt in Derbyshire aufhielt. Ein anderer kam von ihrem Vater, der sich über ihre gute Ankunft in Devonshire freute, ihr einen angenehmen Aufenthalt wünschte, die Gewißheit aussprach, daß die Landluft ihr gesundheitlich förderlich sein würde, fürs erste ihr nichts Neues mitzuteilen hatte und demnächst wieder schreiben wollte. Der dritte, lange, in der unbekannten Handschrift verfaßte Brief, fesselte ihre Aufmerksamkeit.

Langham-Hotel, London W., 10. August.

Liebe Miß Sutherland!

Ich bin auf ein paar Tage von Trouville hierhergefahren und habe Annie mit den Kindern dort im besten Wohlsein zurückgelassen. Ich wurde durch ein Telegramm unserer Direktion zurückberufen, und jetzt, wo ich das Geschäftliche erledigt habe, weiß ich nichts anderes zu tun, als in diesem großen Kasten von einem Hotel herumzutrödeln, bis ich's wieder über mich kriege, nach Trouville zurückzufahren. Ich vermisse das Phipsonsche Haus sehr. Drei-, viermal am Tage will ich mich dorthin auf den Weg machen und vergesse ganz, daß ja niemand im Hause ist – falls Annie nicht, wie vor zwei Jahren, die Katze eingeschlossen und verhungern lassen hat. Sie können sich nicht vorstellen, wie öde mir London vorkommt. Das Hotel ist voll von Amerikanern, und ich bin mit den meisten flüchtig bekannt geworden, bin aber darum doch nicht besser daran. Etwas oder jemand hat eine leere Stelle in dieser Weltstadt zurückgelassen, die alle Amerikaner dieser Erde nicht auszufüllen vermögen. Heute abend nach dem Diner war mir besonders traurig zumute. Zu dieser Jahreszeit gibt es keine Stücke, die des Ansehens wert sind. Und selbst wenn es welche gäbe, macht es mir kein Vergnügen, allein ins Theater zu gehen. Ich habe mir's in letzter Zeit ganz abgewöhnt und mir ist auch nicht danach, als ob ich mir's jemals wieder angewöhnen könnte. Und da dachte ich mir denn, daß ich die Zeit wohl nicht schöner verbringen könnte, als wenn ich Ihnen schriebe.

Sie erinnern sich doch noch – ich hoffe es wenigstens – an eine gewisse Unterredung, die wir am 2. cr. gehabt haben. Ich habe mich einverstanden erklärt, nicht vor Ihrer Rückkehr von Lady Porters Landsitz auf die Angelegenheit zurückzukommen. Ich war damals so verwirrt, weil ich Ihnen gegenüber früher als ich eigentlich beabsichtigte, mit der Sprache heraus mußte, daß ich mir seitdem immer im Zweifel bin, ob ich Ihnen die Sache auch richtig klargelegt habe. Ich fürchte, ich war in meinen Äußerungen etwas unbestimmt. Und wenn es bei solchen Anlässen nicht gut tut, gar zu geschäftsmäßig vorzugehen, so besitzen Sie doch ein Recht darauf, Sinn und Wert meines Anerbietens bis auf den kleinsten Bruchteil zu wissen. Ich halte Sie für zu vernünftig, als daß Sie annehmen könnten, ich befaßte mich jetzt mit Einzelheiten aus Mangel an jener althergebrachten schönen Empfindung, die bei allen solchen Dingen die Hauptsache bleibt – oder vielleicht, um noch eine Art Extra-Beweggrund als Zusatz hinzuzufügen. Wenn es sich nur um Sie allein handelte, so traute ich mir den Schneid zu, Sie, soweit das Geld in Frage kommt, zu bitten, die Augen zu und den Mund auf zu machen. Da jedoch auch andere Interessenten, die später vielleicht auf dem Schauplatz erscheinen könnten, gleichfalls in Betracht gezogen werden müssen, so ist es nicht nur erlaubt, sondern sogar angebracht, auf Zahlen einzugehen.

Soweit ich's übersehe, dreht es sich um vier Punkte. Erstens: Ich bin fünfunddreißig Jahre alt und habe niemand, dessen Lebensunterhalt von mir abhinge. Zweitens: Ich kann Vorkehrungen treffen, daß Sie, falls mir etwas zustößt, mit einem Einkommen von fünfhundert Pfund per annum rechnen dürfen. Drittens: Ich bin in der Lage, einstweilen, ohne mir die Beine auszureißen, tausend Pfund jährlich auszugeben. Viertens: Bei diesen Zahlen ist der Minimalprozentsatz als Kalkulation zugrunde gelegt, und sie setzen das, was ich im Laufe einiger Jahre mit Recht als mein Einkommen annehmen darf, bedeutend unterm Werte an.

Noch näher will ich mit Ihnen auf Geldsachen nicht eingehen, weil ich es durchfühle, daß zwischen uns Handeln nicht am Platze wäre. Sie können sich darauf verlassen, daß es Ihnen an nichts fehlen soll, wenn –!!! Ach, wenn Sie mir doch über die nächsten Worte hinweghelfen wollten! Im Leben sind wir beide sehr gut ausgekommen – wenigstens machte es mir den Eindruck, und Ihnen scheinbar auch. Unsere Geschmäcker passen zueinander wie geschaffen. Sie haben Talente – und ich bewundere sie. Hätte ich selbst welche, so wäre ich eifersüchtig auf Sie – sehen Sie das nicht ein? Wie die Dinge nun einmal liegen, macht's mir das größte Vergnügen, je mehr Sie singen und lesen und malen und Klavier spielen – womit ich nicht gesagt haben will, daß ich diesen Brief nicht schreiben würde, selbst wenn Sie nicht bis drei zählen könnten. Falls Sie also nur dies eine einzige Mal Ihren ganzen Mut zusammen nehmen und Ja sagen wollen, so lassen Sie mich dafür sorgen, daß Sie's nicht zu bereuen haben werden.

Je bälder Ihre Antwort kommt, desto schneller hat mein Hangen und Bangen ein Ende. Nicht etwa, daß Sie schreiben sollen, ohne sich reichlich Zeit zum Überlegen zu lassen. Bedenken Sie aber auch, daß es mir hundert Prozent länger vorkommen wird als Ihnen.

Ich hoffe, Sie werden's mir nicht verübeln, wenn ich meinen sehnlichsten Wünschen in unbegründeter Weise Nachdruck verliehen habe, und verbleibe, verehrtes Fräulein,

Ihr aufrichtig ergebener
John Hoskyn.

Mary runzelte die Stirn und schob den Brief wieder in den Umschlag. Lady Geraldine beobachtete sie aufmerksam, tat dabei aber, als ob sie sich mit ihrer eigenen Korrespondenz beschäftige.

»Kennen Sie irgend jemand aus Mrs. Phipsons Verwandtschaft?« fragte Mary nach einer Weile zögernd.

»Nein,« entgegnete Lady Geraldine mit einiger Herablassung. Dann verbesserte sie sich schnell, da sie sich erinnerte, daß Mrs. Phipsons Tochter Marys Schwägerin war. »In Australien und Columbien hat sie sehr reiche Brüder,« fügte sie hinzu. »Der jüngste ist mit meinem Mann befreundet. Er gehört zur Conolly-Gesellschaft und soll ein sehr gewiegter Geschäftsmann sein. Das waren sie, glaube ich, alle. Außerdem waren noch zwei Schwestern da. Lizzie und Sarah. Ich erinnere mich noch an Lizzie, wie sie genau so aussah wie jetzt die Frau ihres Bruders Dick. Während ihrer ersten Saison heiratete sie einen großen Juwelenhändler in Cornhill. Alles in allem eine wundervolle Familie. Sie verdienen Geld, sie heiraten Geld, sie schieben sich gegenseitig hin, wo Geld zu verdienen und zu erheiraten ist und schlagen überall einen Nagel ein.«

»Gehören sie zu der Sorte von Leuten, mit denen Sie gern verkehren?«

»Was meinen Sie damit, liebes Kind?«

»Genau, was ich sage,« entgegnete Mary lachend. »Halten Sie also zum Beispiel Mrs. Phipsons Brüder und Schwestern für wirklich vornehme Herren und Damen?«

»Ob die Onkel und Tanten von Dicks Frau vornehme Herren und Damen sind?«

»Lassen wir Dick aus dem Spiele. Ich habe meine Gründe, wenn ich frage.«

»Na, dann muß ich sagen, es ist wohl für jedermann zur Genüge ersichtlich, daß sie im früher landläufigen Sinne keine wirklich vornehmen Herren und Damen sind. Was hat das aber heutzutage noch zu bedeuten? Solang ich zurückdenken kann, haben reiche, aus der Mittelklasse hervorgegangene Geschäftsleute in der Gesellschaft ihren Willen durchgesetzt und auch in jeder anderen Hinsicht. Selbst wenn wir wieder auf die wirklich vornehmen Herren und Damen zurückgreifen wollten – auf die Dauer könnten wir's mit ihnen nicht aushalten. Sehen Sie sich doch die hier in der Grafschaft ansässigen Menschen an – entweder geistlose Leute mit affektierten Manieren oder eigensinnige Leute mit gar keinen Manieren. Jeder Kreis scheint einem immer der schlimmste, bis man's mit einem andern versucht.«

»Darin stimme ich ganz mit Ihnen überein – ich meine, wegen Hoskyns,« erwiderte Mary. Und dann sprach sie von etwas anderm. Abends aber, als sie Lady Geraldine gute Nacht wünschte, händigte sie ihr Hoskyns Brief ein: »Lesen Sie das – und sagen Sie mir morgen, was Sie davon halten.«

Lady Geraldine las das Schreiben im Bett und lag nachdenkend eine halbe Stunde länger als gewöhnlich wach. Am nächsten Morgen erhielt Mary, ehe sie ihr Zimmer verließ, folgende Zeilen:

»Mein Mann kommt mit dem Dreiuhr-Zug. Nachher können wir plaudern – wenn ich für ihn und Conolly gesorgt und den Kopf frei habe. G. P.«

Hieraus entnahm Mary, daß sie auf die Angelegenheit mit Mr. Hoskyn nicht eher zurückkommen sollte, als bis Lady Geraldine sie dazu aufforderte. Beim Frühstück wurde keine Anspielung auf ihn gemacht – nur daß sie beide auflachten, als sie einander zufällig anblickten. Gleich darauf aber wurde Lady Geraldine ernster als gewöhnlich und begann von ihrer Meiereiwirtschaft zu sprechen.

Um drei Uhr langte Sir John Porter an. Ein weißhaariger Mann von mächtiger Gestalt und mit einem Doppelkinn. In seiner Begleitung befand sich ein jüngerer Herr im grauen Anzug.

»Da wären wir also endlich!« meinte Sir John, als sie die dorische Säulenhalle durchschritten.

»Daheim,« fügte Conolly mit sichtlicher Befriedigung hinzu. Lady Geraldine, die zur Begrüßung anwesend war, warf einen raschen, prüfenden Blick auf ihn; sie fühlte sich als Gastgeberin von seinem Wort geschmeichelt. Der Gedanke an das aber, was er aus seinem Heim gemacht hatte, ließ die sympathische Regung sofort wieder erkalten. In seiner Gegenwart versagte ihre gewohnte aufrichtige Herzlichkeit und ihr Reichtum an rasch erkennendem Urteilsvermögen. Sie war schweigsam und peinlich höflich, und hieraus ersahen Sir John und Mary, daß sie unter dem Zwange einer intensiven Abneigung gegen ihren Gast stand.

Während des Spätnachmittags erbat er die Erlaubnis, die landwirtschaftlichen Anlagen in Augenschein nehmen zu können, und erkundigte sich, ob in der Nähe fließendes Wasser vorhanden sei. Sir John bot ihm seine Begleitung an; er lehnte jedoch ab, und zwar mit dem Bemerken, daß ein Ingenieur bei seiner beruflichen Tätigkeit der denkbar schlechteste Gesellschafter sei. Als er gegangen war, entrang sich Lady Geraldines Brust ein tiefer Seufzer der Erleichterung. Sie fand ihre gute Laune wieder und folgte ihrem Gatten alsbald ins Bibliothekzimmer, woselbst eine längere Unterredung zwischen ihnen stattfand. Als die Lady diese zu ihrer Zufriedenheit abgeschlossen hatte und schon im Begriff stand, das Zimmer wieder zu verlassen, rief sie ihr Gatte, der am Schreibtisch saß, noch einmal zurück.

»Liebe Geraldine,« sagte er sanft nach einigem Hüsteln.

Sie schloß die Tür und wartete auf das Folgende.

»Ich dachte nur,« begann Sir John zögernd, indem er sich lächelnd mit den Fingern durch den Bart strich, »während ich mit ihm hierher fuhr – daß er vielleicht in dieser Richtung eine Neigung fassen könnte.«

»Wer?«

»Conolly, liebe Geraldine.«

»Unsinn!« entgegnete sie barsch. Er lächelte entschuldigend. »Ich wollte damit sagen,« fügte sie gleichsam begütigend hinzu, »daß er doch schon verheiratet ist.«

»Er kann aber wieder heiraten.«

»Und außerdem ist er kein Mann von Stand.«

»Was das anbelangt,« entgegnete Sir John mit wohlwollendem Humor, »so waren wir, glaube ich, soeben übereingekommen, daß dies nichts zu sagen hätte.«

»Ganz richtig. Nun ist aber Conolly ein Mann von größerer Bildung als Hoskyn. Die ganze Sache ist natürlich nur eine Idee von mir – und ich gebe gern zu, daß du sehr recht tust, wenn du sie von der Hand weist. Da aber Mary nun einmal ein Mädchen mit verfeinerter Geschmacksrichtung ist – für Kunstdinge und Ähnliches – so dachte ich mir, sie könnte allenfalls zu einem ausgemachten Geschäftsmenschen nicht sonderlich gut passen. Hoskyn ist schließlich nichts anderes als ein amerikanisierter Commis voyageur.«

»Conolly ist auch Amerikaner. Darauf kommt es ja auch nicht an. Conolly hat aber seine Frau schlecht behandelt – und das genügt mir. Ich bin fest davon überzeugt, daß er jede Frau unglücklich machen würde.«

»Wenn er's wirklich getan hat – –«

»Aber, Teuerster, weißt du denn das nicht ganz genau?« unterbrach Lady Geraldine. »Das weiß ja jedes Kind!«

Sir John lenkte friedfertig ein. »Man erzählt's wenigstens,« gab er zu. »Ich fürchte selbst, er ist ihr nicht das gewesen, was er ihr hätte sein sollen. Sie war ein reizendes Geschöpf – große Schönheit und, wie ich immer meinte, ausgeprägter Rechtlichkeitssinn. Man kann eben nie wissen! Aber du hast wie gewöhnlich recht, Dinchen. Es ginge nicht.«

Lady Geraldine verließ das Bibliothekzimmer, um sich für das Diner umzuziehen; ihre Gedanken waren durch die Möglichkeit, die Sir John angedeutet hatte, etwas verwirrt. Beim Essen beobachtete sie Conolly und machte dabei die Bemerkung, daß er sich hauptsächlich mit Mary unterhielt und von allen ihren Lieblingsthematen mehr zu wissen schien, als sie selbst. Nachher, im Salon, fragte Mary ihn, ob er Klavier spiele. Da er dies bejahte, sah Lady Geraldine sich gezwungen, ihn um eine Darbietung anzugehen. Auf allgemeines Ersuchen gab er einige von Jacks Kompositionen zum besten – viel ruhiger und gewissenhafter, als Jack selbst sie spielte. Dann veranlaßte er Mary zum Singen und war über ihre deklamatorische Vortragsweise, die Lady Geraldine fast ebenso auf die Nerven fiel wie sonst Mrs. Phipson, aufs höchste verwundert. Schließlich sang er selbst zu Marys Begleitung; anfänglich wirkte sein voller Bariton versöhnend auf Lady Geraldine, rief dann aber durch die sehr ausdrucksreiche Wiedergabe einer Serenade ihr Mißtrauen wach, insofern sie diese im stillen als eine kaltblütige Heuchelei bezeichnete. Sie gelangte sogar zu der Überzeugung, daß er sich mit Vorbedacht bemühe, Marys Sympathie wachzurufen, um sie dann zu seiner zweiten Frau zu machen. Bald darauf ging Conolly mit Sir John ins Freie, der nach dem Essen in der Säulenhalle zu rauchen pflegte und sich freute, wenn ihm jemand dabei Gesellschaft leistete.

»Gott sei Dank!« rief Lady Geraldine. »Ritter Blaubart ist fort – und wir können endlich ruhig plaudern!«

»Warum Ritter Blaubart?« meinte Mary lachend. »Sein Bart ist braun. Ist er denn mehr als einmal verheiratet gewesen?«

»Nein. Aber merken Sie sich meine Worte – er wird mindestens ein halbes dutzendmal heiraten. Und er wird alle seine Frauen umbringen, wenn sie nicht davonlaufen, wie es die arme Marian gemacht hat. Solang er aber uns nicht heiratet, kann er's halten, wie er will. Die brennende Tagesfrage lautet: was werden Sie Mr. John Hoskyn antworten?«

»O weh!« seufzte Mary mit düsterer Miene. »Mr. John Hoskyn soll warten. Ich wollte, er wäre in Amerika.«

»Und warum?« fragte Lady Geraldine mit nachdrücklicher Hartnäckigkeit.

»Weil ich meinen Aufenthalt hier genießen und mit seinen Anträgen nicht behelligt werden will.«

»In fünf Minuten haben Sie ihm geantwortet – und dann können Sie Ihren Aufenthalt bei mir genießen, als ob er wirklich in Amerika wäre.«

»Das ist richtig. Nur dauert es viel länger als fünf Minuten, einen Brief aufzusetzen, der ihm nicht gar zu weh tut.«

»Ich könnte Ihnen einen sehr vernünftigen Brief aufsetzen, der ihm gar nicht weh täte.«

»Wollen Sie wirklich? Ich wäre Ihnen sehr dankbar. Anträge zurückzuweisen, ist mir höchst widerwärtig.«

»Mary! Sie werden doch in dieser Angelegenheit keine Albernheiten machen!«

»Soll das heißen,« entgegnete Mary erstaunt, »daß Sie mir raten, ihn zu nehmen?«

»Ganz entschieden.«

»Gestern abend haben Sie aber erst gesagt, er wäre kein Mann von Stand.«

»Ach was – Mann von Stand! Alles Unsinn! Was ist überhaupt ein Mann von Stand? Wer ist heutzutage ein Mann von Stand? Ist Mr. Conolly, der Ihnen so ausnehmend gut zu gefallen scheint –« Mary riß die Augen auf – »ist der ein Mann von Stand? Oder vielleicht Jack?«

»Halten Sie Mr. Herbert nicht für einen Mann von Stand?«

»Ja – das gebe ich zu. An den hatte ich nicht gedacht. Ich ziehe aber aus den Erfahrungen, die Sie mit ihm gemacht haben, den Schluß, daß ein Mann von Stand lediglich als solcher Ihnen ganz und gar nicht genügt. Haben Sie irgendwelchen Widerwillen gegen Hoskyn?«

»Nein. Ich hege aber gleichzeitig gegen keinen Mann einen unbedingten Widerwillen – und ich kenne deren nahezu hundert.«

»Gibt es einen, der Ihnen lieber ist?«

»N – nein. Ich rede natürlich nur von solchen, die ich allenfalls heiraten könnte. Indes will das an sich auch nicht viel sagen. Wenn ich erführe, daß er für immer außer Landes ginge, so würde mich das eher angenehm als anders berühren.«

»Jawohl, liebes Kind – ich weiß sehr gut, wie unliebsam es ist, zu einem Entschluß gedrängt zu werden. Mit dem Aufschieben erreichen Sie aber auch nichts. Ich habe mit meinem Mann über Hoskyn gesprochen. Alles, was er mir von ihm gesagt hat, ist im höchsten Grade empfehlenswert.«

»Davon bin ich überzeugt. Ehrenhaft, wohlhabend, glänzende Zukunft, hängt mit aufopfernder Zärtlichkeit an mir, rechnet die Zahlen bis zum Minimalprozentsatz heraus und dergleichen mehr.«

»Mary!« meinte Lady Geraldine ernst. »Habe ich einen einzigen dieser Punkte Ihnen gegenüber erwähnt?«

»Nein,« entgegnete Mary etwas verdutzt. »Ich wußte aber nicht, in welchem andern Lichte Sie ihn sehen könnten.«

»Im denkbar besten Lichte – dem eines bequemen Ehemannes. Ich lebe in steter Angst um Sie, daß Ihre Liebe zur hohen Kunst Sie verleiten könnte, einen dummen Streich zu begehen. Wenn Sie erst meine Erfahrungen hinter sich haben, daß Genialität einen Mann ebensowenig zum Gatten geeignet macht wie ein schönes Äußere, oder feine Manieren – oder vornehme Geburt oder sonst noch etwas, was man in Romanen findet.«

»Aber Mangel an Genialität ist noch viel weniger ein Befähigungsnachweis.«

»Genie, Mary, ist ein unumstößlicher Unfähigkeitsbeweis. Genies sind krankhafte, unduldsame, übelnehmerische, bis zur Bewußtlosigkeit von sich eingenommene Menschen, die von ihren Frauen erwarten, sie sollen Engel sein und keinen andern Daseinszweck haben, als ihre Männer zu hätscheln und anzubeten. Selbst im besten Falle sind sie keine Leute, mit denen sich behaglich leben läßt. Der vollkommene Ehemann aber ist der, mit dem man bequem leben kann. Sehen Sie sich die Sache doch mal vom praktischen Standpunkt an. Meinen Sie denn, Sie unkluges Kind, ich bin nun ein Haar weniger glücklich, weil mein Mann einen Raffael nicht von einem Redgrave unterscheiden kann oder den neuesten Walzer kaltlächelnd für etwas Unverfälschtes von Bach in b-moll hinnehmen würde? Unser beider Geschmäcker sind grundverschieden. Und wenn ich die Wahrheit sagen soll – bei unserer Heirat war ich ebensowenig romantisch in ihn verliebt wie Sie jetzt in Hoskyn. Trotz alledem – nennen Sie uns doch, bitte, ein zweites glückliches Paar, wie wir eins sind. Da beklagt sich Belle Saunders, weil sie mit ihrem Mann ›nichts gemein‹ hat! Was das für Gewäsch ist! Als ob nicht alle in derselben Welt lebenden Wesen mehr gemein haben müßten als nicht gemein! Erst recht also Ehemann und Ehefrau, die im selben Hause wohnen, auf demselben Einkommen und mit denselben Kindern. Mein Gott, ich habe ja sogar mit Macalister, meinem Gärtner, etwas gemein. Ich kann Ihnen aber ebensogut ein warnendes – wie ein nachahmenswertes Beispiel anführen. Ich kannte Conollys Frau vor ihrer Heirat sehr genau. Sie war die Art von Frau, von der man unmöglich etwas Schlechtes voraussetzen konnte. In einer Unglücksstunde lernte sie Conolly bei einem Wohltätigkeitskonzert kennen, wo sie beide zu singen versprochen hatten. Er sang natürlich, als ob er ganz aus Sanftmut und Milde bestünde – wahrscheinlich mehr oder weniger, wie er soeben gesungen hat. Was dann kam, war alles die lieblichste Romantik. Er schwärmte für Bücher, Bilder und Musik – genau wie Sie. Er wußte überall Bescheid. Sie war ganz aufrichtig und ganz ehrlich – und er ein Muster von Untadelhaftigkeit. Ein Genie war er außerdem – sein Ruhm damals noch etwas Neues. Jedermann redete von ihm. Eine Heirat mit so glänzenden Aussichten hat es nie gegeben. In ganz England war sie das einzige seiner würdige weibliche Wesen – er der einzige ihrer würdige Mann. Kurz und gut – sie heiratete ihn trotz der klar zutage liegenden Tatsache, daß er mit allem seinem Genie der denkbar ungemütlichste Patron ist. Zwei Jahre hat sie's mit ihm ausgehalten – dann ist sie mit einem arroganten Esel auf und davon gegangen, der sich ihr durch nichts empfehlen konnte als durch seine imposante Erscheinung und eine weitgehende Unähnlichkeit mit ihrem Manne. Seitdem hat man nie wieder etwas von ihr gehört. Hätte sie einen häuslichen Menschen geheiratet wie Hoskyn, sie wäre heute eine zufriedene Frau und Mutter. Sie war eben ganz wie Sie. Sie bildete sich ein, wenn sie sich einen Mann nähme, so wäre das soviel, als wenn man sich einen Herrn aussucht, mit dem man sich über Kunstkritik unterhalten kann.«

»Ich glaube, ich inseriere besser: Gesucht ein bequemer Ehemann. Bewerber brauchen keine äußeren Vorzüge, da die Dame kurzsichtig ist. Wie prosaisch das aber klingt, Lady Geraldine!«

»Es ist auch prosaisch. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, die Welt wäre keine Bühne, auf der Sie die Heroine darstellen können. Wie alle jungen Menschen brauchen Sie für jeden Schritt, den Sie unternehmen sollen, ein erhabenes Motiv.«

»Das will ich nicht leugnen. Davon abgesehen aber haben Sie vergessen, Ihre Beweisführung auf Herrn Hoskyns Fall anzuwenden. Wenn Leute mit künstlerischen Neigungen ungemütlich sind, dann bin ich auch ungemütlich. Und das wäre also ihm gegenüber nicht fair gehandelt.«

»Das trifft hier nicht zu. Er liebt Sie. Außerdem sind Sie nicht künstlerisch genug, um ungemütlich zu sein. Sie haben Ihrem Vater zu lang den Hausstand geführt.«

»Sie raten mir also allen Ernstes, Mr. Hoskyn zu heiraten?«

Lady Geraldine zögerte. »Mir will scheinen, Sie könnten von mir kaum erwarten, ich sollte die Verantwortung auf mich nehmen, Ihnen zur Heirat mit irgendeinem Manne zu raten. Das ist eins von den Dingen, die man mit sich allein abmachen muß. Jedenfalls aber rate ich Ihnen, sich weder durch eine eingebildete Unverträglichkeit mit Ihrer Geschmacksrichtung noch durch den Umstand, daß er kein Mann von Genie ist, von einer Ehe mit ihm abschrecken zu lassen.

»Ob Conolly mich wohl heiraten würde?«

»Mary!«

»Die Bemerkung war recht wenig jungfräulich,« lachte Mary.

»Es ist eines verständigen Mädchens unwürdig, sich albern zu stellen, Mary. Ich hoffe nur, Sie verbergen unter Ihrem Scherz keinen Ernst. Sollte es doch der Fall sein, so müßte es mir sehr leid tun, Conolly mit Ihnen hier zusammengebracht zu haben.«

»Nicht den geringsten Ernst – ich versichere Ihnen. Aber beste Lady Geraldine, Sie sehen ja ganz erschreckt aus.«

»Ich traue Mr. Conolly nicht recht. Marian Lind hat sich von ihm betören lassen. Einer anderen könnte das gleiche widerfahren – wenn sie nicht zufällig meine Gefühle für ihn teilt. Dann dürfte sie allerdings für völlig außer Gefahr gelten. Er ist ein gefährliches Subjekt. Aber lassen wir ihn jetzt beiseite und kommen wir auf unsere Hauptsache zurück. Soll Herr Hoskyn nun glücklich gemacht werden oder nicht?«

»Ich will überhaupt nicht heiraten. Er kann Miß Cairns haben – die paßt ausgezeichnet zu ihm.«

»Wenn Sie also überhaupt nicht heiraten wollen, liebes Kind, dann hat die Sache ein Ende. Was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt. Sie müssen sich jetzt allein entscheiden.«

Mary bemerkte, daß Lady Geraldine etwas unangenehm berührt war, und sie schickte sich gerade an, eine begütigende Rede vom Stapel zu lassen, als sie einen Stuhl rücken hörte und, da sie aufsah, Conolly im Zimmer erblickte.

»Störe ich?« fragte er.

»Nicht im geringsten,« entgegnete Lady Geraldine würdevoll. Sie maß ihn mit einem strengen Blick, da sie sich nicht darüber klar werden konnte, wie lange er allenfalls schon zugehört haben mochte.

»Wir diskutierten ein sozialwissenschaftliches Thema,« sagte Mary.

»So?« meinte er mit heiterer Miene. »Und sind Sie zu gewichtigen Induktionen gelangt?«

»Zu sehr gewichtigen.«

»Worüber – wenn ich fragen darf?«

»Über die Ehe.« Lady Geraldine trat Mary rasch auf den Fuß und warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Mary hielt Conolly mutig stand, wenngleich sie deutlich fühlte, wie ihr tiefe Röte ins Gesicht stieg.

»Und haben Sie die gebräuchlichen Schlußfolgerungen gezogen?« erkundigte er sich weiter, indem er in ihrer Nähe Platz nahm.

»Worin bestehen die gebräuchlichen Schlußfolgerungen?« meinte Mary.

»Daß die Ehe ein Mißgriff ist. Daß Männer, die ihre Freiheit aufgeben, und Frauen, die ihre Unabhängigkeit opfern, sinnlos handeln. Daß Kinder eine Plage sind. Und dergleichen mehr.«

»Von diesen Schlußfolgerungen haben wir keine gezogen. Wir sind vielmehr von der Voraussetzung ausgegangen, daß die Ehe ein notwendiges Übel ist – und wir besprechen gerade, wie man ihm die besten Seiten abgewinnen könnte.«

»In welchem Punkte Ihre Ansichten natürlich auseinander gingen, nicht wahr?«

»Warum natürlich?«

»Weil Lady Geraldine verheiratet ist und Sie nicht. Darf ich Ihnen vielleicht zu einer Verständigung behilflich sein? Ich eigne mich ganz besonders zu einer solchen Aufgabe, weil ich nicht verheiratet bin und doch schon verheiratet war.«

Lady Geraldine, die ihren Stuhl so gedreht hatte, um ihr Gesicht von ihm abzuwenden, sah sich jetzt um. Er schenkte ihrem stummen Einspruch keine Beachtung und richtete von neuem das Wort an Mary.

»Wollen Sie mir den strittigen Punkt mitteilen?«

»Er ist nicht so übermäßig wichtig,« entgegnete Mary etwas verwirrt. »Wir besprachen nur einige zufällig hingeworfene Bemerkungen. Und da tauchte die Frage auf, ob hervorragende Männer auch hervorragende Ehemänner abgäben. Ich meine damit geistig bedeutende Männer – Geniemenschen, zum Beispiel. Lady Geraldine bestritt es. Sie stellte die Behauptung auf, ein gutmütiger Schafskopf wäre ein besserer Ehemann als ein Cäsar oder Shakespeare.«

»Haben Sie das wirklich gesagt?« wandte Conolly sich lächelnd an Lady Geraldine.

»Nein,« entgegnete sie fast grob. »Schafsköpfe sind nie gutmütig. Besten Falles sind sie nur indolent. Ich behauptete nur, ein Mann könne ohne besondere Bildung auf dem Gebiete der Künste und Wissenschaften ein sehr guter Ehemann sein. Mary schien der Ansicht zuzuneigen, daß eine Persönlichkeit, die vom Malen soviel verstünde wie ein wirklicher Künstler, mit diesem Künstler notwendig sympathisieren und daher eine passende Partie für sie sein müsse – oder für ihn. Darin stimme ich ihr nicht bei. Ich glaube, die Gemeinsamkeit der Geschmacksrichtung in Kunstdingen hat mit dem Eheglück gerade soviel zu schaffen wie eine gemeinschaftliche Vorliebe für Geographie oder Hammelbraten – und keinen Deut mehr.«

»Und keinen Deut mehr,« wiederholte Conolly. »Sie haben vollkommen recht. Heldengestalten eignen sich schlecht zu häuslichen Zwecken. Das ist es doch, was Sie sagen wollen. Vielleicht will Miß Sutherland sich mit nichts Geringerem als einer Heldengestalt zufrieden geben.«

»Nein!« wiederholte Mary. »Ich werde aber niemals zugeben, daß ein Mann nicht mehr wert ist, wenn er als Held gelten darf. Nach Ihrer Ansicht ist sein Wert geringer. Die Frau verachte ich aus ganzem Herzen, die einen albernen Hanswurst heiratet, um in ihrem Heim auf bequeme Weise das Regiment führen zu können. Ich mache das Heldentum nicht zur unerläßlichen Vorbedingung – ich weiß nicht einmal genau, was Heldentum eigentlich ist. Man darf aber, wie ich annehme, von einem Manne mit Recht erwarten, daß er von niedrigen Vorurteilen gegen die Bemühungen der Künstler, das Leben schön zu gestalten, zum mindesten frei ist – und daß er genügend Selbstschulung getrieben hat, damit seine Frau stets auf seine Beherrschung und moralische Rechtlichkeit rechnen kann. Es muß etwas Entsetzliches sein, in konstanter Angst vor kindischen Gefühlsexplosionen des Gatten zu leben – oder fürchten zu müssen, daß er in Fällen, die eine Entscheidung erfordern, nicht wie ein Mann von gesundem Menschenverstand oder von Ehre handeln wird.«

Conolly sah sie verwundert an. Dann stützte er die Hände auf die Knie, lehnte sich etwas zu ihr und sprach mit einer Sachlichkeit, die seinen Worten den weitestgehenden Nachdruck verlieh.

»Haben Sie jemals in der Nähe eines Menschen gelebt, der eine unerschütterliche Seelenruhe besaß – der niemals zögerte, seine Grundprinzipien in die Tat umzusetzen, und niemals von dem durch diese vorgezeichneten Wege abwich – mit einem Menschen, der – ganz abgesehen von dem, was er selbst von sich hielt – für Sie von allen kleinlichen Eifersüchteleien, Reizbarkeiten, von dem allen Durchschnittsmenschen eigenen Afterglauben so vollkommen frei war, daß Sie, soweit Sie seine Lebensauffassung begreifen konnten, von vornherein auf sein untadelhaftes Vorgehen in jeglicher Krise mit derselben Bestimmtheit zählen dürften wie auf das Schlagen einer Uhr?«

»Nein!« rief Lady Geraldine überzeugungsvoll, noch ehe Mary antworten konnte. »Und ich möchte es auch gar nicht.«

»Sie haben stets recht,« sagte Conolly. »Und doch würde solch ein Mann Miß Sutherlands Vorbedingungen erfüllen. Wie Hamlet,« wandte er sich zu dieser, »suchen Sie einen Menschen, der nicht der Leidenschaft Sklave ist. Hoffentlich finden Sie ihn nie – denn, ich versichere Ihnen, er wird Ihnen auf die Dauer nicht gefallen. Er würde einen unvergleichlichen Gott ausmachen – aber einen höchst widerwärtigen Menschen und einen unerträglichen Ehemann. Was könnten Sie einem Manne sein, der sich im vollsten Umfange selbst genug ist? Zuneigung wäre eine Überflüssigkeit, mit der ihn zu behelligen Sie sich schämen würden. Ich kannte früher einmal eine Dame, die ich für die schönste, die verfeinertste, die anständigste ihres Geschlechtes hielt. Diese Dame stieß auf einen Mann, der es gelernt hatte, allein in der Welt dazustehen – eine harte Lehre, die jedoch unbarmherzig jedem gefühlsfähigen, aber unliebenswürdigen jungen Bengel aufgezwungen wird, der sich selbst seinen Weg zu bahnen hat und der weiß, daß es außer dem in seinem Innern keinen Gott gibt, ihm zu helfen. Dieser Mann hatte alles Menschenmögliche verwirklicht, was Ihnen in Ihrem Ideal vom selbstgeschulten Manne vorschwebt. Die Dame aber war jung und – zum Unterschiede von Lady Geraldine – nicht menschenkundig. Statt seiner unerschütterlichen Selbstgenügsamkeit aus dem Wege zu gehen, bewunderte, liebte – und heiratete sie sie. Alles das, was Sie fordern, fand sie bei ihrem Gatten. Sie hatte niemals Grund, seine Launen zu fürchten, an seiner Umsicht oder seiner Ehrenhaftigkeit zu zweifeln. Er brauchte keine Hätschelei, keinen Rat, keine Stütze. Er besaß keine niedrigen Vorurteile gegen die Kunst – er brachte ihr sogar mehr entgegen als sie. Welcher Art ihre Empfindungen für ihn waren – das kann ich nur vermuten. Was ich aber weiß, ist, daß sie aufhörte, ihn zu lieben – derweil um sie her Tausende verheirateter Frauen liebevoll an ihren Männern hingen, die sie beschimpften und schlugen, an albernen Narren, an rohen Patronen, an Trunkenbolden, Halunken, Sklaven der Leidenschaft jeglicher Abart – alle aber schwächlich genug, um von Zeit zu Zeit Zärtlichkeiten und Verzeihung zu bedürfen. Schließlich ging sie auf und davon – und das geschah ihm recht. Dies Modell von einem Ehegatten, der nie die Achtung seiner Frau verspielt, noch jemals durch Wort oder Tat ihre Langmut auf eine Probe gestellt hatte, der verleitete sie damit zu dem Glauben, daß er ohne sie ebenso glücklich sein könnte als mit ihr. Ein Mann, der in sich selbst abgerundet und abgeschlossen ist, der braucht keine Frau. Wenn Sie Ihrem Glück irgendwelchen Wert beimessen, so suchen Sie sich jemand, der Ihrer bedarf, der um Sie bettelt und der – weil Vereinsamung für ihn den Tod bedeutet – niemals aufhören wird, Ihrer zu bedürfen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Jawohl,« entgegnete Mary. »Ich glaube, ich verstehe. Womit nicht gesagt sein soll, daß ich Ihnen beipflichte.«

Sir John trat jetzt, gerade im geeigneten Augenblick, ins Zimmer ein. Er fand Conolly vollkommen bereit, über die Projekte der Gesellschaft zu sprechen, wenngleich die Damen auf diese Weise von jeder Teilnahme und allem Interesse an der Unterhaltung ausgeschlossen blieben. Mary benutzte die Gelegenheit, um sich – nur von ihrer Gastgeberin bemerkt – zu entfernen. Als Sir John sich ins Bibliothekzimmer begab, um einige Papiere zu holen, sah Conolly sich mit Lady Geraldine allein.

»Herr Conolly,« begann sie, wobei sie mit sichtlicher Anstrengung ihren Widerwillen, ihn anzureden, zurückdrängte, »Sie haben, ohne es natürlich ahnen zu können, den unglücklichsten Zeitpunkt gewählt, um Miß Sutherland Ihre Ansichten auseinanderzusetzen. Es liegen Umstände vor, die es als sehr wenig wünschenswert erscheinen lassen, wenn ihre Sinnesweise gerade jetzt gegen die Ehe beeinflußt werden sollte.«

»Ich vermag Ihnen nicht ganz zu folgen,« entgegnete Conolly mit einem herablassenden Selbstbewußtsein, das Lady Geraldine innerlich erbeben machte. »Haben Sie etwas gegen Mr. Hoskyns Bewerbungen?« Sie starrte ihn in sprachlosem Staunen an. »Sie sind, wie ich sehe, über meine Kenntnis der Angelegenheiten dieser jungen Dame verwundert,« fügte er hinzu. »Das überzeugt mich indes nur noch mehr davon, daß Sie Hoskyn nicht kennen. In Geschäftsangelegenheiten kann er zuweilen ein Geheimnis bei sich behalten. In Privatsachen ist er die personifizierte Indiskretion. Jedermann in unseren Bureaus, vom Laufburschen bis zum Präsidenten, ist über den Stand seiner Herzensangelegenheiten unterrichtet.«

»Warum aber haben Sie so gesprochen – wenn Sie das alles wußten?«

Er lächelte über ihren Unwillen.

»Weil ich damals noch nicht wußte, daß Ihnen seine Werbung nicht genehm wäre.«

»Herr Conolly,« entgegnete sie mit dem Bemühen, höflich zu sein, »ich habe durchaus nichts dagegen.«

»Dann verfolgen wir mehr oder weniger denselben Zweck. Ich bin auch dafür. Und da Hoskyn, soviel ich weiß, in den Augen einer jungen Dame von Miß Sutherlands Bildung kaum als Held dastehen wird, so habe ich mir erlaubt, sie darauf aufmerksam zu machen, daß er gerade darum vielleicht umso besser dazu geeignet scheint, sie glücklich zu machen.«

»Dasselbe habe ich ihr gesagt. Wenn Sie aber ein junges Mädchen zur Ehe bestimmen wollen, so halte ich es nicht für sehr weise, einen so unvorteilhaften Bericht Ihres eigenen Ehelebens – –«

»Meines eigenen Ehelebens?«

Lady Geraldine wurde über und über rot.

»Ich wollte sagen,« verbesserte sie sich, »Ihrer eigenen Erfahrungen übers Eheleben – soweit Sie es bei anderen beobachtet haben.« Sie stockte angesichts ihrer etwas wenig stichhaltigen Erklärung und sagte dann: »Ich bitte sehr um Entschuldigung. – Ich fürchte, ich habe aus Unvorsichtigkeit eine schmerzliche Stelle berührt.«

»Nein. Eine Anspielung auf meine Ehe – von Ihnen – schmerzt mich nicht. Ich weiß sehr wohl, daß Ihre Sympathien nicht auf meiner Seite sind. Und der Gedanke, daß sie dort sind, wo sie am meisten verdient und benötigt werden, bereitet mir Freude. Soweit aber Miß Sutherland in Frage kommt, glaube ich nicht, daß meine Worte die von Ihnen befürchtete Wirkung hervorrufen werden. Wie dem aber auch sein mag – was einmal gesagt ist, läßt sich nicht ungesagt machen. Weist sie Herrn Hoskyn ab, so muß ich die Schuld auf mich nehmen. Nimmt sie ihn aber, so mache ich auf meine Stellung als Ihr Bundesgenosse Anspruch.«

»Wenn sie eine Ahnung davon hätte, daß Ihnen während Ihrer ganzen Auseinandersetzung ihre Lage bekannt war – sie würde sehr böse sein.«

»Böse auf mich – ja! Das schadet nichts. Wüßte sie aber, daß Hoskyn mir alles erzählt hat, dann wäre sie auf ihn böse. Und das könnte sehr viel schaden.«

Ehe Lady Geraldine antworten konnte, kehrte ihr Gatte zurück. Bald darauf begab Conolly sich zur Ruhe.

Am folgenden Tage erhielt Mary von Hoskyn einen zweiten Brief, in dem er sie bat, ihre Antwort bis zu einer Aussprache zu verschieben. Er habe mittlerweile eingesehen, daß Angelegenheiten solcher Art persönlich und nicht brieflich erledigt werden müßten. Sobald er sich über das dem Porterschen Landsitze nächstliegende Hotel Gewißheit verschafft hätte, wollte er sich daselbst einfinden und Mary bitten, eine lange Unterredung zu bewerkstelligen. Sie sollte seiner Gegenwart zu Lady Geraldine nicht Erwähnung tun, um sie nicht auf den Gedanken zu bringen, er hoffe auf eine Einladung.

Mary erzwang von Lady Geraldine unverzüglich das Versprechen, ihn nicht einzuladen. Dann faßte sie, um der angedrohten Aussprache aus dem Wege zu gehen, einen raschen Entschluß und schrieb ihm nachstehende Zeilen.

Lieber Herr Hoskyn!

Ich will Sie nicht der Mühe einer Herreise unterziehen, damit Sie allenfalls das persönlich betreiben, was Sie mir in Ihrem ersten Brief so offenherzig dargelegt haben. Und ich glaube, es wird Ihrer Ungewißheit ein erfreuliches Ende bereiten, wenn Sie meinen Entschluß, Ihren Antrag anzunehmen, erfahren. Da indes unser Verhältnis zueinander, wie es sich nunmehr gestaltet hat, nicht derart ist, daß wir es als Gäste in einem befreundeten Hause füglich aufrechterhalten könnten, so rechne ich darauf, daß Sie jeden Gedanken, mich vor meiner Abreise aus Devonshire zu sehen, fallen lassen werden. Meine gesellschaftlichen Pflichten hier sind so umfangreich, daß ich mich, ohne unhöflich zu erscheinen, kaum absondern kann, um einen längeren Brief zu schreiben. Ich nehme an, Sie werden nach Trouville zurückkehren, bis wir uns alle in London treffen.

Inzwischen verbleibe ich

Ihre freundlichst ergebene
Mary Sutherland.

Dies Schreiben verursachte Mary einige Mühe und sie übergab es Lady Geraldine zur Prüfung. »Übermäßig liebevoll ist das nicht,« meinte diese. »Und die Sache mit den gesellschaftlichen Pflichten ist Schwindel. Und nach Trouville soll er, weil er da nicht so oft schreiben wird.«

»Besser kann ich's nicht machen,« entgegnete Mary. »Aber Sie haben eigentlich recht. Ich werde diesen verbrennen, einen andern schreiben und ihn rundweg abweisen.«

»Nein – danke schön! Dieser Brief ist ausgezeichnet.«

Lady Geraldine verschloß das Schreiben eigenhändig und schickte es zur Post.

»Eigentlich tut es mir sehr leid, daß ich den Brief habe abgehen lassen,« äußerte Mary sich im Laufe des Spätnachmittags. »Jetzt habe ich endlich meine richtige Ansicht über Hoskyn herausgefunden. Ich kann ihn nicht ausstehen.«

Lady Geraldine begnügte sich mit einem Lächeln.


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