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Erstes Kapitel.

Es war zur Osterzeit an einem schönen Nachmittag. Kensington Gardens erstrahlten im jugendlichen Frühlingsgrün. Die Stufen des Albert Memorial wurden von Provinzlern belagert, die abwechselnd ihren Führer studierten oder zu dem goldenen Herrn unter dem steinernen Baldachin hinaufstarrten und sich dabei bemühten, die Wirklichkeit mit der Beschreibung in Einklang zu bringen. Ihre Londoner Bekannten verhielten sich völlig gleichgültig gegen Baldachin und Statue und blickten müßig auf die fashionable Fahrstraße zu ihren Füßen hernieder.

Eine besondere kleine Gruppe setzte sich zusammen aus einem alten Herrn, der sich ausschließlich mit dem Memorial beschäftigte, einer jungen Dame, die ihre ganze Aufmerksamkeit dem Reisehandbuch schenkte, und einem jungen Herrn, der die seinige wiederum ausschließlich der jungen Dame zukommen ließ.

Sie sah ganz aus wie ein Weib von Kraft und Intelligenz. Ihre kühn geschwungene Nase, das energische Kinn, der elastische Schritt, die aufrechte Haltung, das resolute Wesen, das dichte schwarze Haar, das am Nackenansatz von einem breiten, hochroten Bande zusammengehalten wurde, ließ solche Leute, denen ihre ganze Erscheinung gefiel, sie auch für auffallend hübsch halten. Die übrigen Leute hielten sie für auffallend häßlich.

Wahrscheinlich würde sie diesen letzteren ihre Ansicht auf Grund des stillschweigend inbegriffenen Zugeständnisses, daß sie wenigstens nicht alltäglich aussah, gern verziehen haben. Ihre Toilette bestand aus einem weiten, schwarzen, mit weißem Pelz verbrämten Mantel und einem breiten Hut, der mit einer roten Feder und auf der Unterseite der Krempe mit seegrüner Seide verziert war, und erwies sich demzufolge als jene besondere Art von Toilette, wie sie wohl von Frauen erstrebt wird, die sich einer nachhaltigen Selbstbildung und der Betonung der eigenen Individualität befleißigen. Sie besaß nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem Vater, dem grauhaarigen Herrn, der das Monument mit eifrigen, wäßrigen Augen betrachtete und von Zeit zu Zeit Ausrufe fragender Bewunderung von sich gab, die der Unsumme galten, die das Memorial wohl gekostet haben mochte.

Der junge Mann, der offenbar an die dreißig Jahre zählte, war schlank, von mittlerer Größe. Sein feinfädiges, blaßgoldenes Haar, das sich stellenweise schon in bräunliches Silber verwandelte, war an den Schläfen, wo es bereits spärlicher zu werden begann, leicht gelockt. Ein kurzer Bart ließ seine Gesichtszüge – die Züge eines Mannes von außergewöhnlich zartem Empfindungsleben und seltener Verfeinerung – markant hervortreten.

Inmitten dieser kleinen Gesellschaft war er der Londoner; und so wartete er denn mit gefügiger Geduld, während seine Begleiter ihre Wißbegier befriedigten.

Es war angenehm, sie zu beobachten, diese drei Leute: er verschlang sie nicht mit seinen Blicken, noch schien sie sich dessen gar zu sehr bewußt, daß ihm die Sonne heller und klarer erstrahlte, weil sie bei ihm weilte. Und doch waren sie augenscheinlich ein junges Liebespaar und so glücklich, wie eben Menschenkinder solchen Alters glücklich zu sein wissen.

Schließlich mußte das Interesse, das der alte Gentleman dem Memorial entgegenbrachte, der Ermüdung weichen, die durch das lange Stehen auf den steinernen Stufen und das angestrengte Aufwärtsblicken hervorgerufen worden war. Er schlug daher vor, eine Bank ausfindig zu machen und das Monument aus geraumer Entfernung weiter zu betrachten.

»Ich glaube, Mary, ich sehe dort unten eine Bank, auf der nur eine Person sitzt,« bemerkte er, während sie auf der westlichen Seite die Stufen hinunterstiegen. »Kannst du erkennen, ob er anständig aussieht?«

Die junge Dame, die etwas kurzsichtig war, versah ihre vorspringende Nase mit einem Kneifer, hob das Kinn und unterzog die Persönlichkeit auf der Bank entschlossen einer eingehenden Prüfung.

Die Persönlichkeit erwies sich als ein untersetzter, breitbrüstiger junger Mann in einem zerknüllten Gehrock und mit einem abgetragenen Hut; Wäsche war schlechterdings nicht ersichtlich. Seine pockennarbige Haut schien schwarz gesprenkelt, als ob er kürzlich in einer Kohlenmine gewesen und noch nicht dazu gelangt wäre, den Kohlenstaub durch Behandlung mit einem nassen Handtuch aus den Poren zu entfernen. Er saß mit verschränkten Armen da und starrte auf den Boden vor sich nieder. Die eine Hand war unter dem Arme verborgen; die andere bot sich den Augen des Beschauers dar – mit wulstiger Handfläche, kurzen Fingern und scharf abgebissenen Nägeln. Er war glatt rasiert, hatte runzlige, resolute Lippen, eine kurze Nase, geschwungene Nasenflügel, dunkle Augen und schwarzes Haar, das sich über seiner niedrigen, breiten Stirn lockte.

»Hübsch ist er auf keinen Fall,« bemerkte die Dame, »aber er wird uns nichts zuleide tun – glaube ich.«

»Das will ich wohl meinen,« entgegnete der junge Mann in ernstem Tone. »Aber ich kann Ihnen auch einige Stühle beschaffen, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Ach, Unsinn, ich habe ja nur gescherzt.«

Während sie sprach, sah der Mann auf der Bank zu ihr auf; in dem Moment, da ihre Augen den seinen begegneten, empfand sie eine unwillkürliche Scheu und Beklemmung. Der vage Ausdruck seines Blicks verwandelte sich in den forschender Beobachtung, die sie mutig und entschlossen zurückgab. Dann überflog er rasch prüfend ihre Kleidung, warf einen Blick auf ihre Begleiter und sank wieder in seine frühere Haltung zurück.

Die Bank bot nur für vier Personen Platz; der alte Herr hatte sich an dem einen leeren Ende zur Seite seiner Tochter niedergelassen, der jugendliche Freund wählte die Stelle zwischen ihr und dem fremden Manne, den sie kurz darauf noch einmal verstohlen beäugte. Er war von neuem aus seiner Träumerei aufgefahren: diesmal galt seine ganze Aufmerksamkeit einem Kinde, das ganz in seiner Nähe einen Apfel verspeiste. Die junge Dame konnte sich beim Anblick seiner Gesichtszüge einer Regung des Unbehagens nicht erwehren. Auch dem Kinde war er aufgefallen; es hielt mit Essen inne und betrachtete ihn mißtrauisch. Er lächelte mit verbitterter, grimmiger Freundlichkeit und senkte seine Augen wieder auf den Kiesweg.

»Es ist sicherlich ein großartiges Stück Arbeit, Herbert,« meinte der alte Herr. »Für dich, einen Künstler, muß es ja geradezu ein Genuß sein. Ich verstehe nicht genug von Kunst, um es in vollem Umfange schätzen zu können. Himmel ja, sind denn all diese Knäufe aus wertvollen Steinen hergestellt?«

»Jawohl, mehr oder weniger wertvoll – ich glaube es wenigstens, Mr. Sutherland,« entgegnete Herbert lächelnd.

»Ich muß noch einmal herkommen und mir's wieder betrachten,« bemerkte Mr. Sutherland, indem er sich von dem Monument abwandte und seine Brille neben sich auf die Bank niederlegte. »Das erfordert ein ausgiebiges Studium. Ich wollte, ich hätte diese Geschichte mit Charlie aus dem Kopf.«

»Sie werden ohne die geringste Schwierigkeit einen Hauslehrer für ihn finden,« entgegnete Herbert. »In London hat man Hunderte davon zur Auswahl.«

»Das schon – aber selbst wenn es tausend wären – Charlie würde bei jedem etwas auszusetzen haben. Die Musik, wissen Sie – darin liegt die Schwierigkeit.«

Herbert fühlte sich durch eine plötzliche Bewegung des sonderbaren Fremden unangenehm berührt und rückte näher an Mary heran.

»Ich meine,« sagte er, »auch die Musikfrage bietet keine sonderlichen Schwierigkeiten. Viele junge Leute, die sich dem geistlichen Stande widmen wollen, sind sehr froh, eine Privatlehrerstelle zu erhalten. Heutzutage erwartet man von jedem Geistlichen einige Kenntnis der Musik.«

»Jawohl,« warf die junge Dame ein, »aber was nützt das alles, wenn Charlie sich ausdrücklich gegen einen Geistlichen verwehrt? In diesem Falle bin ich sogar ganz auf seiner Seite. Die der Gottesgelahrtheit beflissenen Leute sind viel zu einseitig und dogmatisch, als daß sich angenehm mit ihnen leben ließe.«

»Da haben wir's,« rief Mr. Sutherland mit unvermittelter Entrüstung, »jetzt fängst du selbst an, allerhand Schwierigkeiten und Einwände zu machen. Meinst du denn, daß ein Engel vom Himmel herniedersteigen würde, um Charlie zu unterrichten?«

»Das nicht, Papa – ich zweifle nur, ob viel weniger als ein Engel ihm genügen wird.«

»Ich werde mit einigen meiner Freunde über die Angelegenheit sprechen,« sagte Herbert. »Auf eine Woche oder zwei kommt es wohl nicht an, nicht wahr?«

»Oh nein, nicht im geringsten,« entgegnete Mr. Sutherland, indem er nach seinem letzten Gefühlsausbruche eine sichtliche Heiterkeit zur Schau trug. »Wir haben gar keine Eile. Nur soll Charlie sich nicht die Gewohnheiten des Nichtstuns zu eigen machen. Und wenn die Angelegenheit nicht im Einklang mit seinen Wünschen erledigt werden kann, so werde ich meine Autorität zur Geltung bringen und selbst einen Lehrer auswählen. Ich verstehe gar nicht, was er an dem Mann, den wir bei Archidiakonus Downes getroffen haben, auszusetzen hat – kannst du es begreifen, Mary?«

»Ich begreife nur, daß Charlie zu faul zum Arbeiten ist,« entgegnete Mary. Dann wandte sie sich, als ob dieser Gesprächsstoff sie ermüde, dem jungen Herbert zu. »Sie haben uns doch gar nicht gesagt, wann wir in Ihr Atelier kommen und uns Ihre Dame von Shalott ansehen sollen. Ich bin sehr gespannt darauf. Es macht mir gar nichts aus, wenn es noch nicht fertig ist.«

»Aber mir,« entgegnete Herbert, der plötzlich nervös und selbstbewußt wurde. »Ich fürchte. Sie werden unter allen Umständen von dem Bild enttäuscht sein. Jedenfalls aber möchte ich es soweit bringen, wie ich nur irgendwie kann, bevor Sie sie zu Gesicht bekommen. Ich muß Sie also schon bitten, bis nächsten Donnerstag zu warten.«

»Gewiß, wenn Sie es wünschen,« erwiderte Mary in ernstem Tone.

Sie wollte noch etwas hinzufügen, als Mr. Sutherland, der, sobald die Unterhaltung auf das Gebiet der Malerei überzuspringen begann, etwas widerspenstig geworden war, plötzlich erklärte, nun lange genug gesessen zu haben. Sie erhoben sich; Mary wandte sich um und warf noch einen letzten Blick auf den Fremden. Er sah sie mit wirrer Erregung an; seine Lippen waren weiß. Er schien ihr etwas sagen zu wollen, und so ging sie unwillkürlich einen Schritt zurück. Aber er sagte nichts; sie wunderte sich, als er in dieser Niedergeschlagenheit seine frühere Haltung wieder einnahm.

»Ist Ihnen der Mann aufgefallen, der neben uns saß?« fragte sie Herbert im Flüsterton, sobald sie ein Stückchen weiter gegangen waren.

»Nicht besonders.«

»Glauben Sie, daß er sehr arm ist?«

»Jedenfalls scheint er nicht sehr reich zu sein,« erwiderte Herbert, indem er sich noch einmal umsah.

»Ich habe einen seltsamen Ausdruck in seinen Augen aufgefangen. Hoffentlich leidet er keinen Hunger.«

Sie blieben stehen. Herbert ging langsam weiter.

»So schlimm braucht es ja nicht gleich zu sein,« sagte er. »Ich meine, sein Aussehen hätte mich nicht dazu berechtigt, ihm etwas anzubieten – vielleicht ...«

»Oh je, oh je,« rief Mr. Sutherland, »ich bin doch wirklich zu dummerhaft!«

»Was ist denn geschehen, Papa?«

»Meine Brille habe ich verloren. Ich muß sie auf der Bank liegen gelassen haben. Wartet einen Augenblick, bis ich sie hole. Nein, nein, Herbert, danke – ich gehe schon selbst. Ich erinnere mich ganz genau, wo ich sie hingetan habe. Ich bin gleich wieder zurück.«

»Papa merkt sich immer ganz genau, wo er die Sachen hinlegt und dann läßt er sie trotz alledem liegen,« erklärte Mary. »Sehen Sie, der Mann sitzt noch genau in derselben Haltung wie zuerst.«

»Nein, jetzt sagt er etwas zu Ihrem Vater. Er bettelt offenbar, fürchte ich, sonst würde er nicht aufstehen und seinen Hut abnehmen.«

»Entsetzlich!«

Herbert mußte lächeln:

»Wenn er, wie Sie meinen, wirklich hungrig ist, der arme Kerl, so kann ich nichts Entsetzliches darin finden. Es scheint mir nur zu natürlich.«

»So war es nicht gemeint. Ich fand es nur entsetzlich, daß er gezwungen sein sollte, zu betteln. Papa hat ihm nichts gegeben – ich wollte, er hätte es getan. Offenbar will er ihn los werden – und dann weiß er wohl auch nicht, wie er's anfangen soll. Lassen Sie uns noch einmal zurückgehen.«

»Wenn Sie es wünschen,« entgegnete Herbert zögernd. »Aber ich warne Sie – London ist voll von bettelnden Betrügern.«

Währenddessen hatte Mr. Sutherland seine Brille an der Stelle gefunden, wo er sie zurückgelassen hatte. Er nahm sie an sich, wischte sie mit seinem Taschentuch ab und wollte sich gerade wieder zum Gehen anschicken, als er den Fremden, der sich erhoben hatte, vor sich stehen sah.

»Mein Herr,« begann der Mann, indem er seinen schäbigen Hut lüftete; er sprach mit gedämpfter Stimme, aus der etwas ungewöhnlich Machtvolles heraustönte, »mein Herr, ich bin schon Hauslehrer gewesen – und ich bin Musiker. Ich kann es Ihnen beweisen, daß ich ein ehrlicher, anständiger Mensch bin. Ich muß eine Anstellung haben. Einige Worte, die ich soeben aufgefangen habe, geben mir die Hoffnung ein, daß Sie mir vielleicht behilflich sein können. Ich werde ...« Der Mann, dem es sonst an Selbstbeherrschung nicht zu fehlen schien, hielt plötzlich inne, als ob ihm der Atem versage.

Mr. Sutherlands erste Regung bestand darin, dem Fremden rundweg zu erklären, daß er für seine Dienste keine Verwendung hätte. Da aber keine Zuschauer in der Nähe waren und der Mann ihn so eindringlich ansah, so wurde er unruhig und nervös.

»Oh – ich danke Ihnen,« sagte er hastig, »ich habe mich bis jetzt überhaupt noch nicht entschlossen, was ich in dieser Angelegenheit tun werde.« Dann versuchte er, an ihm vorbeizugelangen.

Der Fremde trat sofort beiseite und sagte:

»Wenn Sie die Güte haben wollten, mir Ihre Adresse zu geben, mein Herr, so kann ich Ihnen Zeugnisse zukommen lassen, aus denen hervorgeht, daß ich ein Recht besitze, mich um eine solche Stellung, wie Sie sie angedeutet haben, zu bewerben. Sollten diese Zeugnisse Ihnen nicht genügen, so werde ich Sie nicht weiter belästigen. Oder – falls Sie gütigst meine Karte annehmen wollen, so können Sie sich mit Muße darüber schlüssig werden, ob Sie weiter mit mir in Verbindung treten wollen oder nicht.«

»Gewiß, ich kann ja Ihre Karte nehmen,« entgegnete Mr. Sutherland etwas verwirrt, aber freundlicher. »Ich danke Ihnen. Wissen Sie, ich kann Ihnen dann ja schreiben, falls ich ...«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden.«

Bei diesen Worten zog der Fremde eine Visitenkarte mit dem gravierten Namen Owen Jack hervor, in deren einer Ecke die Adresse: Church Street, Kensington mit kritzliger, aber doch leserlicher Handschrift angebracht war.

Während Mr. Sutherland die Karte zu lesen vorgab, kam seine Tochter mit der Börse in der Hand vor Herbert, dessen Mildtätigkeit sie zuvorkommen wollte, eilig auf ihn zu.

Owen Jack blickte zu ihr auf; sie verbarg eilig die Geldbörse.

»Es tut mir sehr leid, wenn ich Sie aufgehalten habe,« sagte er. »Guten Morgen.« Dann lüftete er seinen Hut noch einmal und entfernte sich.

»Adieu, mein Herr,« rief Mr. Sutherland. »Gütiger Himmel, das ist aber ein unverfrorener Kerl,« fügte er sich sammelnd hinzu; er schämte sich fast, weil er einem ärmlich gekleideten Fremden gegenüber so höflich gewesen war.

»Was wollte er denn, Papa?«

»Es ist doch wirklich wahr, mein Kind – der Mann hat mir gezeigt, daß man in London vor Fremden nicht vorsichtig genug mit dem sein kann, worüber man spricht. Es war ganz zufällig – wirklich der reine Zufall, daß ich, während wir hier vor fünf Minuten saßen, unsere Hauslehrersuche für Charlie erwähnte. Dieser Mann hat uns zugehört, und jetzt hat er sich selbst für diese Stellung angeboten. Wie schnell das geht, nicht wahr? Da ist seine Karte.«

»Owen Jack,« rief Mary, »ein merkwürdiger Name!«

»Hat er denn auch etwas über die Schwierigkeit mit der Musik aufgefangen?« fragte Herbert. »Die Vorsehung scheint Mr. Jack nicht für das Studium der schönen Künste bestimmt zu haben.«

»Ja, auch das hat er gehört. Nach dem, was er selbst sagt, versteht er etwas von Musik – er scheint überhaupt alles zu können.«

Mary wurde nachdenklich.

»Man kann ja nicht wissen,« sagte sie langsam, »vielleicht paßt er für uns. Hübsch ist er ja auf keinen Fall. Aber er sieht nicht unbegabt aus, und wahrscheinlich beansprucht er nur ein geringes Gehalt. Ich finde die Forderung des Mannes, den Archidiakonus Downes empfiehlt, einfach lächerlich.«

»Ich möchte es eigentlich für ein gefährliches Experiment halten, einem Individuum, auf das wir zufällig in einem öffentlichen Park gestoßen sind, einen verantwortlichen Posten zu übertragen,« meinte Herbert.

»Davon kann überhaupt nicht die Rede sein,« entgegnete Mr. Sutherland. »Ich habe seine Karte nur genommen, weil ich ihn so am schnellsten los zu werden hoffte. Vielleicht habe ich auch schon damit unrecht getan.«

»Natürlich, wir müssen uns erst erkundigen,« warf Mary ein. »Ich weiß nicht – es will mir nicht aus dem Kopf, daß der Mann in einer sehr bedrängten Lage ist. Er kann doch ein anständiger Mensch sein – jedenfalls sieht er nicht gewöhnlich aus.«

»Soweit stimme ich ganz mit Ihnen überein,« entgegnete Herbert, »und es tut mir auch gar nicht leid, daß solche Typen recht selten sind. Sie handeln aber sicherlich recht, wenn Sie diesem Mann, der offenbar im Elend ist, behilflich zu sein wünschen.«

»Einen Hauslehrer zu engagieren, ist eine recht gewöhnliche Sache,« meinte Mary. »Aber wir können dabei, sofern es möglich ist, auch etwas Gutes tun. Bei Archidiakonus Downes' Bewerber liegt ein dringendes Bedürfnis nach einer Anstellung nicht vor; er hat Dutzende von Angeboten zur Auswahl. Warum soll man die Stellung nicht demjenigen geben, der ihrer am allernotwendigsten bedarf – was er auch sonst sein mag?«

»Dann ist ja alles in bester Ordnung,« rief Mr. Sutherland. »Laß ihn holen und bringe ihn gleich in einem Zweispänner zu uns – nachdem du dich augenscheinlich entschlossen hast, in dieser Angelegenheit keine Vernunft anzunehmen.«

»Jedenfalls können einige Erkundigungen nichts schaden,« warf Herbert ein. »Wenn es Ihnen recht ist, werde ich die Angelegenheit in die Hand nehmen, um auf diese Weise alle Möglichkeiten eines Besuches von seiner Seite und einer unliebsamen Störung für Sie vorzubeugen. Geben Sie mir seine Karte. Ich werde ihm schreiben, daß er mir seine Zeugnisse und Referenzen schicken soll und dergleichen mehr. Und wenn dann irgend etwas danach kommt, so kann ich sie Ihnen ja einhändigen.«

Mary sah ihn dankbar an und sagte:

»Mache es so, Papa. Laß Mr. Herbert ihm schreiben. Schaden kann es auf keinen Fall, und du hast nicht die geringste Mühe davon.«

»Gegen die Mühe habe ich nichts einzuwenden,« entgegnete Mr. Sutherland, »ich habe mir ohnedies schon die Mühe genommen, nach London zu reisen – den ganzen Weg von Windsor her – alles einzig und allein Charlies wegen. Indes, Herbert – vielleicht können Sie sich mit der Sache besser befassen als ich. Tatsächlich ist es mir auch lieber, im Hintergrund zu bleiben. Aber Ihre Zeit ist schließlich auch kostbar ...«

»Die notwendigen Briefe kosten mich nur ein paar Minuten, die ich jedenfalls nicht besser verwenden würde. Ich versichere Ihnen, die Sache bedeutet tatsächlich nicht die geringste Mühe für mich.«

»Siehst du, Papa – da haben wir die ganze Angelegenheit erledigt. Laß uns jetzt in die National Gallery gehen. Mir wäre es zwar lieber, wir gingen in Ihr Atelier ...«

»Noch nicht, noch nicht,« entgegnete Herbert in ernstem Ton. »Ich verspreche Ihnen eine besondere, private Inaugenscheinnahme der Lady von Shalott – spätestens nächsten Donnerstag.«


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