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Sechstes Kapitel

Als Mrs. Beatty zwei Wochen mit der Familie ihres Bruders auf der Isle of Wight verbracht hatte, kam ihr Gatte von Windsor zu Besuch. Am Morgen nach seiner Ankunft saßen sie zusammen im Garten – er rauchte, und sie ruhte mit einer Zeitung in der Hand in einem Schaukelstuhl an seiner Seite.

»Liebe Jane,« sagte er nach einem einleitenden Räuspern.

»Ja, Richard?« entgegnete sie zuvorkommend, indem sie die Zeitung beiseite legte.

»Ich habe dir gestern abend erzählt, daß Clifton bei uns abgeht ...«

»Oh, Clifton, der Kapellmeister –«

»Jawohl, jawohl.«

Mrs. Beatty brachte dieser Angelegenheit nur wenig Interesse entgegen, und so nahm sie das Zeitungsblatt wieder zur Hand.

»Mary hat heute morgen mit mir darüber gesprochen ...«

Mrs. Beatty legte die Zeitung mit einer energischen Bewegung nieder und sah ihren Gatten fragend an.

»Sie will, ich soll den Kerl – Charlies Hauslehrer – an Cliftons Stelle nehmen. Ich weiß nicht, ob er sich dafür eignet.«

»Du weißt nicht, ob er sich dafür eignet? Ich muß doch sehr bitten, Richard – hast du Mary zu der Annahme Veranlassung gegeben, daß wir irgendwelchem weiteren Verkehr zwischen ihr und diesem Mann Vorschub leisten werden?«

»Ich dachte – ich wollte zunächst einmal mit dir darüber sprechen.«

»Sie soll sich schämen! Du darfst unter keinen Umständen auf das hören, was sie sagt, Richard.«

»Willst du nicht lieber mit ihr sprechen? Es ist eigentlich keine Angelegenheit, in der ich dir ein Recht der Bestimmung zugestehen kann, und ich weiß gar nicht, was ich ihr sagen soll, wenn sie mir damit kommt. Sie erörtert immer alles, und ich kann Erörterungen nicht leiden.«

»Dann soll ich wahrscheinlich ihren Erörterungen entgegentreten – ich werde nicht viel Federlesens damit machen. Jedesmal, wenn es etwas Angenehmes in der Familie zu sagen gibt, dann bist du gern bereit, es mir aus dem Munde zu nehmen. Die unangenehmen Dinge aber bleiben mir überlassen. Und dann sagen die Leute: Der arme Oberst Beatty – er hat eine so unliebenswürdige Frau.«

»Wer sagt das?«

»Deine Schuld ist es nicht, wenn es nicht gesagt wird.«

»Wenn der Kerl zu uns ins Regiment kommt, dann wird man ihm schon bald genug das richtige Betragen beibringen. Trotz all dem Gegenteiligen, was ich gehört und gesehen habe, weiß er sich doch recht gut zu benehmen. Darin liegt für mich auch die Schwierigkeit, wenn ich mit Mary reden soll. Wenn sie nichts an ihm auszusetzen hat, so habe ich erst recht nichts.«

»Du nimmst seine Partei gegen mich, Oberst Beatty? Daß er mich zu wiederholten Malen beleidigt hat, das hat natürlich nichts zu sagen – das tut ja jeder Mensch. Aber ich dächte, du könntest doch vielleicht etwas an einer Persönlichkeit auszusetzen haben, die deine Leute auf die Wege des Lasters führt und im Hause meines Bruders Orgien und Trinkgelage veranstaltet.«

»Ich will dir etwas sagen, Jane, – wenn du schon hierauf zu sprechen kommst, so weißt du wohl auch gut genug, daß Charles längst ein unverbesserlicher Trunkenbold war – lange ehe Jack seine Wege kreuzte. Und was nun die Geschichte mit dem Musizieren in Beulah anbetrifft – so hat Charles fünf Schilling für seine Bemühungen bekommen – er hat dort gespielt, wie er auf einem deiner Bälle spielen würde. Von Jack hat er mir wie von einem Herrn gesprochen, der ihn sich bestellt hat – nicht wie von einem Kameraden.«

»Dir gegenüber – das will ich wohl glauben. Adrian Herbert hat es aber gehört, in was für Ausdrücken er mit Jack gesprochen hat.«

»Außerdem betont es Mary ausdrücklich, daß sie sich hierüber nicht im geringsten beklagt.«

»Und worüber beklagt sie sich denn?«

Oberst Beatty dachte einen Augenblick nach und dann antwortete er: »Sie beklagt sich über gar nichts – soweit ich in der Sache sehe.«

»Nicht möglich? Sie hat ihn doch entlassen. Das wirst du doch wohl nicht leugnen wollen!«

»Liebe Jane, ich leugne überhaupt nichts, sondern ...«

»Dann lasse dich, bitte, auch durch nichts verleiten, die beiden wieder zusammenzubringen. Soviel solltest du doch ohne irgendeinen besonderen Hinweis von mir verstehen – zumal da du ja sehr wohl weißt, was für eine sonderbare Person sie ist.«

»Wieso? Du meinst doch nicht, daß irgend etwas zwischen den beiden vorgeht?«

»Davon habe ich kein Wort gesagt. Ich weiß sehr gut, was ich meine.«

Oberst Beatty rauchte eine Weile stillschweigend weiter. Als er Mary mit einem Malkasten aus dem Hause kommen sah, machte er sich an seiner Pfeife zu schaffen und entfernte sich.

»Was ist denn los?« fragte Mary.

»Nichts, soviel ich weiß,« entgegnete Mrs. Beatty. »Warum?«

»Du siehst nicht übermäßig vergnügt aus – und Onkel Richards Schultern haben einen gewissen Zug ins Resignierte – als ob er erst kürzlich eine Gardinenpredigt zu hören bekommen hätte.«

»Haha – Hoho – du bist eine riesig scharfe Beobachterin, Mary. Gehst du aus?«

»Ich warte auf Adrian.«

Mary ging auf der Suche nach einer Blume um den Garten herum. Sie war gerade damit beschäftigt, ihren Busen mit einem solchen Wunderwerk der Natur zu schmücken, als Mrs. Beatty, die inzwischen zu lesen vorgegeben hatte, sich nicht länger zu bezähmen vermochte und plötzlich ausrief:

»Es hat keinen Zweck, Mary, wenn du Richard veranlassen willst, den Mann als Kapellmeister zu nehmen! Er wird es nicht tun!«

»Aha – das ist es also, was los ist,« meinte Mary kühl.

»Was ich sage, das verhält sich auch so, Mary. Mit meiner Zustimmung wird er sich nie wieder in Windsor blicken lassen.«

»Er läßt sich bereits einmal die Woche in Windsor blicken, Tante. Miß Cairns schreibt mir, daß er eine Gesangsklasse in ihrem Hause leitet und außerdem noch drei Klavierschüler in der Nachbarschaft hat.«

»Hätte ich das gewußt,« entgegnete Mrs. Beatty ärgerlich, »ich wäre nie aus Windsor gegangen. Das steht so recht im Einklang mit seinem ganzen übrigen Benehmen! Übrigens – es schadet auch nichts. Wir werden ja sehen, wie lange er seine Schüler noch behält, wenn ich erst nach Haus komme.«

»Wieso, Tante? Du könntest ihm seinen Lebensunterhalt nehmen – nur weil du ihn zufällig persönlich nicht leiden kannst?«

»Mit seinem Lebensunterhalt habe ich nichts zu schaffen. Ich halte es nicht für passend, daß er sich in Windsor zeigt, nachdem er von meinem Bruder einmal entlassen worden ist. Es gibt genug andere Orte, wo er hingehen kann. In dieser Sache bin ich fest entschlossen. Wenn du es darauf ankommen lassen solltest, so werde ich dir's sehr übel nehmen.«

»Ich bin gleichfalls fest entschlossen. Was du Mr. Jack in Windsor an Schaden zufügst – man wird es mir zur Last legen, Tante.«

»Ich habe kein Wort davon gesagt, daß ich ihm irgendwelchen Schaden zufügen werde.«

»Du hast gesagt, du wolltest ihn aus Windsor vertreiben. Da er von seinem Unterricht lebt, so scheint mir dies die größte Schädigung, die überhaupt nur im Bereiche deiner Macht liegt.«

»Nun, dann kann ich ihm eben nicht helfen. Es ist deine Schuld.«

»Wenn ich ihm behilflich gewesen bin, ihm die Schüler zu verschaffen, und wenn ich dich jetzt bitte, dich nicht in seine Angelegenheiten zu mischen – wie kann es dann meine Schuld sein?«

»Aha – ich dachte mir's doch, daß du etwas damit zu tun hättest. Und jetzt, Mary, muß ich es dir sagen – es ist einfach schamlos – die offenkundige Art und Weise, wie du dem Manne nachläufst ...«

»Tante!«

»Jawohl – diesem ordinären Manne nachläufst. Ich muß mich höchlichst darüber wundern, daß ein junges Mädchen von deinen Kenntnissen und deinem guten Geschmack so wenig Selbstachtung besitzt – daß du dir von einem Patron ohne irgendwelchen Schliff, ohne äußere Erscheinung den Kopf hast verdrehen lassen – von einem Menschen, der nicht einmal ein Gentleman ist. Und alles dies noch, während du mit Adrian verlobt bist, der doch in jeglicher Hinsicht das ganze Gegenteil ist. Ich sage es dir, Mary, es ist nicht schicklich – es ist nicht anständig – ein Hauslehrer! Wenn es wenigstens jemand anders wäre – es wäre wirklich nicht so schlimm – aber – oh – schäme dich, Mary, schäme dich!«

»Tante Jane!«

»Still, um Gottes willen, still – da kommt er.«

»Wer?« rief Mary, indem sie sich schnell umwandte. Aber es war nur Adrian in Skizzierausrüstung.

»Guten Morgen,« sagte er vergnügt – mit einer höflichen, gemessenen Vergnügtheit. »Das ist die richtige Beleuchtung, die wir für das kleine abgebröckelte Stück Klippe brauchen.«

»Wir sprachen gerade davon, wie spät Sie heute kämen,« meinte Mrs. Beatty süßlich.

Er schüttelte den Kopf und sah Mary, die regungslos dastand, fast verwundert an. Ihr Gesichtsausdruck verwirrte ihn.

»Weißt du, wovon wir wirklich gesprochen haben, Adrian, als du uns unterbrochen hast?«

»Mary!« rief Mrs. Beatty entsetzt.

»Tante Jane erzählte mir gerade,« fuhr Mary fort, ohne ihr irgendwelche Beachtung zu zollen, »sie erzählte mir gerade, ich liefe hinter Mr. Jack her – und mein Benehmen wäre nicht anständig. Hast du jemals etwas Unanständiges an meinem Benehmen bemerkt, Adrian?«

Herbert sah in hilflosem Schweigen von ihr zu Tante Jane hinüber. Mrs. Beattys Bestürzung, die in einem Tränenausbruch gipfelte, enthob ihn der Notwendigkeit einer Entgegnung.

»Hören Sie nicht auf das, was sie sagt,« meinte die alte Dame plötzlich, indem sie sich zu beherrschen versuchte. »Sie ist ein undankbares Mädchen!«

»Ich habe ihre Worte genau wiederholt,« meinte Mary unbeirrt. »Und ich bin ihr dafür sicherlich keineswegs dankbar. Laß uns gehen, Adrian. Wir wollen lieber nicht noch mehr Zeit verlieren, wenn wir unsere Skizzen noch vor dem Lunch zu Ende bringen sollen.«

»Wir können aber Mrs. Beatty doch nicht in diesem Zustand – –«

»Kümmern Sie sich nur nicht um mich – ich schäme mich, weil ich mich so weit habe gehen lassen, Mr. Herbert. Sie können gewiß nichts dafür. Ich will Sie lieber nicht länger aufhalten.«

Adrian zögerte. Da er aber sein Verschwinden für angebracht hielt, so nahm er sein Bündel Staffeleien und Klappstühlchen auf und verließ mit Mary, die zu ihrer Tante nicht einmal hinübersah, den Garten. Sie legten ein geraumes Stück Weges schweigend zurück.

»Mrs. Beatty hat dir doch hoffentlich nicht wieder zugesetzt?« fragte er dann.

»Und wenn sie es getan hat, so wird sie es – glaube ich – nicht wieder tun, ohne sich's vorher ernstlich zu überlegen. Ich habe es als beste Methode, mit eigennützigen Menschen umzugehen, erkannt, wenn man ihnen einen Schrecken einjagt, indem man ihre skandalösen Tuscheleien laut wiederholt. Diesmal habe ich mich wirklich tüchtig geärgert, Adrian.«

»Wer aber hat Jack wieder aufs Tapet gebracht? Ich dachte, wir wären ihn jetzt ein für allemal los.«

»Ich hatte gehört, daß es ihm in London sehr schlecht ginge, und da habe ich Oberst Beatty gebeten, ihm die Anstellung als Regimentskapellmeister zu verschaffen – an Stelle von John Sebastian Clifton – des Mannes, der sich immer lustig machte und lachte über – der jetzt nach Amerika geht. Dann hat Tante Jane sich hineingemischt und mir für meine Verwendung allerhand Motive unterschoben – solche Motive, wie sie sie eben nur selbst zu würdigen versteht.«

»Wie hast du denn in London etwas über Jacks Lage ausfindig machen können?«

»Durch Madge Brailsford. Sie hat Stunden bei ihm. Wieso? Du bist doch nicht eifersüchtig?«

»Wenn deine Frage ernst gemeint ist, so verdirbst du mir meine Arbeit für den ganzen Tag – oder besser gesagt, meine Freude für den ganzen Tag – denn meine Arbeit ist jetzt lauter Freude.«

»Aber nein – es war doch natürlich nicht ernst gemeint. Verzeih, bitte.«

»Willst du einen neuen Kontrakt mit mir machen, Mary?«

»Worum handelt es sich denn?«

»Niemals wieder diesen ekelhaften Musikanten zu erwähnen. Ich habe die Bemerkung gemacht, daß schon sein Name genügt, um überall Zwietracht zu säen.«

»Das ist wirklich wahr,« lachte Mary. »Ich habe mich über ihn ein bißchen mit Madge gezankt – sehr viel mit Tante Jane – beinahe mit dir – und ausgiebig mit Charlie.«

»Wir wollen ihn von jetzt an auf den index expurgatorius setzen. Ich schwöre, auf einer Skizziertour nie wieder seinen Namen zu nennen – überhaupt niemals, es sei denn unter sehr dringenden Umständen, die wahrscheinlich nicht eintreten werden. Willst du jetzt auch schwören?«

»Ich schwöre,« entgegnete Mary, ihre Hand erhebend. » Lo giuro – wie sie in den Opern sagen – immer aber ohne Beeinträchtigung seiner Anstellung als Kapellmeister.«

»Was das betrifft, so fürchte ich, hast du seine Aussichten bei Oberst ›Tante Jane‹ gründlich verfahren.«

»Jawohl,« entgegnete Mary zögernd, »daran hatte ich gar nicht gedacht. Ich hatte nur meine eigenen verletzten Gefühle im Kopf, als ich meinem Rachedurst freien Lauf ließ. Und dabei hatte ich mir vorgenommen, sie zu beschwatzen, mich in dieser Angelegenheit zu unterstützen.«

Herbert lachte.

»Da gibt's gar nichts zu lachen, Adrian – wenn man sich die Sache genauer überlegt. Bisher habe ich mir immer eingebildet, daß ich mir abseits von der gewöhnlichen Welt eine Welt geschaffen, mein ganzes Leben auf eine höhere Stufe erhoben hätte als all die Menschen um mich her. Jetzt fange ich allmählich an herauszufinden, daß ich so ziemlich dasselbe tue, was die andern tun, wenn ich tätig handelnd einzugreifen gezwungen bin. Ich nehme an, sie beurteilen mich nach meinen Handlungen und nicht nach meinem Innenleben, und sie sehen mich mit denselben Augen, mit denen ich sie sehe. Vielleicht haben sie auch ein Innenleben. Wenn sich das so verhält, so liegt der einzige Unterschied zwischen uns darin, daß ich meine Augen daran gewöhnt habe, in einer Landschaft das Greifbare für ein Bild deutlicher herauszufinden als sie. Sie erfreuen sich vielleicht ebensosehr wie ich an einer Landschaft, ohne eigentlich zu wissen warum.«

»Weißt du, warum?«

»Ich glaube nicht. Ich meine, ich kann die Teile der Landschaft, die mir gefallen, herausfinden und näher bezeichnen – und das können sie nicht. Aber das ist kein Unterschied moralischer Art. Die Kunst vermag uns nicht aus der Welt herauszuheben.«

»Nicht, wenn wir weltliche Menschen sind, Mary.«

»Was können wir denn dafür, wenn wir weltliche Menschen sind? Ich bin in die Welt hineingeboren worden – ich habe mein ganzes Leben in ihr zugebracht, und ich habe niemals einen Menschen oder ein Ding zu Gesicht bekommen, das nicht zu ihr gehört hätte. Wie soll ich dann anders als weltlich sein können?«

»Gehört die Sonne über uns auch dazu, Mary? Und die Sterne – die herrlichen Träumereien, die die Dichter uns zurückgelassen haben – die lieblichen Gefilde, die uns von den Malern eröffnet worden sind – die Gedanken, die du und ich zuweilen austauschen, wenn nichts dazwischen getreten ist, was deinen Glauben zu schwächen vermochte – sind alle diese Dinge von dieser Welt?«

»Ich meine, sie gehören nicht ausschließlich uns beiden. Wenn sie es täten, so würden wir für übergeschnappt gelten, weil wir sie fühlen und empfinden. Weißt du was, Adrian – viele Leute, die wir uns auf geistigem Gebiete völlig fremd erachten, sind auf ihre Art recht romantisch veranlagte Menschen. Tante Jane heult über Romane, bei denen ich lachen muß. Deine Mutter liest viele Geschichtswerke, und dabei hat sie eine Vorliebe für Bilder. Ich erinnere mich noch, daß sie früher sehr schön sang.«

»Ja – sie hält etwas von Bildern – wenn sie nicht übermäßig gut sind.«

»Dasselbe sagt sie von dir. Und wirklich – wenn sie mir in ihrer klugen, vernünftigen Art auf die Schultern klopft, wenn sie mich fragt, wann ich es müde werde, mit dem herumzuspielen, was sie Transzendentalismus nennt, dann höre ich – oder ich glaube es wenigstens zu hören – dann höre ich ein Echo ihrer Gedanken in meinem eigenen Innern. Ich bin sehr glücklich bei meinen Kunststudien gewesen, und ich glaube kaum, daß ich jemals eine stillere und befriedigendere Existenzform finden werde als die, der sie mich zugeführt haben. Und trotz alledem und alledem kann ich mich zuweilen der Empfindung nicht erwehren, als ob alles dies eine Daseinsform wäre, aus der ich allmählich herauszuwachsen beginne. Höchstwahrscheinlich werde ich wohl oberflächlicher, je älter ich werde.«

»Das denkst du nur für den Augenblick. Wenn du deine Kunst im Stich läßt, so wird dich die Welt ihr mit Keulenschlägen wieder zutreiben. Die Welt bietet für unsere Wünsche kein Ziel, das sich anzueignen der Mühe wert wäre, noch verteilt sie irgendein Entgelt, das zu erhalten sich lohnte. Fälschlicher, durch Bestechung erworbener Erfolg, jämmerliches Mißlingen, ein blödes, viehisches Dahinvegetieren – das ist alles, was sie zu bieten vermag. Ich ziehe die Kunst vor, die mir mit aller meiner Selbstachtung noch einen sechsten Sinn für die Schönheit verleiht – vielleicht auch unsterblichen Ruhm als Preis für ernstes Bemühen in einer Arbeit, der ich mit vollem Herzen zugetan bin.«

»Ja, Adrian, das hat mir früher auch genügt. Und jetzt – jetzt genügt es mir wirklich nicht mehr, wenn ich in der richtigen Gemütsstimmung bin. In mir tauchen andere Welten unbestimmt am Horizonte auf. Vielleicht, daß des Weibes Kunst von des Weibes Leben getrennt ist – dem Mann bedeutet sie die ganze Existenz – geradeso, wie man von der Liebe das Umgekehrte sagt – wenn es sich auch in Wirklichkeit nicht so verhält.«

»Wenigstens rechnet sie nicht so genau,« entgegnete Adrian, indem er sich mit sichtlichem Unbehagen einer leichtfertigen Geschwätzigkeit befleißigte.

»Allerdings – nein,« entgegnete Mary lachend. »So – hier ist unser Platz.«

»Jawohl,« entgegnete Adrian, indem er sein Bündel aufschnallte. »Du mußt dir die Anwandlung von Niedergeschlagenheit, die sich deiner bemächtigt hat, von der Seele malen. Der Wind hat nach Südwesten umgeschlagen. Welch herrlicher Tag!«

»Etwas drückend, meine ich. Mir steht der Sinn gerade nach einer recht scharfen Abendbrise – wenn die See sich in kurzen schieferfarbigen Wellen bricht – wenn die Jachten sie auf eiliger Heimfahrt aufzuschlitzen scheinen. Danke – ich möchte lieber den Stuhl ohne Rückenlehne haben – das übrige werde ich mir schon allein zurechtmachen. Adrian – hältst du mich für launenhaft?«

»Eine nette Frage so zum Herausplatzen! Warum?«

»Darauf kommt es nicht an. Beantworte mir meine Frage!«

»Ich finde, du weißt dich immer in bewunderungswürdiger Weise zu beherrschen.«

»Du meinst, wenn ich ärgerlich bin?«

»Ja.«

»Lassen wir meine Selbstbeherrschung jetzt einmal beiseite. Findest du, daß ich oft ärgerlich werde – zu oft – wenn ich auch meinen Ärger meiner nicht Herr werden lasse?«

»Gar zu oft nicht – gewiß nicht.«

»Aber zu oft?«

»Mein Gott – nein! Das heißt – nicht im eigentlichen Sinne ärgerlich. Ich meine, du bist imstande, einen Angriff schnell zu erfassen und abzuwehren, selbst wenn er nur in halb gedankenloser Weise durch Anspielungen zum Ausdruck kommt. Jetzt müssen wir aber fürs erste alle Selbstbetrachtungen beiseite lassen. Wenn unsere Skizzen noch vor dem Lunch fertig werden sollen, so muß ich mich daranhalten – und du auch. Also keine Unterhaltung mehr bis um viertel nach eins.«

»Das soll geschehen,« entgegnete Mary, indem sie sich auf ihren Feldstuhl niederließ.

Zwei Stunden lang malten sie schweigend vor sich hin. Nur von Zeit zu Zeit wurden sie von Spaziergängern unterbrochen, die – sehr zu Herberts Unbehagen und in gewissem Sinne zu Marys Befriedigung – stehen blieben und eine Weile zusahen. Mittlerweile wurde es immer wärmer und wärmer; die Vögel und Insekten sangen und zirpten unaufhörlich.

»Fertig!« sagte Mary schließlich, indem sie ihre Palette auf den Boden legte. »Nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Natur! Ich habe mich an ein wenig Preußischblau in der einen Ecke des Himmels gewagt – das Resultat ist geradezu vernichtend.«

»Ich werde es mir gleich ansehen,« meinte Herbert, ohne von seiner Leinwand aufzublicken. »Ich brauche mindestens noch einen Tag, um meine Skizze fertigzubringen.«

»Du bist zu gewissenhaft, Adrian. Ich glaube sicher, es liegt viel zu viel Arbeit in deinen Skizzen.«

»Ich habe viel Bilder mit zu wenig Arbeit gesehen – niemals eins mit zu viel. Jetzt muß ich aber, glaube ich, fürs erste aufhören. Es ist Zeit zum Nachhausegehen.«

»Jawohl,« meinte Mary, indem sie ihre Skizzierausrüstung zusammenpackte. »Oh je, oh je – wie Faulconbridge sagt: Übrigens – Faulconbridge hätte uns für ein paar Verrückte gehalten. Nichtsdestoweniger – ich mag ihn leiden.«

»Das tut mir leid. Die meisten Frauen haben eine Vorliebe für arrogante Lümmel. Laß deine Skizze mal ansehen!«

»Ein Meisterwerk ist es nicht, wie du wohl selbst bemerkst.«

»Nein. Du bist zu ungeduldig, Mary – und du malst mit steifer, schwerer Hand. Sieh einmal vor dich hin in den Dunst – in der ganzen Landschaft ist nicht eine einzige scharfe Kontur.«

»Ich kann nichts dafür! Ich bemühe mich, alles soviel wie möglich zu mildern. Aber dann kommen die Farben nur noch stumpfer heraus. Es ist alles Unsinn mit meiner Malerei. Ich gebe es auf!«

»Muß ich dir Komplimente machen, um dir deinen Mut zu erhalten? Heute hast du ganz besonders wenig Selbstvertrauen. Das Haus und das Kartoffelfeld hast du besser gemacht als ich.«

»Höchstwahrscheinlich. Mein Strich ist für Kartoffelfelder wie geschaffen. Ich glaube, ich sollte lieber eine Spezialität daraus machen, da ich weder blauen Himmel, noch wogende See, noch goldige Ährenfelder malen kann, so werde ich mich auf Kartoffelfelder bei feuchter Witterung werfen.«

Herbert, der sich gerade bückte, um seine Utensilien über die Schulter zu nehmen, blickte zu ihr auf; er antwortete ihr nicht. Erst später, als sie sich auf dem Heimweg befanden, redete er sie wieder an:

»Hast du die Empfindung, als ob, seitdem du hier bist, mit dir irgendeine Veränderung vorgegangen wäre – innerlich meine ich, Mary?«

»Nein. Was für eine Veränderung?«

Sie war mit langen Schritten neben ihm hergegangen – selbstbewußt vor sich hinschauend, wie das in ihrer lebhaften Art lag. Jetzt aber verlangsamte sie ihren Gang und schlug die Augen verwirrt nieder.

»Ich habe einen gewissen Rückgang in dem gleichmäßigen Ernst bemerkt, der bisher deine charakteristische Eigenheit zu sein pflegte. Du fängst an, etwas gedankenlos, ich möchte fast sagen, leichtfertig in solchen Dingen zu werden, denen du früher mit unveränderlicher Sympathie und Verehrung entgegenzukommen pflegtest. Das beunruhigt mich. Unsere Verlobungszeit wird wahrscheinlich von so langer Dauer sein müssen, daß die geringste Veränderung an dir mich erschreckt. Mary – liegt es daran, daß du der Kunst müde wirst – oder nur meiner?«

»Ach, das ist ja Unsinn – das ist ganz absurd, Adrian!«

»Auch in dieser Antwort liegt nichts von deinem früheren Ernst, Mary.«

»Was du mir da sagst, ist weniger eine Frage als vielmehr ein Vorwurf. Du solltest mehr Vertrauen in dich selbst setzen – dann würdest du auch nicht befürchten, ich könnte deiner müde werden. Und was nun die Kunst angeht – ich werde ihrer nicht eigentlich müde – aber ich fange an, herauszufinden, daß ich von Kunst allein nicht leben kann. Und es steigen gelinde Zweifel in mir auf, als ob ich meine Zeit mit etwas besserem als mit Malen ausfüllen könnte, da ich nach meiner festen Überzeugung hierin doch nicht viel Gutes leisten werde. Wäre die Kunst eine Art Spiel, bei der es nur auf Geschicklichkeit ankäme, so würde ich dabei beharren. Aber es verhält sich mit der Kunst nun einmal wie mit dem Whist – man braucht Glück und Geschick. Die Vorsehung mag dich mit ihrem Trumpfaß beschenkt haben – mit Talent. Mir aber hat sie gar keine Trümpfe gegeben – nicht einmal Bilderkarten.«

»Wenn wir alle passen wollten, nur weil wir das Trumpfaß nicht in Händen halten, – ich fürchte, dann würde überhaupt kein Whist mehr auf der Welt gespielt werden. Um jetzt aber deine Metapher beiseite zu lassen, die mir übrigens gar nicht gefällt – ich kann dir versichern, daß die Vorsehung mit dir viel glimpflicher umgegangen ist als mit mir. Ich habe länger und schwerer arbeiten müssen als du – ehe ich so gut malen konnte, wie du es kannst.«

»Diese Sorte von Ermutigungen hat meinen Feuereifer lange Zeit im Gange gehalten, Adrian. Jetzt aber ist ihre Wirkungskraft erschöpft. In Zukunft werde ich zu meiner Unterhaltung skizzieren, und um mir Andenken an solche Örtlichkeiten zu erhalten, mit denen mich angenehme Erinnerungen verbinden – nicht aber um meine Urteilsfähigkeit zu erhöhen und den sittlichen Menschen in mir zu vervollkommnen. Vielleicht ist es diese Veränderung in meiner ganzen Gedankenrichtung, die mich jetzt ein wenig leichtfertig macht – wie ich es ja nach deiner Meinung plötzlich geworden sein soll.«

»Und seit wann, wenn ich fragen darf, hast du diese ausschlaggebende Veränderung ausgeklügelt?« meinte Herbert mit unverkennbarem Ernst.

»Ich habe sie niemals ›ausgeklügelt‹ – sie ist unerwartet über mich gekommen. Ich habe nicht einmal gewußt, was eigentlich mit mir vorgegangen war, wie deine Frage mich zwang, eine Art Rechenschaftsbericht abzulegen. Ich bin ein Geschöpf ohne alle Glaubensstärke. Sage mir nur das eine, Adrian – wenn du plötzlich herausfändest, daß du ein Turner, Tizian, Michel Angelo und Holbein alles in einer Person wärst – würdest du dich darum ein Atom glücklicher fühlen?«

»Ich begreife gar nicht, wie du daran zweifeln kannst.«

»Ich weiß wohl, daß du dann besser malen würdest« – Herbert zuckte zusammen – »deswegen steht es aber für mich noch lange nicht fest, daß du glücklicher sein müßtest. Wie dem auch sei – ich bin heute in einer albernen Stimmung! Ich vermag nichts vernünftig zu sehen. Laß uns lieber von etwas anderm sprechen!«

»Diese Stimmung hält nun schon seit einigen Tagen an, liebe Mary. Und wir müssen darüber sprechen, und zwar allen Ernstes – falls du, wie meine Mutter, zu dem Schlusse gelangt bist, daß ich mein Leben in der Jagd nach einem Phantom vergeude. Hat sie mit dir über mich gesprochen?«

»Adrian, du beschuldigst mich eines Verrats! Weil ich den Glauben an meine eigene künstlerische Berufung eingebüßt habe, deswegen darfst du nicht denken, daß mir auch der Glaube an deine verloren gegangen ist.«

»Wenn du der Achtung für die Kunst verlustig gegangen bist, dann ist dir auch die Achtung für mich abhanden gekommen – das denke ich. Falls sich dies so verhält, dann darfst du dich für frei halten – soweit ich in Frage komme. Du brauchst dich nicht an den Träumer gefesselt zu erachten – wie die Leute mich ja benennen.«

»Ich verstehe dich nicht recht. Bietest du mir meine Freiheit an oder forderst du deine?«

»Ich biete dir deine an. Ich meine, das hättest du erraten können.«

»Das kann ich nicht finden. Es ist nicht sonderlich angenehm, wenn es einem nahe gelegt wird, sich als frei zu erachten. Wenn du es aber tatsächlich wünschest, so werde ich es tun.«

»Die Frage liegt darin, ob du es wünschest.«

»Bitte sehr, Adrian – die Frage liegt so, ob du es wünschst. Meine Gefühle für dich sind nach wie vor unverändert.«

»Und die meinen für dich auch.«

Sie schritten eine Weile schweigend nebeneinander hin. Dann ergriff Mary wieder das Wort:

»Adrian, erinnerst du dich noch, wie wir uns im vorigen Jahr beglückwünschten, weil wir uns gegen die Zänkereien Verliebter, wie sie unter Durchschnittsmenschen gang und gäbe, für immun hielten? Ich meine – vielleicht ist es infolge meines plötzlichen sezessionistischen Abfalls von der religiösen Verehrung der Kunst – ich meine, diesmal haben wir den ersten Versuch zu einer solchen Zänkerei gemacht.«

»Haha, jawohl, jawohl – aber es ist uns nicht gelungen, nicht wahr – es ist uns nicht gelungen, Mary?«

»Allerdings – infolge unserer mangelhaften Übung. Aber wir haben uns auch nicht übermäßig blamiert – nächstesmal wird es uns höchstwahrscheinlich besser gelingen.«

»Dann hoffe ich, daß dies nächste Mal nie kommen wird.«

»Das hoffe ich auch.«

Sie waren an die Gartenpforte gelangt. »Du mußt mit hereinkommen und bei uns frühstücken, damit ich Tante Jane nach meinem Racheakt von heute morgen nicht allein gegenübertreten muß.«

Sie gingen ins Haus; Mrs. Herbert war zu Besuch gekommen und saß mit dem Oberst und dessen Gattin bei Tisch.

»Haben wir uns verspätet?« fragte Mary.

Mrs. Beatty kniff die Lippen zusammen und antwortete nicht. Der Oberst beeilte sich mit der Mitteilung, daß sie sich soeben erst zu Tisch gesetzt hätten. Mrs. Herbert nahm sofort an der Unterhaltung teil. Das Mahl vollzog sich, ohne daß Mrs. Beattys Entschluß, mit ihrer Nichte nicht zu sprechen, sich besonders unangenehm bemerkbar gemacht hätte – bis Mary schließlich ihren Kneifer aufsetzte und ihre Tante, indem sie sie in ihrer forschenden, kurzsichtigen Art betrachtete, folgendermaßen anredete:

»Tante Jane – willst du mich zum Zwei-Uhr-vierzig-Zuge begleiten, um Papa abzuholen?«

Mrs. Beatty hielt ihr Schweigen noch für einige Augenblicke aufrecht, dann wurde sie dunkelrot und entgegnete mürrisch: »Nein, Mary, ich will nicht! Du kannst sehr gut ohne mich fertig werden.«

»Adrian, kommst du?«

»Adrian ist für den Nachmittag leider an mich gefesselt,« warf Mrs. Herbert ein. »Wir haben in Portsmouth einen Besuch vor. Wir müssen sogar gleich fort,« fügte sie hinzu, indem sie nach der Uhr sah und sich erhob.

Während der allgemeinen Verabschiedung, die nun folgte, suchte Oberst Beatty seinen Hut, da er es für angebrachter erachtete, mit den Herberts zu gehen, statt zwischen seiner Gattin und Mary zurückzubleiben – zumal in der Gemütsverfassung, in der diese beiden sich gerade jetzt befanden. Mrs. Beatty aber verspürte keine Lust, ihrer Nichte unter vier Augen gegenüberzutreten. Kaum hatten die Gäste das Zimmer verlassen, als sie sich auch schon der Tür näherte.

»Geh noch nicht, Tante,« bat Mary. »Ich habe mit dir zu reden.«

Mrs. Beatty wandte sich nicht nach ihr um.

»Nun gut, wie du willst,« meinte Mary. »Bedenke aber, liebe Tante – wenn es Streit geben sollte, so bin ich nicht schuld daran.«

Mrs. Beatty zögerte: »Sobald du dein Bedauern über dein Betragen von heute morgen ausdrückst,« sagte sie, »so werde ich auch mit dir sprechen.«

»Ich bedaure den Vorfall über alle Maßen.«

Mary sah, während sie sprach, ihre Tante an – nicht mit allzu deutlicher Zerknirschung. Mrs. Beatty war sichtlich unbefriedigt und behielt die Türklinke noch eine Weile in der Hand; dann kam sie langsam wieder ins Zimmer zurück und setzte sich nieder:

»Ich meine, das mußt du auch,« sagte sie.

»Ich meine, das mußt du auch,« wiederholte Mary.

»Wie?« schrie Mrs. Beatty, die wieder aufspringen wollte.

»Du hättest meine Worte als eine Entschuldigung annehmen und die Angelegenheit auf sich beruhen lassen sollen,« fuhr Mary fort. »Es tut mir leid, daß mich deine Anschuldigung von heute morgen derart peinlich berührt hat – in einer Weise peinlich, die beinah zwischen Adrian und mir Unheil gestiftet hätte. Was du aber gesagt – dazu hattest du kein Recht. Und ich war in meinem vollsten Recht, mit dir böse zu sein.«

» Du hast ein Recht, mit mir böse zu sein? Weißt du denn, mit wem du sprichst, Miß?«

»Tante – wenn du mich ›Miß‹ benamsen willst, dann reden wir überhaupt besser gar nicht weiter.«

Mrs. Beatty bemerkte eine hochgespannte Empörung in den Zügen ihrer Nichte; sogar Tränen glaubte sie in ihren Augen zu bemerken. Sie entschloß sich, ihre Autorität nachdrücklich zu befestigen.

»Mary,« sagte sie, »willst du mich dazu reizen, dich auf dein Zimmer zu schicken?«

Mary erhob sich: »Tante Jane, wenn du dich nicht dazu entschließen kannst, mich mit der nötigen Rücksicht zu behandeln – wie du auch alle anderen Damen zu behandeln hast – so müssen wir eben getrennt leben. Wenn du auch meinen Empfindungen kein Verständnis entgegenbringst, so kennst du doch mein Alter und meine Stellung. Dies ist nun das zweitemal, daß du mich heute beleidigst.«

Sie ging zur Tür, indem sie ihrer Tante, als sie an ihr vorbeischritt, einen empörten Blick zuwarf. Ein Augenaufschlag voll ängstlicher Erregung traf sie als Antwort auf diesen Blick – es war, als ob Mrs. Beatty wieder zu weinen anfangen wollte. Mary bemerkte es und unterdrückte mit sichtlicher Anstrengung ihren Ärger, als sie die Türschwelle erreichte. Einen Augenblick lang stand sie still, und dann schritt sie wieder zum Tisch zurück.

»Es ist albern von mir, wenn ich mich derartig mit dir aufrege, Tante,« sagte sie, indem sie sich mit einem Ausdruck erzwungener guter Laune, die ihr viel weniger zu Gesicht stand als ihr Ärger, in einen Schaukelstuhl fallen ließ. »Aber wirklich – du reizt einen über alle Maßen. Jetzt verschone mich, bitte, mit würdevollen Predigten – ich komme mir dann immer wie ein Küchenmädchen vor – und du fühlst dich gewiß dabei auch wie eine Köchin.«

Mrs. Beatty wechselte wieder die Farbe. Ihrem Benehmen und ihrem Aussehen nach glich sie der Köchin der Karikatur zur Genüge, um ihr diese Anspielung sehr unangenehm erscheinen zu lassen.

»Nach einem Streit komme ich mir immer lächerlich vor, und ich empfinde auch etwas wie Reue,« meinte Mary, »mag ich nun im Recht sein oder nicht – wenn anders überhaupt irgendwelchem Streite irgendwelches Recht zugrunde liegt.«

»Du bist doch ein sehr komisches Mädchen,« meinte Mrs. Beatty mit kläglicher Stimme. »Ich hätte es in deinem Alter nicht gewagt, in dem Ton, den du an dir hast, zu älteren Leuten zu sprechen.«

»Als du jung warst,« entgegnete Mary, »da war die ganze Welt in einem Zustande der Barbarei. Und die jungen Leute pflegten damals um die alten herumzuspringen und sie zu verziehen, wie die alten Leute heutzutage meiner Meinung nach die jungen verziehen. Außerdem bist du gar nicht so sehr viel älter als ich. Ich kann mich noch recht gut an deine Hochzeit erinnern.«

»Das mag ja sein,« entgegnete Mrs. Beatty ernst. »Es handelt sich vielleicht auch gar nicht so sehr um mein Alter – du solltest nur immer daran denken, daß ich mit deinem Vater verwandt bin.«

»Das bin ich auch!«

»Mache dich nicht lächerlich, Kind! Ach, es ist doch ein großes Unglück für dich, Mary, daß du keine Mutter hast. Du hast damit mehr eingebüßt als du wohl glaubst.«

»Ich muß jetzt Papa abholen gehen,« entgegnete Mary, sich erhebend. »Hoffentlich ist Onkel Richard am Bahnhof.«

»Wieso? Was hast du denn mit deinem Onkel Richard vor?«

»Nur ihm mitzuteilen, daß wir uns wieder vertragen haben und daß er Mr. Jack als seinen zukünftigen Kapellmeister betrachten kann.«

Bei den letzten Worten eilte sie davon. Mrs. Beattys Protest fand nur an dem altväterlichen Büfett einen belanglosen Zuhörer.


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