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Fünfzehntes Kapitel

Der Konzertsaal in St. James's Hall war überfüllt. Man wartete auf den Beginn der ersten öffentlichen Aufführung eines Werkes von Herrn Owen Jack, das den Titel ›Der befreite Prometheus‹ führte. Es fehlte nur noch eine Minute an acht Uhr; die Parkettsitze füllten sich zusehends; geräuschvoll tönte das Stimmen der Instrumente aus dem Orchester. Nicht weit davon saß Mr. John Hoskyn; seine feierliche Miene ließ es erkennen, daß er aufs Schlimmste gefaßt war; Krawatte, Handschuhe und Frisur zeigten vollendete Anmut. Ihm zur Seite erblickte man seine Gattin in einem dominoartigen Kleid aus granatrotem Plüsch. Ihr schwarzes Haar wurde am Nacken von einer tief meergrünen Schleife zusammengehalten, und ihre dunklen Augen spähten durch Kristallinsen, die in massivem Gold gefaßt waren.

Auf der vordersten Seitenreihe, noch näher am Orchester, saß eine junge Dame mit hübschen und klugen Gesichtszügen. Sie war in ihrer ganzen Erscheinung zarter als Mrs. Hoskyn und trug ein weißes Kleid. Ihre Nachbarn machten sich gegenseitig auf sie, als auf die Szczympliça aufmerksam; das war sie nicht mehr – sie war jetzt Mrs. Adrian Herbert. Ihr Gatte weilte bei ihr; seine regelmäßigen Züge schienen nicht weniger verfeinert und gedankenreich als die seiner Gemahlin. Eine Weile betrachtete Mrs. Hoskyn ihn nachdenklich. Dann wandte sie sich ab, als sähe sie zu ihrem Ehegatten; doch hielt sie mitten in dieser Wendung inne und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Manlius' Erscheinen.

»Ich habe die Musikanten nachgezählt,« flüsterte Hoskyn. »Fünfundachtzig Stück. Viel weniger als sieben und einen halben Schilling pro Kopf werden sie ihnen für den Abend wohl kaum zahlen können. Das macht alles in allem fast zweiunddreißig Pfund – die Sänger nicht mitgerechnet.«

»Quatsch!« entgegnete Mary, nachdem sie sich angsterfüllt im Kreise umgesehen hatte, ob die Bemerkung ihres Gatten gehört worden wäre. »Fünf Pfund für jeden käme wohl näher an die – Scht!«

Die Musik hatte gerade begonnen, und Hoskyn mußte die Marys Schätzung zugedachte Entgegnung auf ein nachdrückliches Schütteln seines Hauptes beschränken. Manlius war sehr aufgeregt und dirigierte die Ouvertüre, die fast eine halbe Stunde dauerte, mit sichtlicher Ängstlichkeit. Als sie zu Ende war, trat zunächst für einige Augenblicke Stille ein, dann kam ein schwacher Applaus, dann stellten sich Anzeichen der Mißbilligung ein, dann wurde der Beifall wieder stark genug, um jene zu überbieten, und schließlich entspann sich eine allgemeine Unterhaltung. Ein beliebter Bariton, dem offenbar recht übel zumute war, erhob sich, um seinen Anteil an dem nächsten Satz des Tonwerkes – dem Wechselgesang zwischen Prometheus und der Erde – darzubringen. Die Chorsänger standen gleichfalls auf und richteten ihre Augen verständnislos und halb verzweifelt auf den Kapellmeister, der kaum zu ihnen aufzublicken wagte. Der Wechselgesang setzte ein. Doch wurde die Aufmerksamkeit der Zuhörerschaft bald abgelenkt. Jack in eigener Person trat in Erscheinung; man sah ihn mit ärgerlicher Miene den Raum durchschreiten und verlassen. Dem Ende des Wechselgesanges folgte lautlose Stille, inmitten derer der Bariton mit einem Ausdruck der Erleichterung seinen Platz wieder einnahm.

»Ich fühle das Verständnis für die Musik in mir wachsen,« bemerkte Mrs. Hoskyn.

»Wirklich?« meinte er. »Wenn das Wachsen nur etwas schneller vor sich ginge! Ich mache natürlich nur Spaß,« setzte er schnell hinzu, da er ihre Unzufriedenheit bemerkte. »Es ist großartig! Ich wollte, ich verstünde genug davon, um Gefallen daran zu finden. Aber daß es richtiger klassischer Stil ist, merke ich auch. Wenn diese Blechdinger einsetzen – einfach pompös!«

Jetzt traten zwei bedeutende Sängerinnen als Asia und Panthea auf, und das Publikum rechnete auf die angenehme Abwechslung eines hübschen Duetts. Asia und Panthea aber sangen geradeso absonderlich wie Prometheus; indes ernteten sie einigen zögernden, schwankenden, mißgönnlichen Beifall. Der folgende ›Zug der Horen‹ hatte starke Längen, führte von einer düsteren Mitternachtsstunde in E-Moll zu einem Sonnenaufgang in A-Dur und gipfelte in einer jubelnden Klangfülle für Orchester und Chor, die das Publikum in Staunen versetzte und ein halb nervöses Gemisch von Händeklatschen und Zischen hervorrief.

»Wie dumm diese Leute sind!« rief Mrs. Adrian Herbert. »Welche Blödheit! Sie haben keine Ahnung, daß dies gute Musik ist. Himmel, Himmel!«

»Ich muß gestehen,« entgegnete ihr Gatte, »ich höre nicht einen einzigen Ton von Musik heraus.«

»Wie ist das nur möglich!« meinte Aurélie. »Es ist wundervoll – erhaben!«

»Es ist ohrenzerreißend,« erwiderte Adrian. »Deine Ohren halten wahrscheinlich mehr aus als meine. Hoffentlich bekommen wir im nächsten Teil etwas Melodie zu hören – der Abwechslung halber.«

»Ohne Zweifel. Das Werk ist voll von Melodie.«

Herbert sah durch den Schlußsatz seine Meinung bestätigt. Es war der Wechselgesang zwischen Erde und Mond, dem das Publikum mit ehrfurchtsvoller Verblüfftheit lauschte und der vom Chor mit Anzeichen von Ermüdung wiedergegeben wurde.

»Donnerwetter!« meinte Hoskyn, indem er sich nach Herzenslust am Applaus beteiligte, der von den billigeren Plätzen ausging. »Das klang ja fabelhaft. Ich möchte es wohl noch einmal hören.«

Das Händeklatschen wurde jetzt zwar nicht enthusiastisch – so doch allgemein, da allen aus Gutmütigkeit daran lag, daß der Komponist in Anerkennung seiner Bemühungen, wenn schon nicht seines Erfolges, hervorgerufen werden sollte. Jack, der zurückgekehrt war, um sich den ›Zug der Horen‹ anzuhören, erhob sich von neuem. Die Anwesenden, die ihn kannten, klatschten lauter, da sie ihn auf dem Wege zum Orchester vermuteten. Es stellte sich jedoch heraus, daß er sich auf dem Wege zur Tür befand; er verließ den Raum ebenso übellaunig wie zuvor.

»Wie schade!« meinte Mary. »Er ist so übereilt.«

»Geschieht ihnen recht,« entgegnete Hoskyn. »Sein Schneid gefällt mir. Und ich gebe dir mein Wort darauf, Mary – es ist ein tüchtiges, solides Stück Arbeit, seine Musik. Ich muß dabei immer an die Bahn von Neuyork nach San Franzisko denken.«

»Und ob es das ist! Das merkst du sogar,« erwiderte Mary, die es selbst nicht im vollen Umfange erfaßte. »Wenn die Leute nicht, wie es sich ziemt, applaudieren, so hindert sie nur ihr Berufsneid daran, in einer oder der andern Weise sind sie ja alle Musiker.«

»Ehe es wieder losgeht, haben wir jetzt zehn Minuten zum Verschnaufen. Laß uns einen Rundgang machen und Annie nach ihrer Meinung fragen.«

Aurélie war mittlerweile ganz aufgelöst und fast in Tränen. Mr. Phipson hatte sich ihnen zugesellt und schüttelte traurig den Kopf. »Wie ich es befürchtete,« sagte er, »wie ich es befürchtete.«

»Es ist eine Schande!« entgegnete sie empört, »eine der englischen Nation unwürdige Schande. Was hat es für einen Zweck, für solche Menschen Musik zu schreiben!«

»Das geht weit über ihren Horizont,« erwiderte Phipson. »Ich hab's ihm vorher gesagt.«

»Und ihre Anmaßung reicht nicht an ihn heran,« meinte Aurélie. »Das sind Vorkommnisse, wie sie einen Künstler der Verzweiflung in die Arme treiben!«

»Mich treibt es keiner Verzweiflung in die Arme,« bemerkte Adrian im Tone selbstgefälliger Überzeugtheit. »Das Werk ist durchgefallen, und ich gestatte mir die Meinungsäußerung, daß es den Mißerfolg verdient hat.«

»Was du da sagst, ist deiner nicht würdig,« rief Aurélie leidenschaftlich, indem sie sich in ihrem Sitz zurückwarf und ihm den Rücken zuwandte.

»Verdient ist unter den obwaltenden Umständen wohl etwas zuviel gesagt, Mr. Herbert,« entgegnete Phipson. »Das Werk ist sehr bedeutend und übersteigt bei weitem das allgemeine Verständnis. Jack hat viel zu viel gewagt. Selbst unser Publikum hört nicht mit Geduld bei derartig langatmigen und komplizierten Sätzen zu. Mir tut das Vorgefallene sehr leid: die Leute, die von unseren Konzerten angezogen werden, stellen in England die höchste musikalische Bildungsstufe dar. Ein Werk, das hier infolge seiner Verworrenheit Schiffbruch erleidet, hat anderswo nicht den Schimmer einer Aussicht auf Erfolg. Ah – da kommt Mary!«

Man wurde wechselweise bekannt gemacht. Hoskyn schüttelte Adrian mit freundlicher Herzlichkeit die Hand und bedachte Aurélie mit einer tiefen Verbeugung; dabei warf er zeitweilig einen verstohlenen Blick auf sie, wagte aber anfänglich nicht, sie anzureden. Aurélie betrachtete Marys Kleid mit Verwunderung.

»Die Art und Weise, wie man mit Mr. Jack umgeht, berührt mich sehr unangenehm,« meinte diese. »Ein Arbeiterpublikum könnte seinem Genie nicht weniger Empfinden entgegenbringen, als die Leute heute abend für die Schönheiten in Mr. Jacks Komposition auch hier an den Tag gelegt haben.«

»Meine Frau ist ganz wütend auf mich, weil ich nichts empfinde,« erklärte Herbert.

»Das war bei Ihnen stets der Fall,« bemerkte Mary. »Mein Mann ist vom Prometheus entzückt.«

»Ist Herr Hoskyn denn musikalisch?«

»Dem Anscheine nach mehr als Sie, insofern er Mr. Jack zu würdigen weiß.«

Phipson ließ sich nunmehr über die Vorzüge des Werkes aus. Er, Mary und Adrian vertieften sich als alte Bekannte alsbald in ein angelegentliches Gespräch, von dem die zwei durch Heirat erst neuerlich ihrem kleinen Kreise eingefügten Persönlichkeiten ausgeschlossen blieben. Unter solchen Umständen fühlte Hoskyn sich gemüßigt, zu Aurélies Unterhaltung beizutragen.

»Meiner Ansicht nach haben wir einen sehr genußreichen Abend hinter uns,« begann er. »Darüber kann kein Zweifel obwalten, daß seine Musik in ihrer Branche allererster Klasse ist.«

»Nicht wahr? Monsieur Jacks Musik? Sie gefällt Ihnen also?«

»Ganz hervorragend,« entgegnete Hoskyn mit lauter Stimme, als ob er zu einem Schwerhörigen spräche. » Sche la trouf splongtid,« setzte er etwas übereifrig hinzu.

»Sie haben vollkommen recht, Monsieur,« erwiderte Aurélie in schlechtem Französisch. »Mir will es scheinen, als läge etwas Niedriges, etwas Gemeines in der eisigen Verständnislosigkeit dieser Menschen hier. Was nützt es, große Werke zu schaffen, wenn man ihretwegen nur als etwas Minderwertiges betrachtet wird? Will man hier Erfolg haben, so muß man Geschäftsmann sein. Der Handel ist Englands Ruin. Er macht die Menschen völlig antikünstlerisch.«

» Sche ne bö fu gompronder,« murmelte Hoskyn. »Um die Wahrheit zu sagen,« fügte er etwas beherzter hinzu, »ich habe nur so ein französisches Wort fallen lassen, um Ihnen ein bißchen damit unter die Arme zu greifen. Deshalb dürfen Sie mich aber jetzt nicht hereinlegen und anders als in meiner Muttersprache zu mir reden. Ich kann wohl ganz leidlich Französisch sprechen – habe aber niemals andere Leute verstehen können.«

»Ach so,« meinte Aurélie, die seinem Englisch mit angestrengter Aufmerksamkeit folgte, und sich nun selbst in dieser Sprache abmühte. »Sie verstehen mich nicht gut? So geht's mir mit dem Englischen. Ich mache aber jetzt schon große Fortschritte. Jeden Tag habe ich bei meinem Mann Stunde.«

»Sie sprechen wirklich sehr gut. Fu barle trä biang – tutafe kom mong Onkle Sche un – ich meine, Ihrer Sprache nach würde ich es nicht merken, daß Sie eine Ausländerin sind – ün Eronschärn.«

»Wirklich?« fragte Aurélie äußerst geschmeichelt.

»Wirklich!« bestätigte Hoskyn mit einem nachdrücklichen Kopfnicken.

»Das wundert mich. Es ist kaum ein paar Monate her, daß ich noch kein Wort Englisch konnte.«

»Das liegt eben daran, daß Sie vorher schon die Universalsprache kannten.«

»Wie meinen Sie? La langue universelle?«

»Jawohl – die Musik. Die Musik!« wiederholte er angesichts ihrer Verwunderung.

»Ach so,« entgegnete Aurélie, wobei der Ausdruck der Verständnislosigkeit aus ihren Zügen wich. »Sie nennen die Musik eine Universalsprache? Das ist wahr. Sie haben ganz recht.«

»Wenn man Musik gelernt hat, muß man alles andere mit Leichtigkeit erlernen können. Musik ist so scheußlich schwer. Ich bin fest davon überzeugt, Musik zu erlernen, das muß die Menschen – wissen Sie – vergeistigter machen.«

»Gewiß, gewiß! Ihre Ansicht ist sehr zutreffend, Monsieur. Ich stimme Ihnen völlig bei. Verstehen Sie, was ich sage?«

» Perfetemong yiou,« erwiderte Hoskyn im Brustton der Überzeugung.

Mary unterbrach die Unterhaltung, indem sie ihren Gatten darauf aufmerksam machte, daß es Zeit wäre, ihre Plätze wieder einzunehmen. Während sie sich auf ihre Sitze zurückbegaben, wandte sie sich entschuldigend an ihn.

»Du darfst mir nicht böse sein, John, weil ich dich der Szczympliça überlassen habe. Ihr habt wohl kein Wort miteinander reden können?«

»Warum denn nicht? Sie ist eine sehr nette Person und wir haben uns brillant miteinander zurechtgefunden. Ich kann es so drehen, daß ich mit Fremden immer vortrefflich auskomme. Mit ihr war es außerdem das reine Kinderspiel. Sie konnte gebrochen Englisch sprechen, verstand es aber nicht. Und ich konnte Französisch reden, ihre Sprachweise aber nicht verstehen – sie ist offenbar keine Französin. Sie hat also Englisch zu mir gesprochen – ich habe ihr auf Französisch geantwortet. Auf diese Weise unterhielten wir uns ebenso glatt, als wenn ich mit dir rede.«

Mittlerweile vermochte Adrian sich einiger Randbemerkungen zu Marys Gattenwahl nicht zu enthalten. »Ich möchte bloß wissen, warum sie diesen Menschen geheiratet hat,« wandte er sich an Aurélie. »Daß sie sich soweit erniedrigen würde, um nach Geld zu heiraten, kann ich nicht glauben. Wenn man aber sieht, wes Geistes Kind er ist, so wird's einem schwer, bei ihr Liebe vorauszusetzen.«

»Warum denn nicht?« fragte Aurélie. »Ein wenig kommerziell ist er wohl. Das sind aber alle Engländer. Er ist dabei ein intelligenter Mensch. In seiner Denkweise hat er etwas sehr Verfeinertes.«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein, Aurélie?«

»Sicherlich. Was er mir gesagt hat, war alles sehr hübsch. Ich versichere dir, er hat ein sehr feines Verständnis für Musik. Es wird schwer, ihn zu verstehen, weil er nicht so gut Französisch spricht wie ich Englisch. Dafür tritt es aber klar zutage, daß er viel nachgedacht hat. Sie kann sich nur glücklich schätzen, einen so guten Mann gefunden zu haben. Was für ein albernes Kleid sie anhat! Überall sonst auf der Welt würde man sich über sie als eine überspannte Person lustig machen. Für meinen Geschmack ist mit deinem hochgebildeten Fräulein Sutherland nicht übermäßig viel los.«

Adrian sah seine Frau erstaunt und etwas mißvergnügt an. Aber die Musik begann jetzt gerade wieder, und die Unterhaltung verstummte. Man spielte einige Kompositionen von Mendelssohn, und er applaudierte begeistert, während sie schweigend da saß mit abgewandtem Gesicht. Als das Konzert vorüber war, sahen sie die Hoskyns in einem hübschen Wagen davonfahren, und Herbert, der in seiner Junggesellenzeit noch nie jemand wegen eines solchen Luxusgegenstandes beneidet hatte, ärgerte sich, weil er einen Hansom für seine Frau nehmen mußte.

Adrian hatte noch keine passende, dauernde Wohnung gefunden. Sie wohnten im ersten Stock eines Hauses in Kensington Road. Aurélie, die stets alle häuslichen Angelegenheiten ihrer Mutter überlassen hatte, verstand wenig von der Haushaltung und konnte auch nicht dazu gebracht werden, sich für die Wohnungssuche zu interessieren. Die Hauswirtin in Kensington Road besorgte ihnen das Essen, und Adrian bezahlte jede Woche eine schwere Rechnung, indem er Aurélie erklärte, daß der Betrag unerhört und das Weib verwünscht sei. Aber er tat doch nicht einen Schritt, um ein ökonomischeres System einzuführen.

Sie erreichten ihre Wohnung um ein viertel vor zwölf. Und Adrian drehte das Gas aus, als Aurélie hinaufgegangen war, und machte die Kette vor die Türe, denn er wußte, daß alles im Hause schon schlief. Als er ihr hinauffolgte, hörte er das Klavier. Er trat in das Zimmer und sah sie davorsitzen. Sie sah sich nicht nach ihm um, sondern fuhr fort zu spielen, das Gesicht leicht nach aufwärts gerichtet und etwas zur Seite – eine Gewohnheit, die sie immer in ihren musikalischen Momenten hatte. Er ging unruhig eine Zeitlang durch das Zimmer. Dann zog er seinen Überzieher aus, drehte eine Gasflamme, die flackerte, niedriger und stellte einige Nippsachen auf dem Kamin zurecht. Dann sagte er:

»Ist es nicht ziemlich spät für Klavierspielen, Aurélie? Es ist zwölf Uhr, und die Leute im Hause werden schon alle schlafen.«

Aurélie fuhr auf wie aus dem Schlafe und zuckte mit den Schultern. Dann schloß sie leise das Klavier und ging zu einem bequemen Stuhl, auf den sie sich müde niederließ.

Herbert war unzufrieden mit sich selbst, weil er sie unterbrochen, und ärgerlich über sie, weil sie die Ursache seiner Unzufriedenheit war. Trotzdem wurde er verliebt, als er sie ansah, wie sie da auf dem Stuhl zurückgelehnt lag und seine Anwesenheit scheinbar wieder ganz vergessen hatte.

»Liebste!«

»Wie?« sagte sie, indem sie wieder zu sich kam. » Qu'est-ce que c'est?«

»Es ist diese Nacht ziemlich kalt geworden. Ist es da klug, daß du hier in deinem dünnen Kleid sitzt, während kein Feuer brennt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Soll ich dir einen Schal holen?«

»Es ist nicht der Mühe wert, ich bin nicht kalt.« Sie sprach so, als ob nur seine Besorgnis sie störte.

»Aurélie,« sagte er nach einer Pause, »ich hörte heute abend, daß meine Mutter in die Stadt zurückgekehrt ist.«

Keine Antwort.

»Aurélie,« wiederholte er verdrießlich. »Hörst du, was ich sage?«

»Ja, ich höre.« Aber sie blickte nicht nach ihm hin.

»Ich sagte, meine Mutter ist in der Stadt. Ich denke, wir müssen sie doch einmal besuchen.«

»Natürlich wirst du sie besuchen, wenn es dir gefällt. Sie ist deine Mutter.«

»Aber du wirst doch mitkommen, Aurélie, nicht wahr?«

»Niemals. Niemals.«

»Auch nicht mir zuliebe, Aurélie?«

»Es ist ein Unterschied, ob ich etwas dir zuliebe oder deiner Mutter zuliebe tue. Ich bin nicht mit deiner Mutter verheiratet.«

Herbert zuckte zusammen. »Das ist eine sehr harte Sprache für englische Ohren,« sagte er.

»Ich spreche nicht Englisch, ich spreche die Sprache meines Herzens. Deine Mutter hat mich beleidigt, und du tatest unrecht, mich zu bitten, zu ihr zu gehen. Meine Mutter hat dich niemals beleidigt. Und doch habe ich sie fortgesandt, weil du sie nicht leiden konntest und weil es hier in England nicht Sitte ist, daß sie weiter bei mir wohnte. Ich weiß, du hast dich nicht mit ihr verheiratet, und ich werfe dir keine Härte vor, weil sie von mir getrennt ist. Ich will aber die gleiche Freiheit für mich haben.«

»Aurélie,« schrie Herbert, der sie fast während ihrer ganzen Rede angestarrt hatte. »Du bist sehr ungerecht. Habe ich es jemals an Höflichkeit gegen deine Mutter fehlen lassen? Habe ich jemals mit Absicht ein Wort des Mißfallens ihr gegenüber geäußert?«

»Du warst gegen sie, wie gegen alle Welt. Du warst sehr freundlich. Ich behaupte auch gar nichts anders.«

»Auf welche Weise kann meine Mutter dich beleidigt haben? Du hast nie mit ihr gesprochen. Und seit einem Monat vor unserer Hochzeit ist sie in Schottland gewesen.«

»Wohin sie zweifellos ging, damit ich nicht mit ihr sprechen konnte. Warum sprach sie nicht zu mir, als ich sie zuletzt traf? Sie wußte wohl, daß ich mit dir verlobt war. Vielleicht ist sie stolz. Schön, ich bin auch stolz. Ich bin eine Künstlerin, und Königinnen haben mir herzlich ihre Hand gegeben. Deine Mutter glaubt, eine englische Dame steht über allen Königinnen. Wir können ohneeinander leben, wie wir es bisher schon getan haben. Ich suche dich nicht zu hindern, zu ihr zu gehen, aber ich will auch selbst nicht gehen.«

»Du beurteilst die Motive meiner Mutter völlig falsch. Sie ist nicht stolz – in dieser Hinsicht. Sie war böse, weil ich ihr nicht erlaubte, eine Frau für mich zu suchen.«

»Jawohl, und sie ist ohne Zweifel noch böse. Weshalb sie dann noch weiterhin erzürnen.«

»Sie hat zuviel Vernunft, um dauernd gegen etwas anzukämpfen, was nicht zu ändern ist. Du brauchst kein kaltes Willkommen zu befürchten, Aurélie. Bevor ich dir erlaube, dorthin zu gehen, werde ich mich versichern, daß du geziemend empfangen wirst.«

»Ich bitte dich, Adrian, quäle mich nicht mehr mit deiner Mutter. Ich kenne sie nicht, ich will sie nicht kennen. Es ist ihr eigener Wille, und sie muß sich damit zufrieden geben. Du kannst doch ohne mich gehen?«

»Warum sollte ich ohne dich zu ihr gehen?« sagte Adrian betrübt. »Deine Liebe ist mir viel kostbarer als ihre. Du weißt, wie wenig Zärtlichkeit zwischen ihr und mir besteht. Aber Familienstreit ist sehr tadelnswert. Das hat immer einen schlechten Anstrich und führt zu schlimmen Folgen. Ich möchte, du würdest für dieses eine Mal deine persönliche Abneigung unterdrücken und mir helfen, eine dauernde Entfremdung zu vermeiden.«

»Ach ja,« rief jetzt Aurélie in wachsendem Unmut, »Du willst meine Ehre den Konventionen deiner Welt opfern.«

»Es ist eine Übertreibung, von einer solchen Kleinigkeit zu sprechen, als taste sie deine Ehre an. Aber ich will nichts mehr sagen. Ich würde viel größere Dinge für dich tun, Aurélie, als wie dies, was du nicht für mich tun willst. Aber dafür liebe ich dich auch.«

»Ich brauche deine Liebe nicht,« sagte Aurélie und wandte sich achselzuckend zur Tür. »Geh und liebe jemand anders. Liebe Frau Hoskyn und erzähle ihr, wie schlecht dich deine Frau behandelt.«

Herbert machte einen Schritt hinter ihr her. »Aurélie,« sagte er, »wenn ich mich dieser Behandlung von deiner Seite unterwerfe, bin ich der lächerlichste Sklave in England.«

»Ich kann es nicht ändern. Und ich kann dich nicht leiden, wenn du ein Sklave bist. Es wird spät.«

»Gehst du schon zu Bett?«

»Schon! Mein Gott, es ist halb eins. Du wirst noch verrückt, glaube ich.«

»Ich denke, ich bin es. Aurélie, sag' mir jetzt ehrlich die Wahrheit: Ich kann nicht ertragen, es bei langsamer Folter zu entdecken, indem ich aufpasse, wie du kälter und kälter zu mir wirst. Liebst du mich nicht mehr?«

»Vielleicht,« sagte sie gleichgültig. »Jetzt liebe ich dich nicht, das ist sicher. Du bist sehr langweilig gewesen.« Und sie verließ das Zimmer, ohne nach ihm hinzusehen.

Einige Augenblicke nach ihrem Weggehen blieb er bewegungslos. Dann preßte er seine Lippen zusammen. Er ging zu einem Sekretär und nahm etwas Geld daraus. Er zog Hut und Überzieher an und nahm einen Bogen Papier von seinem Pult. Aber nachdem er eine Feder ein paarmal in die Tinte getaucht hatte, warf er sie an die Seite, ohne etwas zu schreiben. Während er das tat, sah er auf dem Kamin eine kleine Brosche, die Aurélie oft am Halse trug. Er nahm sie auf und war gerade im Begriff, sie in seine Tasche zu stecken, als er, einem plötzlichen Impulse folgend, sie heftig auf den Kamin schleuderte. Dann löschte er das Licht aus und verließ das Zimmer. Als er eine Stufe hinabgestiegen, hörte er oben eine Tür aufgehen und einen leichten Fuß oben auf den Treppenabsatz treten. Er blieb stehen und hielt den Atem an.

»Adrian, Liebster, bist du da?«

»Was gibt es?«

»Wenn du kommst, bring mir den kleinen Band mit, der auf dem Klavier liegt. Er ist rot, und mein Taschentuch liegt zwischen den Seiten als Lesezeichen.«

Er überlegte einen Augenblick. Dann sagte er freundlich: »Ja, mein Liebling,« und stahl sich zurück in den Salon trotz seiner Fluchtvorbereitungen. Er nahm das rote Buch und ging hinauf, wo er seine Frau im Bette fand, ruhig und ohne Ahnung von dem, was er soeben vorgehabt, während die Leselampe einen hellen Schein auf ihr Kissen warf.

Es war Adrians Gewohnheit, sich pünktlich zu erheben, wenn das Mädchen an die Tür klopfte des Morgens um acht Uhr. Aurélie dagegen war träge und ließ ihren Mann oft alleine frühstücken. Am Morgen nach dem Konzert erhob er sich wie gewöhnlich und machte soviel Geräusch wie möglich, um sie zu wecken. Da ihm das aber nicht gelang, ging er in das Ankleidezimmer und kam nach vielem Platschen und Reiben im Schlafrock zurück.

»Aurélie.« Eine Pause, während der ihr regelmäßiges Atmen hörbar war. Dann etwas lauter: »Aurélie!« Sie antwortete mit einem Murmeln. Er fügte sehr laut und deutlich hinzu: »Es ist zwanzig nach acht.«

Sie bewegte sich etwas und stieß einen fremdartigen Laut hervor, den er nicht verstand, aber als Polnisch erkannte. Dann sagte sie schlaftrunken auf französisch: »Sogleich.«

»Sofort, bitte,« sagte er, indem er seine Hand an ihre Schulter legte. »Muß ich dich schütteln?«

»Nein, nein,« sagte sie, indem sie sich selbst etwas mehr aufrüttelte. »Schüttele mich nicht, ich bitte dich.« Dann ärgerlich: »Ich will nicht geschüttelt werden. Ich stehe jetzt auf. Sind Briefe da?«

»Ich war noch nicht unten.«

»Geh und sieh nach.«

»Du wirst aber bestimmt nicht wieder einschlafen?«

»Nein, nein. Ich werde unten sein, fast so schnell wie du. Bring mir die Briefe herauf, wenn welche da sind.«

Er kehrte in das Ankleidezimmer zurück, beendigte seine Toilette und ging hinunter. Es waren einige Briefe da. Er sah sie an und kehrte zu Aurélie zurück. Sie schlief wieder fest.

»Oh Aurélie! Aurélie! Wirklich, das ist zu schlimm. Du schläfst ja schon wieder.«

»Wie du mich ärgerst!« sagte sie, indem sie ihre Augen aufmachte und ihn ungeduldig ansah. »Wieviel Uhr ist es?«

»Du magst wohl fragen. Es ist fünfundzwanzig Minuten vor neun.«

»Mehr nicht?«

»Mehr! Komm, Aurélie, da sind drei Briefe für dich. Zwei kommen aus Wien.«

Aurélie saß auf, wach und erregt. »Schnell,« sagte sie, »gib sie mir.«

»Ich hab sie unten gelassen.«

»Oh,« sagte Aurélie ärgerlich. Adrian eilte aus dem Zimmer, aus Furcht, sie möchte ihn bewegen, die Briefe heraufzubringen. Er beschäftigte sich mit der Zeitung für die nächsten fünfzehn Minuten, bis sie erschien und sich an ihre Korrespondenz machte, indem sie es ihm überließ, den Tee für beide einzugießen. Eine Weile wurde kein Wort gesprochen. Dann erklärte sie mit Nachdruck, als ob sie dem widerspräche, was sie las:

»Aber bestimmt will ich gehen!«

»Gehen – wohin?« sagte Adrian, und wurde bleich.

»Nach Wien – nach Prag – nach Budapest, nach meinem geliebten Budapest.«

»Nach Wien?«

»Sie wollen ein Schumannkonzert in Wien geben. Sie brauchen mich, und sie sollen mich haben. Ich bin eine Spezialität für Schumannmusik: niemand auf der Welt kann ihn spielen wie ich. Und ich habe eine Sehnsucht, meine Wiener Freunde wieder zu sehen. Es ist so fad hier.«

»Aber, Aurélie, ich habe doch meine Arbeit. Ich kann nicht um diese Jahreszeit fortreisen.«

»Das ist auch nicht nötig. Ich dachte gar nicht daran, dich zu bitten, mitzukommen. Nein, meine Mutter wird mich überallhin begleiten. Sie liebt unsere alte Art, zu leben.«

»Du meinst, du willst mich in Kürze verlassen,« sagte er, indem er ganz betroffen dreinschaute.

»Mein armer Adrian,« sagte sie und lehnte sich zu ihm hinüber, um ihn zu liebkosen: »Wirst du ohne mich verzweifelt sein? Aber beunruhige dich nicht! Ich komme zurück mit vielem Geld und tröste dich. Musik ist mein Beruf, wie das Malen der deinige. Wir werden ja nur eine kurze Zeit getrennt sein.«

Adrian war schmerzlich bewegt, aber er konnte sie nur sehnsüchtig ansehen und sagte: »Es scheint, daß die Aussicht, mich zu verlassen, dir Freude macht, Aurélie.«

»Ich bin dieses Lebens überdrüssig. Die Welt hat mich schon vergessen, und andere nehmen meinen Platz ein.«

»Und du wirst in Wien glücklicher sein als hier?«

»Sicherlich. Warum sollte ich sonst wünschen, dorthin zu gehen? Wenn ich in den Zeitungen lese von all der Musik, mit der ich jetzt nichts mehr zu tun habe, sterbe ich fast vor Ungeduld.«

»Und ich, wenn ich so allein in meinem Atelier arbeite, sterbe fast vor Ungeduld, wieder zu dir zurückzukehren.«

»Pah! Das ist noch ein weiterer Grund für mich, fortzugehen. Es ist nicht gut für dich, so verliebt zu sein.«

»Ich fürchte, das ist zu wahr, Aurélie. Aber wird es für dich gut sein, wenn niemand in deiner Nähe ist, der dich liebt?«

»Oh, es gibt überall Menschen, die mich lieben. In Wien, da ist ein Mann – ein Student – sechs Fuß hoch, mit hübschem Haar, der sich durch einen Freund erbärmliche Gedichte anfertigen läßt, von denen er behauptet, es seien seine eigenen. Himmel, wie der mich liebt! In Leipzig, da ist ein alter Professor, fast so verrückt wie du, mein Adrian. Ach ja, ich werde nirgendwo Mangel an Menschen haben, die mich lieben.«

»Aurélie, bist du irrsinnig, oder grausam, oder nur einfältig, weil du mir solche Dinge sagst?«

»Bist du denn eifersüchtig? Ha! Ha! Er ist eifersüchtig auf meinen hübschhaarigen Studenten und auf meinen alten Professor. Aber fürchte nichts, mein Freund. Für alle diese Männer ist meine Mutter ein veritabler Drache. Sie fürchten sie mehr als sie den Teufel fürchten, an den sie freilich nicht glauben.«

»Ich kann dir nicht vertrauen, Aurélie, ich kann deiner Mutter nicht vertrauen.«

»Du sprichst gut. Und wenn du mir nicht vertraust, wirst du mich niemals wiedersehen. Ich habe nur Spaß gemacht. Aber ich muß übermorgen abreisen. Du mußt mit mir nach der Viktoria-Station kommen und sehen, ob mein Gepäck in Ordnung ist. Ich weiß gar nicht Bescheid mit Reisen ohne meine Mutter.«

»Bis du in ihren Händen bist, werde ich dich nicht aus den Augen lassen, mein teurer Schatz,« sagte Adrian weich. »Und du wirst mir oft schreiben, nicht wahr, Aurélie?«

»Ich kann nicht schreiben – das weißt du, Adrian. Mama soll dir schreiben: sie hat immer eine ganze Menge zu sagen. Ich muß angestrengt üben, und ich kann mich nicht hinsetzen und meine Finger mit einem Federhalter quälen. Ich will gelegentlich schreiben – ich bin sicher, daß mir noch Sachen fehlen.«

Adrian beendete schweigend sein Frühstück und blickte dann und wann flüchtig zu ihr hinüber mit einer Mischung von Entzücken und Verzweiflung.

»Und so,« sagte er, als die Mahlzeit vorüber war, »muß ich dich jetzt verlieren, Aurélie.«

»Geh, geh,« antwortete sie, »ich habe viele Vorbereitungen zu machen, und du bist mir im Weg. Du mußt gehörig in deinem Atelier arbeiten bis spät heute abend.«

»Ich dachte mir einen freien Tag zu machen, und mit dir zu Hause zusammen zu sein, Teuerste, da wir schon so bald getrennt sein werden.«

»Unmöglich!« schrie Aurélie aufgeregt. »Mein Gott, welch ein Vorschlag! Du mußt fortbleiben, mehr als jemals. Ich habe zu üben und an meine Toiletten zu denken; ich muß absolut allein sein.« Adrian setzte betrübt seinen Hut auf. »Meine Seele, mein Leben, wie ich dein Herz zerreiße!« fügte sie zärtlich hinzu. Sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände und küßte ihn. Er ging fort, schmerzerfüllt, gedemütigt und verzückt glücklich.

Aurélie arbeitete den ganzen Morgen. Spät nachmittags setzte sie Schumanns Konzerto in A-Dur auf den Klavierständer, machte ihren Sitz davor zurecht und verließ das Zimmer. Als sie zurückkehrte, hatte sie ihre Toilette gewechselt und war in Seide gekleidet. Sie trug ihre schlanke und aufrechte Figur stolzer vor ihrem eingebildeten Publikum, als sie es gewöhnlich vor einem wirklichen zu tun wagte, und als sie an dem Instrument Platz genommen, spielte sie das Konzerto, wie sie niemals das Glück gehabt, es in der Öffentlichkeit zu spielen. Bevor sie zu Ende gekommen, wurde die Tür aufgestoßen, und ein Mädchen kündete an: »Mrs. Herbert.« Aurélie fuhr stirnrunzelnd auf und hatte nur gerade die Zeit ihren bescheidenen Gesichtsausdruck und die angeborene Vornehmheit der Manieren zurückzugewinnen, als ihre Schwiegermutter eintrat, mit einem so imposanten Blick, wie ihn nur eine wohlerzogene Engländerin haben kann, ohne sich lächerlich zu machen.

»Ich fürchte, ich habe Sie gestört,« sagte sie, indem sie graziös näher trat.

»Durchaus nicht. Es ist mir eine große Ehre, Madame. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Mrs. Herbert hatte beabsichtigt, die Frau ihres Sohnes mit einem Kuß zu begrüßen. Aber Aurélie, die ihr die Hand mit würdiger Höflichkeit gab, war nicht nahbar genug dafür. Sie war nicht gerade zurückhaltend, aber auch ebensowenig herzlich. Mrs. Herbert setzte sich, ein wenig bedrückt.

»Sind Sie schon lange in London, Madame?«

»Ich bin erst vorgestern angekommen,« antwortete Mrs. Herbert auf Französisch, das sie ebenso wie Adrian fließend sprach. »Ich bin stets genötigt, den Winter in Schottland zu verbringen, wegen meiner Gesundheit.«

»Dann ist das Klima in Schottland wohl milder als das englische. Nicht wahr?«

»Es ist vielleicht nicht milder, aber ich vertrage es besser,« sagte Mrs. Herbert und sah unfreundlich Aurélie an, die gedankenvoll auf die Feuerstelle blickte.

»Ihre Gesundheit ist, wie ich hoffe, vollständig wieder hergestellt?«

»Vollständig, danke sehr. Ist es auch sicher, daß ich Sie nicht gestört habe? Ich hörte Sie spielen, als ich in das Haus trat, und ich weiß, wie verdrießlich ein Besuch ist, wenn er ernsthafte Beschäftigung unterbricht.«

»Ich bin sehr zufrieden, von Ihnen unterhalten zu werden, anstatt einsame Übungen zu machen.«

»Üben Sie noch immer?«

»Zweifellos.«

»Dann lieben Sie das Spielen außerordentlich?«

»Es ist mein Beruf.«

»Da ich Adrians Mutter bin,« sagte Mrs. Herbert mit einiger Emphase, als ob sie dachte, diese Tatsache sei übersehen worden, »wollen Sie mir eine Frage erlauben?«

Aurélie verneigte sich.

»Üben Sie mit der Absicht, in irgendeiner zukünftigen Zeit Ihre öffentliche Karriere wieder aufzunehmen?«

»Sicherlich. Ich werde nächste Woche in Wien spielen.«

Mrs. Herbert neigte ihren Kopf in erstaunter Zustimmung zu dieser Mitteilung. »Ich dachte, Adrian wünschte, daß Sie sich ganz ins Privatleben zurückziehen würden,« sagte sie. »Indessen lassen Sie mich schnell hinzufügen, nach meiner Ansicht sind Sie sehr weise gewesen, daß Sie ihn umgestimmt haben. Wird er Sie draußen begleiten?«

»Es ist nicht notwendig, daß er das tut. Ich werde wie gewöhnlich mit meiner Mutter reisen.«

»Ihrer Mutter geht es hoffentlich sehr gut?«

»Sehr gut, danke sehr, Madame.«

Dann trat eine Pause in der Unterhaltung ein. Mrs. Herbert fühlte, daß sie wie eine hervorragende Fremde in ihres Sohnes Hause behandelt wurde, aber sie war ungewiß, ob das die Folge von Furchtsamkeit oder die Ausführungen einer wohlerwogenen Absicht von Auréliens Seite war. Sie neigte der ersteren Meinung zu und beschloß, den ersten Schritt zu tun.

»Meine Teure,« sagte sie, »darf ich fragen, wie Ihre Freunde Sie gewöhnlich nennen?«

»Seit meiner Verheiratung nennen mich meine Freunde gewöhnlich Madame Szczympliça –«

»Ich könnte Sie nicht so anreden,« unterbrach sie Mrs. Herbert lächelnd. »Ich könnte das nicht aussprechen.«

»Es ist natürlich nicht korrekt,« fuhr Aurélie fort, ohne auf ihr Lächeln zu antworten, »aber es ist Sitte in Künstlerkreisen, nach der Verheiratung den Namen zu behalten, mit dem sie bekannt geworden. Ich werde dasselbe tun. Meine englischen Bekannten nennen mich Mrs. Herbert.«

»Aber wie ist Ihr Taufname?«

»Aurélie. Aber der wird nur von meinem Mann gebraucht und von meiner Mutter – und von wenigen andern, die mir teuer sind.«

»Nun wohl,« sagte Mrs. Herbert mit einiger Ungeduld, »da es unmöglich für mich ist, Sie als Mrs. Herbert anzureden, muß ich Sie wirklich fragen, ob ich Sie Aurélie nennen darf?«

»Ganz, wie es Sitte ist, Madame,« sagte Aurélie und neigte unterwürfig ihr Haupt. »Sie wissen das viel besser als ich.«

Mrs. Herbert beobachtete sie darauf schweigend und wußte nicht, ob sie boshaft oder töricht war, ob sie sie angreifen oder ermutigen sollte.

»Hoffentlich hat Ihnen Ihre Reise nach Schottland Freude gemacht,« sagte Aurélie, um pflichtgemäß ihren Gast zu unterhalten.

»Wirklich, außerordentlich. Aber ich bin jetzt etwas ermüdet und werde wohl bis August in London bleiben. Wann werden Sie mich in meiner Wohnung besuchen?«

»Sie sind sehr gütig, Madame, ich bin sehr verbunden für Ihre Freundlichkeit. Aber –« Mrs. Herbert blickte schnell auf – »ich reise jetzt sofort nach Wien, von wo ich nach Leipzig und in viele andere Städte gehe. Ich werde für eine sehr lange Zeit nicht mehr über mich verfügen können.«

Mrs. Herbert dachte eine Weile nach, dann erhob sie sich. Aurélie erhob sich ebenfalls.

»Adieu,« sagte Mrs. Herbert und reichte ihr die Hand.

»Adieu, Madame,« sagte Aurélie und grüßte sie mit würdevoller Höflichkeit. Dann ging Mrs. Herbert fort. Als sie die Straße erreicht hatte, rief sie einen Hansom an und fuhr zum Atelier ihres Sohnes, Fulham Road. Sie fand ihn vor seiner Staffelei, schneller arbeitend und weniger achtsam als in früheren Zeiten.

»Wie geht es, Mutter,« sagte er. »Setz dich nieder auf den Thron.« Der Thron war ein Stuhl, der erhöht auf einer Tribüne stand zur Bequemlichkeit für lebende Modelle. »Wir hätten dich besuchen sollen, aber Aurélie verreist. Sie hat keinen Moment zu verlieren.«

»Nein, Adrian, das hättet ihr nicht zu tun brauchen, wenn ihr es auch zweifellos hättet tun wollen. Es war meine Schuldigkeit, zuerst deine Frau zu besuchen, und ich komme demnach soeben aus deiner Wohnung.«

»Wirklich?« sagte Adrian begierig und etwas ängstlich. »Hast du Aurélie gesehen?«

»Ich sah Aurélie.«

»Nun, was denkst du von ihr?«

»Ich denke, ihr Benehmen ist tadellos, ihre Kleidung und Erscheinung sind über jeder Kritik.«

»Und war da – kamt ihr gut miteinander aus?«

»Deine Frau ist eine Dame, Adrian, und ich bin auch eine Dame. Unter solchen Umständen sind Unannehmlichkeiten irgendwelcher Art nicht möglich. Wir sind uns vollständig darüber einig, obgleich es nicht ausgesprochen wurde, daß ich dein Haus nicht mehr betreten soll, und daß ihre Verbindlichkeiten deine Frau verhindern, mir meinen Besuch zu erwidern.«

»Mutter, sprichst du ernsthaft?«

»Ganz ernsthaft, Adrian. Ich bin hierhergekommen, um dich zu fragen, ob deine Frau einfach nach deinen Wünschen handelt, oder ob sie aus sich selbst heraus es vorzieht, keine Bekanntschaft in deiner Familie zu pflegen?«

»Pah! Du mußt irgend etwas Eingebildetes übelgenommen haben.«

»Ist das die deutlichste und vernünftigste Antwort, die du dir ausdenken kannst?«

»Es ist nicht Mangel an Vernunft, wenn ich annehme, daß Aurélie als Ausländerin nicht bei jeder Gelegenheit die englische Etikette versteht. Du wirst sie mißverstanden haben. Auch du kannst dich irren, Mutter.«

»Ich habe dir schon gesagt, daß die Manieren deiner Frau ausgezeichnete sind. Wenn du dabei bleibst, daß man sich auf mein Urteil nicht verlassen kann, dann hat es keinen Zweck, wenn wir noch miteinander reden. Was ich zu wissen wünsche, ist das: Vorausgesetzt, um deine Einwendungen zu vermeiden, daß ich recht habe mit meiner Ansicht von der Sache, hat sich deine Frau so benommen, wie sie es tat, auf deine Anordnung oder aus ihrem eigenen freien Willen?«

»Ganz bestimmt nicht nach meiner Anordnung,« sagte Adrian ärgerlich. »Ich habe nicht die Gewohnheit, ihr Anordnungen zu geben. Und wenn ich es täte, wären sie nicht von dieser Art. Wenn Aurélie dich höflich behandelt hat, so sehe ich nicht ein, welches Recht du hast, mehr zu erwarten. Sie bewunderte dich aufs höchste, als sie dich zum erstenmal sah. Aber ich weiß, sie fühlte sich verletzt durch die Art, wie du sie miedest, als unsere Verlobung bekannt war, selbst als du mit ihr in demselben Zimmer warst.«

»Sie hat nicht das mindeste Recht, sich in dieser Hinsicht verletzt zu fühlen. Es war deine Sache, sie mir als die Dame vorzustellen, die du heiraten wolltest.«

»Ich fühlte mich nicht dazu ermutigt nach dem, was wegen dieser Angelegenheit zwischen uns vorgefallen war,« sagte Adrian kühl.

»Wir brauchen das nicht noch einmal durchzugehen. Ich möchte dich einfach fragen, ob du erwartest, daß ich noch ein weiteres Zugeständnis machen soll. Du hast dir jetzt eine Art angewöhnt, mir die verschiedenartigsten Pflichtversäumnisse dir gegenüber vorzuwerfen, und ich wünsche nicht, daß du irgendeine Entfremdung zwischen deiner Frau und mir meiner Vernachlässigung zuschreibst. Ich habe sie besucht, und sie fragte nicht, ob sie mich wiederbesuchen könnte. Ich habe mich bemüht, sie als Familienmitglied zu behandeln: sie bestand höflich auf der allerentferntesten Bekanntschaft. Ich bat sie, mich zu besuchen, und sie entschuldigte sich. Konnte ich mehr tun?«

»Ich denke, du konntest es beim erstenmal.«

»Kann ich jetzt mehr tun?«

»Das kannst du besser beantworten als ich.«

»Ich fürchte so, denn du scheinst unfähig zu sein, mir eine ehrliche oder höfliche Antwort zu geben. Indessen, da du nichts zu sagen hast, laß es, bitte, für die Zukunft wohl verstanden sein, daß ich ausdrücklich gewillt war, deine Frau zu empfangen; daß ich die gewöhnlichen Schritte tat, und daß sie zu nichts führten durch ihr Tun, nicht durch das meine.«

»Ganz recht, obgleich ich nicht glaube, daß diese Angelegenheit in der Welt viel Interesse erregen wird.«

»Danke sehr, Adrian. Ich denke, ich gehe jetzt. Ich hoffe, du behandelst deine Frau in einer hochherzigeren und rücksichtsvolleren Art, wie du jetzt begonnen hast, mich zu behandeln.«

»Sie beklagt sich nicht, Mutter. Und ich habe niemals beabsichtigt, dich rücksichtslos zu behandeln. Aber du greifst mich öfters in einer Weise an, die meinen beständigen Wunsch, dich zu versöhnen, lähmt. Es tut mir leid, daß du keinen besseren Erfolg bei Aurélie gehabt hast.«

»Mir auch. Ich dachte nicht, daß sie schon lang genug verheiratet war, um den Wunsch, dir zu gefallen, verloren zu haben. Vielleicht dachte sie aber auch, sie würde dir am besten gefallen, wenn sie sich fern von mir hielte.«

»Du bist voll von ungerechten Vermutungen. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt. Sie weiß, daß ich einen Widerwillen vor Familienzwistigkeiten habe.«

»Dann gibt sie sich nicht viele Mühe, um dir zu gefallen.«

Adrian errötete und schwieg.

»Und du? Bist du noch so vernarrt wie voriges Jahr?«

»Ja,« sagte Adrian trotzig mit brennenden Wangen. »Ich liebe sie mehr als jemals. Ich verlange danach, mit ihr zu Hause zu sein, in diesem Augenblick. Wenn sie fortgeht, werde ich elend sein. Von allen Lügen, die Leute erfunden haben, welche selbst niemals liebten, ist die Lüge, daß die Ehe die Liebe auslöscht, die falscheste, wie sie auch die selbstsüchtigste und zynischste ist.«

Mrs. Herbert sah ihn erstaunt und zweifelnd an. »Du bist ein seltsames Kind,« sagte sie. »Warum gehst du denn nicht mit ihr nach dem Kontinent?«

»Sie will mich nicht mithaben,« sagte Herbert kurz, indem er sein Gesicht abwandte und so tat, als ob er seine Arbeit wieder begänne.

»Wirklich!« sagte Mrs. Herbert. »Und du willst ihr nicht in den Weg treten, auch hierin nicht?«

»Sie hat ganz recht, wenn sie wünscht, daß ich hier bleibe. Ich würde nur Zeit versäumen, und ich käme aus der Arbeit heraus bei einer Kette von Konzerten. Ich will hier bleiben – wenn ich kann.«

»Wenn du kannst?«

»Ja, Mutter, wenn ich kann. Aber ich glaube, ich werde wieder bei ihr sein, bevor sie eine Woche fort ist. Ich mag ein gleichgültiger Sohn gewesen sein; und ich weiß, ich bin ein schlechter Ehemann, aber ich bin der vernarrteste Liebhaber in der Welt.«

»Aber du sagst, du wärst ein schlechter Ehemann?«

»Nicht ihr gegenüber. Aber ich tue nicht genug in meinen Pflichten gegen mich selbst.«

Mrs. Herbert lachte. »Mach dir darüber keine Gedanken,« sagte sie. »Die Zeit wird dich von diesem Fehler heilen, wenn er irgendwo außer in deiner Einbildung existiert. Ich kannte niemals einen Mann, der zu wenig auf sich selbst besorgt war. Adieu, Adrian.«

»Adieu, Mutter.«

»Welch ein Esel bin ich, daß ich zu ihr von meinen Gefühlen spreche!« sagte er zu sich selbst, als sie gegangen war. »Nun wohl, wenn sie sie nicht versteht, stellt sie sich wenigstens auch nicht so an. Nein, dafür hat sie nicht genug Mitgefühl. Sie fragte mich nicht einmal, ob sie meine Bilder sehen könnte. Das würde mich früher verletzt haben. Jetzt aber habe ich die Bürde, meine Mutter nicht leiden zu können, mit der schwereren vertauscht, meine Frau zu lieben.« Er seufzte und nahm seine Arbeit wieder auf trotz des entschwindenden Lichts.


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