Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

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18

»Zigarren! Zigaretten! Tschokolade!«

»Zigarren! Zigaretten! Tschokolade!«

»Tschokolade! Zigarren-zigaretten!«

»Mineralwasser, Bier, heiße Würstchen!«

»Achtung da, bitte!«

»–etten –aade . . .«

»Mineralwasser, Bier, heiße Würstchen!«

»Zigarren–aretten–olade!«

». . . wenn nicht, dann im nächsten Jahr! Schreib!«

»Pssst! Hallo! Berliner Illustrierte!«

»Zigarren!! Zigaretten!! Tschokolade!!«

»Platz da, bitte!«

». . . den Emmerich grüß schön!«

»Zigarrenzigaretten–aaade!«

»Mineralwasser, Bier, heiße . . .! – bitte sehr!«

»Platz nehmen!!«

»–etten –ade . . .«

»Platz nehmen, bitte!!«

»Verzeihung!« »Bitte sehr.«

». . . aber Unsinn, ich hab's doch bei mir!«

»... mh ... mh . . . leb recht wohl!«

314 »Vergiß nicht! Akersgaten hundertzweiunddreißig . . .«

»Tschutschka, Bussi!«

» . . . die Frau Müller!«

»also –?«

»– September!«

»Zweiundzwanzig be! Zwo-und-zwanzig bee!!«

». . . üß –ich –Ott«

»Paaa!«

». . . – – Aaaaaaaah . . . öööööh . . . eeeee . . . eee« – – –

Romeo beugt sich weit aus dem Waggonfenster. Gleich den beiden anderen Herren am Nebenfenster, winkt er mit der Hand zurück. Er bemerkt es und hält inne. Den einen der beiden Herren glaubt er vom Sehen zu kennen. Ein Rietheimer ist es. Der Gedanke berührt ihn irgendwie unangenehm. Er möchte in diesem Zug mit der Riesenlokomotive und den fabelhaften Wagen – ihnen haftet bereits etwas von der anderen unbegrenzten Welt an – durch nichts mehr an seine ehemalige Welt erinnert werden, die er nun mit rapid zunehmender geräuschloser Geschwindigkeit hinter sich läßt.

Im nächsten Augenblick aber hat Romeo bereits die Anwesenheit des Rietheimer Gespenstes vergessen. Von neuem beugt er sich aus dem Fenster. Der scharfe Luftzug nimmt ihm den Atem, fegt durch seine Haare. Romeo ist maßlos glücklich. Gierig nimmt er das wundervoll abgedämpfte Geräusch der vorwärtsschießenden Bewegung in sich auf. Er fühlt ein Wohlbehagen ohnegleichen jedes Teilchen seines 315 Körpers durchdringen. Was für ein junger strahlender Tag!

Er taumelt gegen die Wand. Der Zug nimmt eine scharfe Kurve. Der Viadukt! – erkennt er. Sein und Yvetts Viadukt . . . Ein Schatten flüchtet über seine Züge. Gleich darauf strahlt sein Gesicht wieder in ungetrübt-jugendlichem Frohsinn. Die Stadt, das ganze Rietheim, liegt jetzt klein und fern geworden vor Romeos Augen. Wie die jubelnde Frühlingssonne das graue Nest verschönt! Das Nest . . . – Romeo lächelt über sich. Er denkt, scheint es, nur noch in Kontinenten und rechnet in Jahrhunderten, wie er das von einem großen Mann, einem Nicht-Rietheimer, einmal irgendwo gelesen hat. Romeo bereitet es Spaß, aus dem fern und ferner werdenden Gewimmel der Häuser und Häuschen noch das eine oder das andre bekannte Dach herauszulösen. Das giebelgeschmückte Dach von Franz Maria Lotters Patrizierhaus auf dem Marienplatz, das schmucklose nüchterne der neuen Mietskaserne, in der Lotte wohnt . . .

Rietheim verschwindet im Blau. Donnernd verdecken Felsen die letzten bläulichen Spuren der verschollenen Stadt. –

Gierig nimmt Romeo den Rhythmus des dahinschießenden Zugs in sich auf. Kirstenjo-hannsen, kirstenjo-hannsen, kirstenjo-hannsen, kirstenjo-hannsen. Romeo lacht vor sich hin. Über das ganze Gesicht.

Romeo tritt vom Fenster zurück. Der Gang ist leer; das mitreisende Gespenst der Vergangenheit scheint sich bereits ins Abteil zurückgezogen zu haben. Romeo wirft durch das Coupéfenster einen Blick auf die beiden Koffer über seinem Eckplatz. Er öffnet die 316 Tür des Abteils, errötet leicht. »Verzeihen Sie vielmals, gnädige Frau«, spricht er die weißhaarige Dame in der Fensterecke an, »würden Sie nicht die große Güte haben – eine kleine Weile nur! – auf meine Koffer acht zu geben? Ich möchte nämlich rasch mal in den Speisewagen gehn, frühstücken. Ich hab nämlich noch nicht gefrühstückt.«

Ein wohlwollend aufmunterndes Lächeln trifft ihn. Ein bejahendes Kopfnicken. Freudig schließt er die Tür, eilt davon. Im Toiletteraum richtet er vor dem Spiegel sorgfältig das Pflaster auf der Wange und die Haare zurecht, freut sich dabei unbändig über den Anblick des neuen Mantels, den er offen trägt, so daß die Gürtelenden zu beiden Seiten hinabbaumeln – »Trenchcoat« heißt das Zeug, erinnert er sich.

Die Reisemütze zerknüllt in der Faust, setzt er zögernd über beängstigend schwankende Plattformen hinweg, er eilt durch die luxuriösen Gänge der Ersten Klasse, des Schlafwagens – welche Pracht! Er erreicht den Speisewagen, dessen internationalem Fluidum schon seit Tagen seine unmittelbare Sehnsucht gilt.

Aufatmend nimmt er an einem freien Tischchen Platz. Mit lässig-zerstreutem Ausdruck dankt er für die Beflissenheit des uniformierten Kellners. Er hält die Karte in der Hand. Unsicherheit überkommt ihn. Er blickt nach den anderen Tischen hinüber. »Komplettes Frühstück, mein Herr?« hört er den Kellner fragen. »Komplettes Frühstück, ja!« beeilt er sich zu erwidern; erleichtert, doch nicht ohne den gewissen leicht gelangweilten Ausdruck, den er sehr genau von den Grandseigneuren des Films her kennt.

317 Fast alle die Tischchen sind besetzt. Wunderbar! Diese unauffällige gedämpfte Eleganz der Leute hier! Das ist schon die andere Welt! – stellt Romeo mit innerster Genugtuung fest. Einer frühstückt sogar in Handschuhen . . . Ach, aber das ist wohl nicht guter Geschmack –! Die am Nebentisch jedenfalls scheinen sich darüber lustig zu machen . . .

»O gewiß, bitte sehr!« beeilt sich Romeo mit einer hastigen Verbeugung dem vor ihm stehenden gepflegten Herrn zu erwidern. Der Herr nimmt Romeo gegenüber Platz, wirft die Reisemütze ins Netz, streift die Handschuhe ab: ein jüngerer, martialisch aussehender Herr; Schmisse auf der Backe.

»Erlauben Sie, mein Herr.« Der Kellner stellt das Tablett mit dem kompletten Frühstück vor Romeo auf die Tischplatte. »Bitte sehr«, murmelte Romeo verwirrt und lehnt sich in den Sessel zurück. Zusammenschreckend fährt er mit der Hand plötzlich an die Brust. Gott sei's gedankt, es ist noch da, das Leinensäckchen mit dem Geld unter dem Hemd. Das zu verlieren wäre so ein Spaß . . .!

Gedankenverloren tut Romeo Zucker in den Tee.

»Herrlicher Reisetag heute, nicht wahr?« richtet der Herr am Tisch plötzlich das Wort an Romeo.

»Ja, ja, ganz wunderbar zum Reisen!« beeilt sich Romeo mit einem dankbaren Lächeln zu erwidern. Er zuckt leicht zusammen: der Tischgenosse ist halb von seinem Stuhl in die Höhe geschnellt, blickt Romeo nun streng in die Augen, hält ihm die Hand entgegen. »Gestatten! Diplomingenieur Rolich!«

Errötend schnellt Romeo gleichfalls halb in die Höhe, ergreift die ihm entgegengehaltene Hand.

318 »Freut mich sehr! Doktor Reif.« Er setzt sich, zugleich mit dem andern, sieht ihn Butter auf ein Brötchen streichen, tut das gleiche.

»Jurist?«

»Ja, Jurist.«

Romeo spürt, daß er einen roten Kopf hat, und ärgert sich darüber. Höflich lächelnd hört er nicht, was sein Gegenüber ihm nun in munterer martialischer Rede entwickelt. Was war denn das nun wieder, diese alberne, gänzlich überflüssige Lüge? – denkt er, und ein Schatten von Unmut und Trauer geht über sein Gesicht. Ich werde noch sehr viel und sehr lange an mir arbeiten müssen, bevor ich das Erbe Rietheims in mir überwunden habe . . . Sein Blick fällt auf die vorbeifliegenden grünen sonnetrunkenen Felder draußen. Aber es wird mir gelingen! verspricht er sich mit einem verstohlenen kleinjungenhaften Lächeln, der große Mann eines kommenden europäischen Jahrzehnts.

 

Ende.


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