Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

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11

Den folgenden Sonntag verbrachten Lotte, Romeo und Yvett abermals in den Bergen. Auch diesmal hatte es vieler Überredungskünste Yvetts bedurft, um Lotte zu dem Ausflug zu bewegen. Willig hatte Yvett die Rolle der Bittenden, Überredenden gespielt; obschon sie genau zu wissen glaubte, daß Lotte im Innersten nach nichts anderm verlangte, als den freien Tag abermals in ihrer, in Romeos Gesellschaft zu verbringen. Ja sie war überzeugt, daß Lotte insgeheim Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um eingeladen zu werden, oder aber den Ausflug gänzlich zu verhindern. Nichts leichter als das, sie brauchte doch nur am Sonntag vormittag einen Besuch bei den Eltern zu machen und in aller Harmlosigkeit nach Yvetts Verbleib zu fragen.

Yvett hätte es bei weitem vorgezogen, mit Romeo allein den Ausflug zu machen und nur den Eltern gegenüber sich auf Lottes Gegenwart berufen zu 177 dürfen. Aber auf die allererste derartige Andeutung hin – »weißt du, Lottchen, man kann dir ja eigentlich nicht zumuten, dich in unserer Gesellschaft zu mopsen, vielleicht ziehst du es vor, eine oder zwei Haltestellen vorher auszusteigen und dich unabhängig zu machen?« – schon auf diese erste sachte Anspielung hin war Lotte frostig wie eine Eissäule geworden und hatte mit Entschiedenheit erklärt: »Allerlei kannst du von mir haben, liebes Kind, aber eine gewissenlose Lüge –? Nein. Wenn ich deinen Eltern gegenüber behaupte, daß ich mit dir fahre, dann muß ich auch tatsächlich mit dir fahren. Vergnügen macht es mir, wie du dir denken kannst, ja bei Gott nicht.«

Alles, nur keine Lüge . . . Was hatten sie die Eltern nicht gemeinsam angelogen, seit Jahren. Jetzt auf einmal, dieses Ethos! Aber was blieb Yvett anderes übrig, als leicht beschämt zu tun und bittend in Lotte zu dringen, so möge sie denn auch diesen freien Sonntag abermals ihrer Freundschaft zum Opfer bringen. Bis die Unnahbare durch ein stummes Kopfnicken schließlich opferbereit ihre Zustimmung zum Ausdruck brachte.

Auf der Übungswiese und nachmittag auf einer längeren Tour, konnte Lotte mit einiger Befremdung aber nur feststellen, daß gegenüber dem vorhergegangenen Sonntag die Herzenseinigkeit Romeos und Yvetts unerschütterlich geworden zu sein schien. Ja die beiden scheuten sich nun gar nicht mehr, in ihrer, Lottes, Gegenwart Zärtlichkeiten auszutauschen. Was Lotte in nicht geringe Verwirrung setzte; obwohl sie das meiste nicht zu bemerken schien, ganze weite Strecken allein vorausfuhr und im übrigen bemüht 178 war, nichts als stille Freude über diesen Herzensbund zur Schau zu tragen.

Yvett fiel es auf, daß Romeo ihr vornehmlich dann übers Haar strich, sie auf die Wange küßte, oder ihr lachend zumindest irgend etwas Dummes, Zusammenhangloses ins Ohr flüsterte, wenn Lotte zugegen war; hingegen verriet er in Lottes Abwesenheit öfters Anzeichen von Zerstreutheit. Romeos Liebesbezeigungen hatten darum auch nichts Beglückendes für Yvett, bedrückten sie im Gegenteil; dennoch tat sie nichts, um sie abzuwenden. Mochte wenigstens Lotte noch einige Zeit den Eindruck haben, daß zwischen Romeo und ihr alles aufs beste stand.

In der Tat fühlte sich Romeo in seinen Empfindungen zu Yvett durch Lottes Gegenwart und Zeugenschaft merkwürdig erwärmt. Fast konnte er sich – und bei dem Gedanken mußte er lächeln – fast konnte er sich diese Beziehungen ohne Lotte jetzt gar nicht mehr vorstellen. Im übrigen war er freilich ohne Rückhalt der Meinung, daß Yvetts Liebe ihn wahrhaft erfülle, und daß er gegen den gewiß unleugbaren Reiz von Lottes Person aus irgendeinem Grund völlig unempfindlich sei. Wahrscheinlich deshalb, weil die arme liebe Yvett durch Lotte doch in allem stets verkürzt worden war. Wie die sich von Yvett nur wieder hatte bitten lassen, bevor sie dieses Mal mitmachte! Alle erdenklichen Schwierigkeiten hatte sie gemacht, nur um Yvett zu demütigen. Yvett hatte ihm alles ganz genau erzählt. Na, bei ihm sollte die Kleine mit ihren Schlichen jedenfalls kein Glück haben, da würde sie auf Granit beißen! Er war zwar beileibe kein Moralphilister, Vorurteile und derlei, 179 das kannte er nicht, und so ein vorübergehendes Kosestündchen mit der taufrischen Lotte, das mochte ja gewiß ganz lockend sein. Aber er war kein Verräter, nein, der war er niemals gewesen. Den Triumph aber, den er Lotte damit schaffen würde, das wäre Verrat, infamer Verrat an Yvett, die ihn doch beispiellos liebte. Überhaupt schätzte er die inneren Eigenschaften allzusehr, als daß er für den Reiz einer flüchtigen Stunde unwiederbringliche Gefühlswerte dahingegeben hätte. Schade nur, daß er Lotte nicht noch geflissentlicher en bagatelle behandeln konnte, es hätte ihm das ein beispielloses Vergnügen gemacht, sei es auch nur um zu sehen, ob es Lotte in Erregung brachte, von ihm en bagatelle behandelt zu werden. Das zu wissen, hätte ihn wirklich interessiert. Aber Lotte könnte das doch sehr leicht zum Vorwand nehmen, um sich von ihm und Yvett gänzlich abzuwenden. Und was dann?

Abends, auf der Heimfahrt in dem kleinen, heute nahezu leeren Sportzug, stand Lotte allein auf dem Gang und blickte in die vorüberziehende dunkle Landschaft hinaus. Yvetts mehrmals wiederholte Aufforderung, sie möge doch im Abteil bei ihr und Romeo bleiben, hatte sie freundlich, aber sehr bestimmt mit der Bemerkung zurückgewiesen, sie stehe sehr gern draußen, weil die vorüberziehende dunkle Landschaft sie zum Nachdenken über etwas anrege, was sie sehr beschäftigte. Was das sei, hatte sie aber trotz mehrfachen Fragen, auch Romeos, nicht gesagt.

Nun stand sie also am Gangfenster, blickte in die vorüberziehende dunkle Landschaft hinaus, ohne sie zu sehen, und grübelte, was das wohl für ein Gedanke 180 sein könnte, dem sie hier draußen, allein mit der vorüberziehenden Nachtlandschaft, nachhängen wollte. Unmittelbar nachher belehrte sie ein verstohlen ins Abteil geworfener Blick, daß innen die beiden bereits in eine angelegentliche, offenbar flüsternd geführte Unterhaltung vertieft waren. Man schien sie also durchaus nicht zu vermissen, na schön! Sie würde wissen, was sie in der Zukunft zu tun hatte. Sie hatte es ohnehin satt, jawohl, das ganze verdroß sie, und überdies konnte sie ganz einfach nicht so verantwortungslos sein, weiterhin den Deckmantel dieses . . . Verhältnisses abzugeben. Nein, das durfte sie schon Yvetts Eltern wegen nicht, auf keinen Fall. Das hatte sie Yvett übrigens schon neulich gesagt, als die sie abermals zum Mitkommen aufforderte, aber Yvett hätte darin doch vermutlich nur ihre, Lottes, Verstimmung über eine erlittene Niederlage erblickt. Lächerlich, um sie rissen sich ganz andere. Diesen falschen Triumph aber konnte sie der Freundin zu allem wirklich nicht noch bereiten. Ach was, das nächste Mal würde sie trotzdem glatt Nein sagen. Mochten die drinnen sich dann denken, was sie wollten. Zur Mitwisserin sträflicher Heimlichkeiten würde sie sich nicht hergeben, nein.

Da, mit einem Mal, sah Lotte nun doch etwas von der Landschaft draußen: Mitten in schneeiger Einöde, ganz dunkel, verschwommen, einen Baum. Einen einzelnen Baum. Ein tiefes schmerzliches Mitleid mit diesem einsamen Baum überkam sie. Und auch mit sich selbst. War sie nicht ebenso einsam? Sie galt für ein Glückskind. Alles gelang ihr, alle waren ihr zugetan, manche taten sogar, als würden sie sich vor 181 Sehnsucht nach ihr verzehren. Und doch hatte sie niemand. Von denen, die sie hätte haben können, mochte sie keinen. Die beiden da drinnen im Abteil, und alle überhaupt, die hatten den Menschen, den sie haben wollten. Yvett, der sie sich in allem so überlegen geglaubt hatte, sie hatte den Menschen, den sie liebte. Und sie –? Was sie da vorhin sich selbst vorgemacht hatte, mit der Verantwortung und so, das war Lüge, nichts als Lüge. Sie beneidete Yvett. Jawohl, sie neidete ihr diesen jungen gescheiten Menschen, dem sie, Lotte, total gleichgiltig zu sein schien. Und darum wollte sie den beiden auch Hindernisse in den Weg legen. Das war sehr häßlich, sehr niedrig von ihr. – Aber, Gott, was sollte sie denn wirklich tun? Die Rolle, die sich hier für sie ergab, die mochte, die konnte sie nicht weiter spielen, nein, unter keinen Umständen. Selbst wenn Romeo Interesse für sie gewinnen würde. Durch diese beharrliche Liebe zu Yvett war er für sie nun doch bereits entwertet, auf immer verloren – – Wozu also die ganze unwürdige Komödie? Sie wollte allein sein! Allein? Nein, nicht allein! Auch das ertrug sie nicht länger! Sie mußte . . . sie mußte einen Menschen finden, den sie dann ganz für sich haben würde, einen ebenso einsamen ragenden Menschen wie Axel Kolbenstetter – und doch ganz anders als Axel Kolbenstetter . . . – –

Verloren, losgelöst von allem, was sie umgab, starrte Lotte mit feuchten Augen, die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe gepreßt, in die vorüberziehende nächtliche Stille hinaus. Und der Ausdruck ihres Gesichtchens, jetzt, da niemand es sah, war, träumend und 182 zum Träumen stimmend, so rührend und schön, daß er Lottes Einsamkeit zu enträtseln schien.

In Lottes Rücken, im Abteil, sprachen Yvett und Romeo flüsternd miteinander. Daß man Lotte wirklich nicht zumuten könne, ihre Sonntage in dieser für sie wenig erquicklichen Weise zu verbringen, meinte Yvett. Lotte würde übrigens kaum länger mittun. Und was dann –? Ohne Lotte war an einen Ausflug, oder auch nur an ein Zusammentreffen, doch gar nicht zu denken. Ob Romeo denn wirklich niemand kenne, der für Lotte in Betracht käme – irgendeiner seiner Freunde, der dann als Vierter im Bunde die Ausflüge mitmachen könnte? In diesem Fall würden sie übrigens auch öfters und länger miteinander allein bleiben können – setzte sie errötend hinzu.

Romeo blickte mißmutig vor sich hin. Es war ihm unangenehm, zu denken, daß Lotte dann nicht mehr der Gegenstand seiner Gleichgiltigkeit, die wärmende Zeugin seiner Liebe zu Yvett wäre. Aber Yvett hatte recht: es mußte ein Vierter gefunden werden, sonst war's mit allem zu Ende. Aber wenn er nur einen wüßte! Seine Freunde . . . hm, er hatte nicht viele, auch waren das durchwegs unreife, zudem reichlich unbedeutende Jungens. Die würden Lotte wenig interessieren. Die könnten Lotte am Ende nämlich wirklich interessieren, dachte er insgeheim. Denn sie waren jung, mutig und unmoralisch.

»Nein, irgendein besonderer Mensch müßte es sein«, flüsterte Yvett gespannt. »Ein Künstler vielleicht, oder so . . .«

»Ein Künstler – –«, wiederholte Romeo 183 nachdenklich. »Na was ist's mit Herrn Knauschner?« fuhr er lächelnd auf.

»Um Gotteswillen!« lachte Yvett. Nein, der wäre nicht nach Lottes Geschmack, er sei zu real und zu realistisch. Auch würde der bei so was gar nicht mitmachen wollen. Dem seien seine Saufkumpane und ein saftiges Stück Dienstmädchen weitaus lieber.

»Wart einmal«, unterbrach Romeo; er blickte angestrengt zur Decke hinauf. »Ich weiß einen! – Franz Maria Lotter!«

»Was? Den . . . den Bildhauer?«

»Den Bildhauer«, bestätigte Romeo grinsend. »Was meinst du dazu?«

Yvett blickte überlegend vor sich hin. »Gar keine schlechte Idee. Er sieht ganz apart aus, ist angeblich ein bißchen verrückt, oder nicht?«

»Doch«, beruhigte Romeo sie.

»Also ausgezeichnet. Du, ich glaube, das wird gehen! Aber . . . er ist doch schon ziemlich alt, nicht?«

»Über vierzig.«

»Und du kennst ihn?«

Romeo nickte. »Flüchtig. Aber das tut nichts. Ich werde gleich morgen mal mit ihm sprechen.«

»Ich glaube, daß Lotte ihn nicht kennt«, murmelte Yvett, mit einem grübelnden Ausdruck.

»Um so besser«, entschied Romeo gut gelaunt.


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