Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9

Yvett war fertig. Trotzdem blieb sie noch länger vor dem Spiegel stehn; sie drehte und wendete sich und betrachtete sich von allen Seiten. Na, heute konnte sie sich aber mit einer jeden messen! Unglaublich, wie gut diese lange Abendtoilette sie kleidete. Wie erwachsen sie darin wirkte. Eine fertige Dame.

Allerdings . . . die Lotte würde wohl auch bereits in solch einem langen Abendkleid erscheinen. Natürlich. Die kam doch niemals zu spät, die, in gar keiner Beziehung. O Gott, wenn sie jetzt daran dachte, daß Romeo die Lotte doch heute unwiderruflich kennenlernen wird . . . Und sie ihn. Aber es war doch wirklich nicht anders mehr zu machen gewesen, das ganze. Nun sie war indessen schon so schlau gewesen und hatte Romeo von Lotte mancherlei erzählt, was nicht gerade für sie einnahm, nein, wirklich nicht. »Ein widerwärtiger Charakter«, hatte Romeo sich geäußert. Solche Weiber könne er nicht 117 ausstehn, hatte er gesagt. Und Romeo war schließlich ein Mensch mit Überzeugungen, ein Charakter, kein Schwätzer. Wenn der sich einmal ein Urteil gebildet hatte, dann hielt er daran auch fest. Wie Eisen.

Mit nervösen Fingern zerrieb Yvett immer mehr Rouge auf ihren Wangen. Strahlend wollte sie heute wirken. Und alles alles in den Schatten stellen. Sie wollte denn doch einmal sehen –!

O ja, Romeo war ein Charakter, das unbedingt. Wie er beispielsweise nur den Verbrecher dort in dem anrüchigen Hause gezüchtigt hatte, gleich auf die erste, die allergeringste Beleidigung hin. Gott, wenn sie dachte, daß sie, sie selbst, den lieben lieben Jungen in diese furchtbare Gefahr hineingehetzt hatte. Aber wie grundbescheiden er ihr von dem entsetzlichen Vorfall erzählt und alle Bewunderung strenge von sich gewiesen hatte; so als wenn es etwas ganz und gar Selbstverständliches wäre, daß ein Einzelner, ein so zarter feiner Junge noch dazu wie Romeo, mitten in einer Verbrecher- und Dirnenspelunke einem Angreifer kurzerhand ins Gesicht schlägt und die anderen dann mit erhobenem Bierglas in Schach hält. Also entsetzlich, das mußte sie gleich wieder wegwischen, das war schon zuviel. Zuviel Rouge. Wie ein gekochter Krebs sah sie schon aus. So, jetzt war es richtig.

Noch ein allerletzter prüfender, befriedigt aufleuchtender Blick in den Spiegel, und Yvett trat in das türkische Rauchzimmer, in den Biedermeier-Damensalon hinaus. Fabelhaft war alles hergerichtet! Vater und Mutter schienen noch bei der Toilette zu 118 sein. – Yvett betrat den großen Salon. Ja was war denn das –? Davon hatte man ihr doch noch gar nichts gesagt. Die Bilder, die sonst hier hingen, das holländische Schokolademädchen, die Reiterschlacht und das ein klein wenig aufschneiderische Gemälde von Vaters Fabrik im Abendhimmel – Vater sagt zwar: nein, das liege bloß an der Perspektive – sie alle waren verschwunden, und an ihrer Stelle hingen farbige Drucke vom Lido, von der Seufzerbrücke, vom »Hotel Bauer-Grünwald«, wo die Eltern gewohnt hatten, von der Engelsburg und vom Vesuv. Wo hatten die Eltern diese Ansichten bloß aufgetrieben? Sie dachten doch wirklich an alles.

Es duftete im Salon, ein ganz fremdartiger Duft war es, wie Pinien oder sonst etwas Italienisches, schön warm war es auch, gerade richtig. Sehr behaglich, sehr stimmungsvoll. Wie wird das alles auf Romeo wirken? Der hat so etwas doch noch nicht gesehen, nie mitgemacht. Ob er sie daraufhin wohl mehr liebhaben wird, weil ihr das alles doch sozusagen mitgehörte, oder am Ende weniger –? Weil sie ihm dadurch doch gleichsam ein wenig entrückt wurde. Wie die Prinzessin dem kühnen armen Sänger. Ach was, Unsinn.

Die Flügeltür zum Speisezimmer war geschlossen. Yvett öffnete sie zu einem Spalt, warf einen Blick hinein. Ein Aushilfsmädchen legte die letzte Hand an den herrlich geschmückten Tisch. Sie hatte rotverweinte Augen. Da mußte es wiederum Krach gegeben haben in der Küche. Wie immer, wenn Gäste erwartet wurden.

Ein Schritt wurde laut; der Vater betrat den Salon. 119 Er war anscheinend in strahlender Laune, er begrüßte Yvett mit einem lauten Zuruf. Bewundernd blickte Yvett ihm entgegen: er sah wirklich wie ein Graf aus, der Vater. Geradezu schön sah er aus, in seinem wie angegossen sitzenden Smoking, oder wie man das nannte.

»Weißt du, wie mir das vorkommt, Yvett?« rief Herr Winternitz begeistert aus. »Also genau wie in der Oper . . . Tannhäuser, ja. Genau wie im Tannhäuser.«

»Was denn, Vater?«

»Wie, du kennst den Tannhäuser nicht, na höre mal? Nun, da sieht man auf der Bühne auch eine festlich geschmückte Empfangshalle, die ist zuerst menschenleer, aber dann kommt, also genau in der Haltung, wie ich dich jetzt hier antreffe, die schöne Tochter des Königs herein . . .«

»Aber Vater . . .«

»Doch, doch, du siehst reizend aus heute, Yvett, tadellos!«

»Aber nein . . . ich meine: des Landgrafen!«

»Was?«

»Die Tochter des Landgrafen kommt herein.«

»Des Landgrafen, ganz richtig, die Tochter des Landgrafen ist es. Ja aber . . . wenn du das Stück so genau kennst, dann brauch ich's dir doch nicht zu erzählen –?«

»Natürlich kenn ich's, Vater. Das war doch unser vorletzter Aufsatz: ›Der Sieg des Glaubens über die Verworfenheit, dargestellt an Richard Wagners Tannhäuser‹, erinnerst du dich denn nicht? Fortwährend bekommen wir jetzt so blöde Themen. Ja, aber was 120 wolltest du eigentlich sagen, Vater, du siehst fabelhaft elegant aus!«

»Na, na, ich bin doch ein alter Mann, mein Kind, ein richtiger Landgraf schon, hahaha.« Herr Winternitz begann wie besessen zu lachen. Yvett stimmte fröhlich ein. Bald würde Romeo hier sein! »Also ich bin die Elisabeth, meinst du – du bist der junge fesche Landgraf, und das hier ist die edle Halle, in die bald die Gäste einziehen werden, sehr gut, hihihi.« Beide lachten vergnügt.

»Fehlt bloß der Tannhäuser«, rief Herr Winternitz aus und blickte auf die Uhr.

Im Vestibül schlug die Glocke an. Yvett erstarrte. »Na also, da kommt schon jemand«, hörte sie wie im Traum den Vater ausrufen.

Wie ein Bild tauchte Romeo im Türrahmen auf. Er trug gestreifte Hosen, ein schwarzes Sakko und eine funkelnagelneue taubengraue Krawatte. Er blieb unter der Tür stehen, verneigte sich zweimal steif; seine Hand fuhr in die Tasche und blitzartig wieder heraus, unschlüssig rieb er die Handflächen aneinander, während er nun einen Schritt näher trat. Eine leichte Röte flog über seine Stirn.

»Na Yvettchen, so begrüße doch deinen Gast«, mahnte Herr Winternitz liebenswürdig.

Yvett riß sich zusammen. Von dunkler Röte übergössen ging sie Romeo entgegen. »Guten Tag . . . Herr Reif«, würgte sie hervor. Doch um Romeo zu beweisen, daß sie durchaus Herrin der Situation war, kniff sie verschmitzt ein Auge zu. Romeo blickte erschreckt von ihr weg, zu Herrn Winternitz hin, der patriarchalisch lächelte; und jetzt erst erwiderte er 121 Yvetts Gruß mit einem stummen flüchtigen, fast widerwilligen Kopfnicken. Er wußte, was sich einem Mädchen aus so hoher Familie gegenüber schickte.

Yvett rettete sich kopfüber in die Zeremonie des Vorstellens. »Herr Reif – weißt du, Papa? Der die Güte hatte, für uns einen Lautenspieler zu beschaffen. – Mein Vater.«

Die Herren reichten einander die Hände. In diesem Augenblick überfiel Yvett ein sinnloses Lachen; es schüttelte sie im wahrsten Sinne des Wortes, sie krampfte die Finger ineinander und auf ihrem Hals, unterhalb der Schlagader, bildete sich ein dreieckiger roter Fleck.

Verblüfft riß der Vater die Augen auf. »Aber was hast du denn, Yvett?«

»Alles stimmt!« sprudelte sie hervor und deutete mit der Hand auf Romeo. »Alles stimmt ganz genau. Er war im Venusberg.«

Romeo starrte sie fassungslos an; er verstand nichts und wußte nicht, wohin mit den Händen.

»Wer?« staunte der Vater, »Herr Reif? Wo war er?«

»Im Venusberg!« quietschte Yvett; sie hatte Tränen in den Augen. »Dort hat er doch den Lautenspieler für uns aufgetrieben!«

»Ich verstehe nicht, mein Kind . . .«

»Tja, in der Tat, hehe«, fiel Romeo hastig ein, »ich verstehe auch nicht.« Er lächelte beflissen. Am liebsten hätte er Yvett einen Tritt ins Schienbein versetzt. War sie denn völlig von Gott verlassen?

Yvett schluckte, sie atmete tief aus, wischte mit 122 einem Tüchlein über die Augen; mit einem Mal wurde sie ernst und plötzlich sehr verlegen. »Aber auf einmal bist du nicht mehr im Bilde, Vater«, rief sie unwillig aus. »Wir sprachen doch vom Tannhäuser, nicht?«

»Ja, na und –?«

Yvett biß sich auf die Lippe und runzelte die Stirn. »Herr Reif sei der fehlende Tannhäuser, fiel mir eben ein – mein Gott, verstehst du denn immer noch nicht?«

»Herr Reif – der Tannhäuser? So. Haha«, murmelte Herr Winternitz verständnislos.

Romeo lächelte ein aufmerksames verkrustetes Lächeln, er fuhr mit den feuchten Handflächen über seinen Rock. Nicht das mindeste verstand er von dem allen. Ein sonderbarer Empfang, wirklich.

Ein peinliches Schweigen war eingetreten. Yvett hätte sich ohrfeigen mögen. Ein Idiot, der Vater – dachte sie ingrimmig, während sie immer noch leise zu lachen versuchte. Ein unmögliches Geschöpf, diese Yvett! – stellte der Vater bei sich fest, während er Romeo mit einer patriarchalischen Handbewegung zum Sitzen einlud. Ein blödes Luder, diese Yvett – fauchte Romeo insgeheim, indem er sich mit einem schwachen Dankeslächeln in den riesigen Fauteuil hineingleiten ließ.

Er erschrak, denn er sank tief ein, fast bis zum Erdboden. Auch federte der Sitz wie toll –. »Da unlängst hörte ich eine Tannhäuseraufführung«, stammelte er rasch, um sein Erschrecken zu maskieren, »im Rundfunk, glaube ich . . . ja!« Er brach ab. »Ich bin wohl der erste hier?« Auch dieser Umstand 123 war ihm peinlich; er war doch absichtlich später erschienen, zehn Minuten später als auf der Einladung stand, er hatte sich auf der Straße mit Absicht verzögert, und nun war er dennoch der erste.

»Hören Sie viel Radio, Herr . . . Reif?« fragte Yvett, in einen Klubsessel zurückgelehnt, während sie Romeo aus zerstreuten – herrlichen – Augen glimmend anblickte.

Draußen läutete es. Stimmengewirr erfüllte den Korridor.

»Na siehst du«, rief der Vater vorwurfsvoll aus und sprang auf, »die Gäste sind da und Mutter ist wieder nicht fertig!« Er stürzte aus dem Zimmer.

Romeo und Yvett waren allein. Sie blickte ihn aus weit geöffneten Traumaugen tieftraurig an. Oder sollte das im Gegenteil höchste Sehnsucht bedeuten? Romeo zwang sich zu einem Lächeln. Yvett interessierte ihn im Augenblick gar nicht, er hätte sich gern ein wenig im Raum umgesehn; fabelhaft, diese Einrichtung –. Erschreckt starrte er Yvett an: was hatte sie vor? Sie war aufgesprungen, trat dicht an ihn heran, jetzt beugte sie sich gar zu ihm herab – war sie wahnsinnig?! Jeden Augenblick könnten die Gäste . . .! »Romeo« hauchte sie hingegeben und suchte ihn mit dem Mund auf den Mund zu treffen. Romeo stieß sie erbittert zurück –

Leute!

Er sprang auf.

Yvett eilte zur Tür, den Ankommenden entgegen.

Wie sie jetzt auf einmal lachte und ihre Knixe machte, das verrückte Frauenzimmer! Ohne ihn, Romeo, eines Blicks zu würdigen, ohne auch nur zu 124 ihm Pardon gesagt zu haben. Unberechenbar war sie, wahrhaftig. In diesem Augenblick haßte Romeo sie beinahe.

Warum stellte sie ihn denn den Leuten nicht vor? Er war ihr wohl plötzlich nicht mehr gut genug? – Unsicher, doch immerhin gemessen lächelnd, näherte sich Romeo der wild durcheinanderschwatzenden Gruppe. Alle Herren trugen Smoking – ja warum hatte Yvett ihm das nicht rechtzeitig gesagt? »Jurist Reif«, stellte er sich, da Yvett nichts dergleichen tat, selber vor; äußerst reserviert, wie er meinte. Er wurde mit vollendeter Höflichkeit begrüßt, die Leute schienen es gar nicht zu merken, daß er keinen Smoking trug. Da sah man's eben: große Welt.

Bloß Yvett benahm sich . . . na geradezu läppisch. Albern benahm sie sich! Das sollte wohl Vorsicht sein, daß sie mit keinem Blick, mit keiner Silbe von seiner Anwesenheit Notiz nahm, die alberne Gans. Gerade das Gegenteil bewirkte sie doch damit, einem jeden mußte es auffallen. Da stand er nun bei all diesen fremden Menschen, lächelte beifällig zu allem was gesagt wurde und wußte nicht, wie er sich an dem Gespräch, in dem alle möglichen, ihm nur vom Hörensagen bekannten Familiennamen durcheinanderschwirrten, beteiligen sollte. Wäre er doch niemals hergekommen! Hatte er das nötig gehabt?

Herr Winternitz betrat den Salon, ein strahlendes Lächeln um die Grafenlippen. Er streckte den Arm in Gesichtshöhe von sich. Das sollte wohl eine italienische Begrüßung sein? »Signori, Signorini«, murmelte er, wobei er sich altvaterisch zeremoniös verneigte. Ein großes gegenseitiges Sich-Begrüßen hub 125 an; Romeo kam sich bei dem allen von Minute zu Minute überflüssiger vor. Und die Hände! Was fing man nur mit den Händen an!

Im Vestibül läutete es unentwegt, immer noch kamen neue Menschen hinzu, einzelne Damen in herrlichen kostbaren Abendkleidern. Alle schienen sie einander zu kennen, man begrüßte sich lebhaft und vertraulich. Selten einmal hatte Romeo Gelegenheit, sich gleichfalls zu verneigen und sein »Jurist Reif« vor sich hin zu murmeln. Ein festgefrorenes Lächeln um die Lippen, stand er etwas beiseite, und seine Laune ward von Sekunde zu Sekunde bedrückter. Yvett hingegen . . . die war mitten im Trubel; jetzt lief sie, aus einem prunkhaften Rauchservice Zigaretten anbietend, von einem zum andern. Mit welcher Auszeichnung sie sogar von den älteren Herren behandelt wurde! Und er –? Na gut, er wird sie das bei nächster Gelegenheit schon fühlen lassen, wart nur!

Romeo wurde es siedend heiß – nun kam sie auch zu ihm. »Rauchen Sie?« fragte sie mit distingierter Miene. »Herr Reif« zu sagen, wie es sich gehörte, das war ihr offenbar schon zuviel, na gut! Mit kühler Miene und leicht zitternden Fingern nahm Romeo eine Zigarette. »Nehmen Sie eine solche«, sagte Yvett ziemlich laut und deutete mit dem Finger auf eine kleine orientalische Kassette. »Warum?« murmelte Romeo, doch willenlos nahm er eine solche. Flüchtig, verstohlen berührte Yvetts Finger dabei seine Hand. Romeo zuckte unmerklich zurück. Darauf pfiff er ihr! Wenn sie sonst nichts für ihn übrig hatte . . .! Doch schon eilte Yvett mit dem Tablett zum 126 Nächsten. Wie unangenehm es Romeo war, daß sie ihn nun so unbeachtet beiseitestehen sah. Hatte er das nötig gehabt? Aber er wollte sich wenigstens nicht anmerken lassen, wie sehr ihn das alles bedrückte. Lächelnd blickte er im Raum umher, so mit einer gelinden Dosis ganz feiner Ironie glaubte er zu lächeln, gleichsam als interessierte ihn die Gesellschaft und alles hier nur aus psychologischen Gründen.

Immer noch kamen neue Menschen, die Herren alle im Smoking. Wie er sich nur vorkam, unter diesem gemästeten Kapitalistenpack, in seinem schäbigen Anzug. Da sah er nun erst, wie billig dieses sein bestes Kleidungsstück war. Und da hatte die Mutter noch zu fragen gewagt, ob er denn wirklich »seinen besten Anzug« anziehen müsse, »mitten in der Woche«, für eine »Privatgesellschaft« –. Und seine Schuhe! Alle hatten Lackschuhe an, nur er . . .

»Jurist Reif«, murmelte Romeo hocherfreut; er verneigte sich beflissen, ein Hochgefühl, das ihn übermannte, so gut er konnte zurückdrängend: Ein vornehm aussehender Herr mit schneeweißem Haar, dicke Perlen in der Hemdbrust, war ganz von selbst vor ihn hingetreten, jawohl, hatte sich überaus respektvoll vor Romeo verneigt, jawohl, und seinen Namen genannt –. Der feine alte Herr hatte sich Romeo vorgestellt, nicht umgekehrt. Ja, so und nicht anders sah ein Grandseigneur aus. Nicht wie die anderen: herablassend freundlich, oder selbst das nicht, sondern ganz auf gleich und gleich . . .

»Jurist? So, na das freut mich besonders«, rief der alte Herr aus, »dann sind wir ja sozusagen Fachgenossen, ich bin Advokat. In welchem Semester sind 127 Sie, Herr Kollege, wenn man fragen darf?« »Herr Kollege« hatte er zu Romeo gesagt! Romeo spürte ein unnennbares Lustgefühl in sich aufsteigen, er gehörte gesellschaftlich hier also doch irgendwie dazu. Wenn selbst dieser vornehme alte Herr ihn schon »Herr Kollege« ansprach . . .

»Im dritten Semester, Herr Doktor«, log er ohne zu zögern, und mit weltmännischer Geste klopfte er die Asche von seiner Zigarette. Nur nicht allzuviel Genugtuung über die ihm widerfahrene Auszeichnung verraten – rief er sich insgeheim zu. Er mußte im Gegenteil so tun, als wäre er an dergleichen hinlänglich gewöhnt. »Sagen Sie . . . und wie ist der Geist heute dort, unter den Studierenden?« erkundigte sich der Advokat mit bezaubernder Liebenswürdigkeit. »Gibt es denn überhaupt noch dieses rege gesellschaftliche Universitätsleben wie zu meiner Zeit . . . ich meine, das ist doch immerhin schon . . . warten Sie . . . na, immerhin an die vierzig Jahre her.«

Romeo setzte seine abgeklärteste Miene auf. »Tja, wie soll man das sagen«, antwortete er gedehnt und blies den Rauch durch die Nase, »ich glaube, daß das Gesellschaftsleben . . .« – er hustete, der Rauch war ihm in die Kehle gedrungen. »Daß das Gesellschaftsleben sich gegenüber früher sogar bedeutend intensiviert hat, tja. In den Wintermonaten zum Beispiel kommt man aus dem Smoking kaum heraus, da jagt eine Veranstaltung die andere, es wird einem manchmal schon zur Last. Also ich hab es in dieser Beziehung freilich besonders schlecht, wenn man so sagen kann, weil ich auch in diplomatischen und in Künstlerkreisen zu verkehren gezwungen bin, und das 128 bedeutet, wie Sie sich denken können, dann natürlich eine kolossale gesellschaftliche Inanspruchnahme. Mitunter ist es ja ganz nett, auf so einer exotischen Gesandtschaft zum Beispiel, oder – tja, gewiß, es ist auch hier heute sehr nett, bei den Winternitz, das muß man wohl sagen. Allerdings, so gewisse feine Unterschiede, wissen Sie, die sind ja freilich unverkennbar, wenn man die wirklich gute Gesellschaft der Hauptstadt mit der hiesigen vergleicht, meinen Sie nicht auch, Herr Kol . . . Herr Doktor? In der Großstadt trägt zum Beispiel kein Mensch heute mehr Smoking, oder gar Lackschuhe, während hier . . .« Romeo blickte mit einem leicht sarkastischen Lächeln im Baum umher. »Na, aber alles in allem, schließlich . . .« Er hielt inne: Yvett ging vorüber. Zwei Schritte von Romeo entfernt blieb sie stehn, sprach mit einer Dame, blickte aber verstohlen zu Romeo herüber. Herrgott, wenn der Advokat doch jetzt »Herr Kollege« sagen würde, damit auch Yvett es hören könnte – das wäre ihm eine riesige Genugtuung. Er mußte dem alten Herrn rasch Gelegenheit dazu geben, am besten durch eine Frage. »Und Sie, Herr Doktor, leben Sie ständig in diesem Nest?« stieß er gepreßt hervor. Erwartungsvoll blickte er dem vornehmen Herrn ins Gesicht. Wenn er doch nur Kollege sagen würde! – Aber was sah er. Aus dem Gesicht des Advokaten war alle bezaubernde Liebenswürdigkeit geschwunden. »Verzeihen Sie, ich muß dort einmal . . .«, murmelte er, sehr zugeknöpft, und schritt ohne Gruß davon. Ließ Romeo einfach stehn.

Um Gotteswillen, da hatte er wohl lauter Blödsinn 129 gesagt? Ging denn heut alles schief? Der einzige, der sich um ihn gekümmert hatte . . . Romeo mußte ihn irgendwie beleidigt haben –?

Hoppla, was war denn das? Da kam ja noch einer ohne Smoking, in einem dunkelblauen Straßenanzug. Na, das gehörte sich nun aber wirklich nicht: dunkelblau! Aber wie selbstsicher, wie stolz in der Brust sich der Kerl trotzdem gebärdete, wie unbekümmert und frohgemut er dreinblickte. Freilich, es kümmerte sich auch kein Mensch um ihn. Wo hatte Romeo dieses Gesicht bloß schon gesehen? Er kannte diesen etwa dreißigjährigen derben großen Menschen von irgendwoher . . . wer war denn das gleich? Ach, richtig, jetzt fiel's ihm ein, Josef Knauschner, der Cellist war das, im Hauptberuf städtischer Beamter. Romeo kannte ihn aus einzelnen Konzerten des Gesang- und Musikvereins, wo dieser Knauschner in der Mitte des Programms stets ein Solo gespielt hatte. Ja, natürlich. Yvett hatte ihm doch kürzlich erst erzählt, daß sie Klavierstunden bei ihm nehme, er sei ein hervorragender Musiker.

Jetzt fiel der Blick des Cellisten auf den abseits stehenden Romeo; ein wenig linkisch trotz aller zur Schau getragenen Selbstsicherheit, kam er schnurgerade auf Romeo zu; als würde er sich aus dem Strudel von Smokings zu Romeo retten. »Josef Knauschner«, stellte er sich treuherzig burschikos vor und streckte Romeo eine gewaltige Hand entgegen. »Jurist Reif«, murmelte Romeo, »freut mich sehr.«

»Student? So, na das ist wenigstens mal was Anständiges. Unter den Parvenüs da.«

130 Romeo erschrak: er sprach ziemlich laut, der Cellist. Ängstlich blickte sich Romeo um. Nein, Herr Knauschner hatte, genau auskalkuliert, nur eben so laut gesprochen, daß es laut wirkte, ohne daß die andern es hätten hören können.

»Ja, da haben Sie gewiß recht, Herr Knauschner«, lachte Romeo. Einerseits war's ihm ein wenig peinlich, daß er nun ausgerechnet mit dem Manne beisammenstand, der gleich ihm keinen Smoking anhatte, es sah beinahe wie eine Einheitsfront der gesellschaftlich Minderqualifizierten aus, anderseits hatte er nun wenigstens die Möglichkeit, sich mit einem Gleichgesinnten über die Ansammlung von Protzen hier lustig zu machen.

»Lächerlich, was?« nahm der Cellist wieder das Wort. »Der alte Winternitz will wohl Präsident von Paneuropa werden? Haben Sie seinen Vortrag da unlängst gehört?«

»Nein«, entgegnete Romeo mit vielsagendem Lächeln. Er hörte sogleich zu lächeln auf: Herr Winternitz war zu ihnen getreten. »Na also, die Herren haben ja, wie ich sehe, bereits Freundschaft geschlossen«, rief er jovial aus. »So ist's recht. Guten Abend, Herr Knauschner.« Er reichte dem Cellisten eine Hand. Der ergriff sie mit großer, beinahe servil wirkender Ehrerbietung. »Oh, guten Abend, Herr Direktor«, verneigte er sich, »na, ganz prächtig ist das ja heute bei Ihnen. Ich glaube, so etwas hat Rietheim noch nicht gesehen . . . doch, doch Herr Direktor!« Ja sagte man denn so zu Herrn Winternitz, ›Herr Direktor‹?

Geschmeichelt lächelnd wandte sich Herr Winternitz an Romeo: »Ja, das ist ein großer berühmter 131 Musiker, der Herr Knauschner, ja, er unterrichtet auch meine Tochter«, erklärte er.

»Ich weiß, Herr . . . Herr Direktor«, fiel Romeo beflissen ein, »ich kenne Herrn Knauschner natürlich von vielen Konzerten her.«

»Also meine Herren, unterhalten Sie sich weiter gut, in meinem Hause muß sich auch der letzte . . . äh, müssen sich alle meine lieben Gäste wohl und zu Hause fühlen. Es wird jetzt übrigens gleich gegessen, in ein paar Minuten!« Huldvoll mit dem Kopf nickend trat Herr Winternitz zu einer anderen Gruppe.

»Sehn Sie sich bloß die Wohnung an«, raunte der Cellist Romeo zu. »Diese Polster überall und die dicken Teppiche. Alles muß butterweich sein. Haben Sie schon mal in einem der Fauteuils hier gesessen? Sie, da werden Sie was erleben. Da sinken Sie mit dem Arsch zuerst bis zur Erde ein und dann federt's, daß Sie glauben, Sie fliegen bis zur Decke hinauf, hahaha. Hätte der Winternitz bei der Einrichtung nicht wohlweislich einen Innenarchitekten zugezogen, dann war vermutlich auch der Tisch noch mit Daunen ausgepolstert worden, damit Gott behüte auch die Suppenschüssel weich steht und federn kann.«

»Ausgezeichnet, das haben Sie sehr hübsch gesagt!« lachte Romeo, diesmal aus vollem Herzen. Bewundernd blickte er zu dem frischfröhlichen Gesellen im blauen Straßenanzug empor. Sehr gut! Genau das gleiche würde er, Romeo, morgen zu Yvett sagen, wart nur! Die sollte sich wahrhaftig nicht einbilden, daß vor dem Reichtum ihres Vaters ein jeder auf dem Bauch liege. Romeo fühlte sich mit einem Mal äußerst wohl hier, im breiten Schatten dieses 132 prachtvoll respektlosen Naturburschen. Diese Künstler haben doch wirklich eine ganz eigene sieghafte Heiterkeit in und an sich – dachte er. Mochten die Geldsäcke ringsum nur weiter die Nase über ihn und den Künstler rümpfen –. Keiner Seele fiel es ein, das zu tun. – Soviel sie wollten! Dadurch, daß er neben einem schließlich doch sehr bekannten Cellisten im Straßenanzug stand, vergab er sich noch lange nichts, ganz im Gegenteil, die Leute sollten nur sehn, daß sie beide irgendwie zusammengehörten, als Intellektuelle gleichsam, als Bohemiens. Bohemiens hatten schließlich allerorten Zutritt in die höchsten Gesellschaftskreise, sie waren sogar sehr gesucht. Gar keine Idee, daß er sich der Gesellschaft eines bedeutenden Künstlers etwa schämen würde, nur weil der eben andere Gedanken hatte als den, stets à quatre épingles gekleidet zu gehen. Wichtig. Nein, im Gegenteil, er bekannte sich sozusagen ganz offen zu dem blaugekleideten Cellisten, er pfiff auf die Gesellschaft all der weißen Hemdbrüste da. So war er. Sollte Yvett es nur sehen!

Mit schlenkernden Bewegungen, den Kopf hochgemut in den Nacken zurückgeworfen, steuerte der Cellist – seit er Romeo und dessen Beifall gefunden hatte, fühlte auch er sich bei weitem sicherer hier – auf ein Ecktischchen los und kam alsbald mit zwei Zigaretten zurück. Eine davon steckte er Romeo wortlos in den Mund. Romeo entzückte diese Geste der Kameradschaftlichkeit.

»Na, wie ein Padischah sind Sie auch nicht gerade gekleidet, Herr Akademiker«, stellte der Cellist mit rauher Herzlichkeit fest.

133 »Tja, wissen Sie, ich habe meinen Smoking gar nicht in Rietheim«, log Romeo errötend.

»So, na da stehen Sie ja noch weit über mir, ich hab nämlich überhaupt keinen, Verzeihung. Das heißt, ich besitze einen Frack, weil ich den zu meinen Konzerten brauche.«

Romeos Gesicht war ein wenig schmal geworden. Sogar diesem Knauschner fiel es also auf, daß er armselig gekleidet war. Und dabei hatte er stets für schick gegolten. Freilich, in welcher Umgebung auch . . . Romeo zwang sich zu einem sarkastischen Lächeln. »Wir beide repräsentieren heute abend die misera plebs.«

»Wie? Ja, ja, sehr gut, ha! Die einen kommen im Frack, die andern in Unterhosen, wollen Sie sagen, nicht?«

Romeo lachte befreit auf. In Unterhosen – wunderbar. Das war ein grandioser Kerl, dieser Knauschner, der fand doch für alles das erlösende Wort.

Dem Cellisten schien Romeos warme Anerkennung seines Mutterwitzes mächtig zu behagen. Er blickte sich nach neuen Zielpunkten um. Zwei Mädchen in weißen Häubchen machten gerade die Runde; sie boten kleine Gläser aus, die mit einer dunkelfarbenen Flüssigkeit angefüllt waren. Der Cellist zog aus der Hosentasche das Geldtäschchen, zückte eine Münze. »Fräulein«, rief er halblaut aus, »ach bitte springen Sie doch mal in die Gastwirtschaft gegenüber und bringen Sie mir ein halbes Viertel Blutwurst, eine Salzgurke und etwas Schnaps, ich hab einen Riesenhunger. Na, hören Sie denn nicht, Fräulein?« Eines der Mädchen schien den Anruf gehört zu haben, es 134 wandte sich um. Sogleich starrte der Cellist mit pfiffigem Ausdruck harmlos zur Decke hinauf. Das Mädchen lächelte verstohlen, es trat mit dem Gläser-Tablett vor die beiden hin. Romeo hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, er erstickte beinahe vor Lachen. »Karlinchen«, flötete der Cellist mit gespitztem Mund und nahm ein Glas an sich. »Stramm, stramm!« Das Mädchen lächelte mit hochgezogenen Schultern, aus Furcht, jemand könne die Vertraulichkeit merken.

»Ich heiße Anna«, flüsterte sie und hielt auch Romeo das Tablett hin.

»Das macht gar nichts, Annichen«, entschied der Cellist, tiefernst, »stramm bist du jedenfalls. Müssen mal abends ausgehen zusammen!«

Romeo sah, daß in diesem Augenblick Yvett zu ihnen herüberblickte. Er lachte nur um so unbändiger und rief, da ihm nichts besseres einfiel, dem davonschreitenden Mädchen halblaut nach: »Auf Wiedersehn, Annichen.« Mit einem raschen Seitenblick überzeugte er sich, daß über Yvetts Antlitz ein Schatten von Unmut und Sorge fiel.

Fast im gleichen Augenblick stand Yvett lächelnd vor ihnen. »Guten Tag, Herr Knauschner«. Sie gab dem Cellisten die Hand. »Die Herren sind also schon miteinander bekannt?«

»Hat auch der Herr Papa schon mit Vergnügen konstatiert, Fräulein«, gab der Cellist mit Verneigung zur Antwort. »Und wie steht Ihr wertes Befinden, wenn man fragen darf? Sie sehen ja heute unglaublich erwachsen aus!«

»Na hören Sie, sonst wohl nicht?« lachte Yvett 135 aufgeregt, während ihr Blick eigentümlich ernst, forschend über Romeos Gesicht hinglitt.

»Sagen Sie mal, Fräulein Yvett, wird eigentlich bald gegessen?« sprudelte Romeo, nicht minder aufgeregt lachend, hervor. »Sonst würden wir nämlich das Ännchen, oder wie die Zofe heißt, ins Gasthaus schicken, um ein Viertel Blutwurst und eine Gurke zu holen.«

»Solchen Hunger haben Sie?« staunte Yvett, bereitwillig auf den Scherz eingehend.

»Die Wohnung hier hat einen schweren Fehler«, nahm Romeo sogleich wieder das Wort – es kam ihm darauf an, dem Cellisten zu zeigen, wieviel er sich Winternitz' Töchterchen gegenüber herausnehmen durfte, und Yvett zu zeigen, wie wenig er sich aus dem ganzen Mumpitz hier machte. »Die Wohnung ist schön, aber sie hat den einen schwerwiegenden Nachteil, daß nicht auch der Eßtisch entsprechend weich gepolstert wurde, mit Daunen oder so etwas, damit auch die Suppenschüssel weich aufliegt und federt. Sagen Sie das Ihrem Herrn Vater gelegentlich!«

Beunruhigt schielte der Cellist nach Yvett. Da er jedoch sah, daß sie die unverschämte Äußerung nicht im geringsten verletzt, vielmehr mit Lachen aufnahm – wenngleich es ein einigermaßen zerstreutes Lachen war – lachte auch er jetzt mit überbetontem Behagen los.

»Ein Lausbub, der Romeo, nicht wahr?« rief Yvett, dem Cellist zugewandt, lachend aus, im gleichen Augenblick errötete sie und fuhr mit der Hand an den Mund. Da hatte sie sich ja schön verplappert!

136 »Was für ein Romeo, Fräulein Yvett?« erkundigte sich der Cellist, verständnislos lächelnd.

»Haben Sie für die nächste Zeit irgendwelche Konzerte vor, Herr Knauschner?« suchte Romeo hastig abzulenken. Nicht, daß er den durch Yvetts Entgleisung möglicherweise hervorgerufenen Eindruck bestehender Vertraulichkeit zwischen Yvett und ihm hätte verwischen wollen – mochte der Cellist dergleichen doch vermuten! Vielmehr war es ihm stets peinlich, wenn ein Fremder so unvermittelt erfuhr, daß er Romeo hieß.

Bereitwilligst stürzte sich der Cellist ins Beantworten der Frage. Er erzählte von einem bevorstehenden Musikvereinskonzert, bei welchem er die Romanze von Svendsen mit Orchesterbegleitung vortragen werde. Mehr hörte Romeo nicht von dem, was der Cellist in weit ausholender Rede nun entwickelte. Die Nähe Yvetts wirkte mit einem Mal eigenartig umnebelnd auf ihn. Über die mächtigen Schultern des Cellisten hinweg, starrte er in den gleißend zerfließenden Himmel von Frauengewändern; das Stimmengewoge drang nur noch wie aus weiten Fernen an sein Ohr; alles erfüllte ihn plötzlich mit einer unbegreiflich bangen Sehnsucht. Wie herrlich, wie eigenartig war es doch unlängst unterm Viadukt. Wie reizend auch von Yvett, daß sie seine wenig taktvollen Spötteleien vorhin über die Wohnung nicht krumm genommen, sondern durch ihr beifälliges Lachen im Gegenteil zum Ausdruck gebracht hatte, daß sie sich zu Romeo bekannte, gewissermaßen gegen ihre Umgebung und ihre Eltern zu ihm bekannte. War es nicht so?

Auch Yvett vernahm längst nichts mehr von dem, 137 was der Cellist nun lang und breit erzählte; doch sie blickte ihm aufmerksam lauschend ins Gesicht. Würde er doch noch lange Zeit so behaglich erzählen! Das gab ihr die Möglichkeit, weiter hier zu bleiben, bei Romeo, dem sie so gern voll ins Gesicht geblickt hätte und den sie nicht anzublicken wagte. Wie schön, wie abenteuerlich war es neulich dort unterm Viadukt . . . Und wie lieb, wie herzig Romeo heute aussah, in seinem schmucken feierlichen Anzug. Wie gern hätte sie ihm von der Seite leicht die Wange gestreichelt, ganz leicht, nur so mit zwei Fingern . . . Ach! Dort drüben lag ihr Zimmer . . . Wie schön wäre es, jetzt die Augen zu schließen und an nichts mehr denken zu müssen, an nichts . . . Wo nur Lotte blieb? Wären die Freißlers doch durch irgendeinen unvorhergesehenen Zwischenfall am Kommen verhindert! Die Lotte . . . –

». . . und der Trottel nimmt die Stelle Staccato – stellen Sie sich das mal vor! – statt Détaché, hahaha.«

Yvetts Herzschlag stockte: im Vestibül hatte es eben geläutet. In den letzten Minuten hatte es zwar häufig geläutet, diesmal jedoch hatte Yvett das ganz bestimmte Gefühl: das waren Freißlers, das war Lotte. Ein rascher ängstlicher Blick galt Romeo, der verträumt, gelöst vor sich hinblickte. Yvett straffte sich, sie lächelte mit einem undeutbaren Ausdruck.

Familie Freißler betrat den Salon. Voran die Mutti, dann der Regierungsrat und schließlich Lotte. Yvett sah, daß sie ein raffiniert einfaches langes Abendkleid trug. Der Strudel der Begrüßung verschlang die Angekommenen für Minuten. »Verzeihung«, 138 unterbrach Yvett lächelnd den Redeschwall des Cellisten, »ich muß nur rasch meine Freundin begrüßen. Lotte ist gekommen!« setzte sie, Romeo zunickend, hastig hinzu und lief davon.

»Sie müssen nämlich wissen, der Kerl hat ein fabelhaftes Vibrato, leider aber nicht in der linken, sondern in der rechten Hand, hahaha«, setzte der Cellist Romeo unbeirrt weiter auseinander. »Und eine fabelhafte Bogentechnik, aber nur beim Pizzicatospielen, verstanden?«

»Sehr gut, ja«, lächelte Romeo unaufmerksam, während seine Blicke Yvett nachschlichen. Das also war Lotte, die krasse Egoistin und unfaire Freundin, jenes junge Mädchen dort, das jetzt mit so viel scheinheiliger Herzlichkeit auf Yvett zuflog, sie begrüßte. Die arme Yvett! Sie war eben zu gut, zu arglos, zu ungewandt im praktischen Leben. Na, bei ihm sollte diese Lotte aber kein Glück haben mit ihren Schlichen. Er würde es sie schon fühlen lassen, wie egal sie ihm war – so eine verzogene eitle Person. Hübsch war sie wohl, o ja, das mußte ihr der Neid lassen. Dieser blühende Körper –! Aber was war das schon. Dafür stand sie in puncto innerer Qualitäten doch weit hinter Yvett zurück. Yvett war ein weiblicher Gentleman, ohne Frage. Mit welcher inneren Vornehmheit sie beispielsweise, bei allen berechtigten Anschuldigungen, Lotte gegen ihn und andere dennoch stets in Schutz genommen hatte.

Jetzt faßte Yvett Lotte unterm Arm. Und jetzt zog sie sie – ein dreieckiger roter Fleck bildete sich unterhalb ihrer Halsschlagader – scherzend zu Romeo und Herrn Knauschner herüber.

139 Sogleich richtete Romeo sich straff empor, sagte rasch etwas Belangloses zu Herrn Knauschner. Zerstreut und fast ungehalten hob er, als die Freundinnen bereits vor ihm standen, den Blick dann überrascht in die Höhe. Den Cellisten schien Lotte zu kennen, sie begrüßte ihn mit einem hellklingenden »Guten Tag, Herr Knauschner«.

»Herr Reif – Fräulein Freißler«, stellte Yvett aufgeregt lächelnd vor.

»Guten Tag«, sagte Lotte mit einem munteren Lächeln.

Romeo verneigte sich knapp und stumm. Genau so gemessen hatte auch der französische Fliegerkapitän unlängst im Film die hübsche deutsche Spionin begrüßt.

»Was macht die edle Kunst, Fräulein Lotte? Das Zeichnen?« erkundigte sich der Cellist.

»Danke schön, ich suche etwas hinzuzulernen, aber das ist recht schwierig hier«, gab Lotte nett und bescheiden Auskunft.

»Das Fräulein malt nämlich wunderschön«, erklärte der Cellist.

»So«, sagte Romeo. Gemisch aus Düsterkeit und freudiger Überraschung.

Lotte protestierte zwar nicht gegen das Lob, aber sie schien sich auch nicht sonderlich geschmeichelt zu fühlen. Das gefiel Romeo nun eigentlich ganz gut.

»Ja, wunderbar zeichnet sie, herrlich!« ereiferte sich Yvett. Wovon hat sie bloß diesen unschönen roten Fleck am Halse? – dachte Romeo.

Eine kurze Pause trat ein, die aber wahrscheinlich nur Romeo und Yvett fühlbar wurde. Wenigstens 140 blickte Lotte so unbefangen drein, so voll natürlicher bescheidener Höflichkeit, als fände sie das eingetretene kurze Schweigen selbstverständlich, keineswegs inhaltsvoll und bewegt. Nun, hochmütig oder anmaßend war sie aber doch wirklich nicht – dachte Romeo.

»Komm, Lottchen, ich hab deine Eltern noch gar nicht begrüßt!« rief Yvett lebhaft, herzlich aus und zog Lotte mit sich. »Oder . . .«, besann sie sich, »du kannst ja hier bleiben . . . ich geh allein.« Damit zog sie ihren Arm auch schon unter dem Lottes hervor und lief zurück in den Menschenstrudel. »Auf Wiedersehen!« rief Lotte Romeo und Herrn Knauschner mit heller Stimme zu; sie folgte Yvett auf dem Fuße.

Romeo blickte den Mädchen nach. Das war wohl Frau Winternitz, jene ernste strengblickende Dame, bei der Lotte und Yvett jetzt stehnblieben.

In diesem Augenblick kam Bewegung in alle die durcheinanderschwatzenden Menschen, die Gespräche rissen ab. Romeo wandte den Kopf dorthin, wo jetzt alles den Kopf hatte. Die Türflügel ins Speisezimmer standen wie auf ein magisches Wort weit offen, ein Teil der mit fremdländischen Blumen herrlich geschmückten Tafel bot sich den verlangenden Blicken dar. Ausrufe der Bewunderung wurden laut. »Na also. Jetzt können wir auf unsere Blutwurst, Gott sei's getrommelt, verzichten«, murmelte der Cellist befriedigt. »Wahrhaftig«, lächelte Romeo kaum merklich; der Mann begann ihm unangenehm zu werden: er war irgendwie aufgeregt, dieser Knauschner.

Herr Winternitz schritt wie ein Kämmerer an ihnen vorbei, stellte sich mit dem Rücken zur Tür in Positur 141 und rief mit einladender Handbewegung in den Salon: »Prego, Signore! Prego Signorina – il pranzo!«

Fröhliche Ausrufe wurden laut. Langsam schob sich die Menge der Gäste gegen die Tür; dort geriet sie ins Stocken. Niemand wollte als erster durch die Tür. »Prego!« rief Herr Winternitz noch einmal, schlicht und herzlich.

»Haben Sie das gehört?« grunzte der Cellist. »II pranzo! Der Mann ist um acht Stunden je Tag geistig zurückgeblieben. Pranzo ist Mittagessen. Auch scheint er, der Anrede nach zu schließen, nur einen Herrn und eine Dame eingeladen zu haben, das kann ja gut werden!« Herr Knauschner war lange in italienischer Kriegsgefangenschaft gewesen.

Nun flutete es breit durch die Tür.

»Wo sitzen wir denn eigentlich?« fragte Romeo, nur um etwas gesagt zu haben, während er neben dem Cellisten, dem er feige nicht von der Seite wich, das strahlend beleuchtete Speisezimmer betrat. »Wahrscheinlich am Ausschank, wenn es so etwas gibt«, murmelte der Cellist. »Warum ich eigentlich nicht meinen Frack angezogen hab, weiß ich selbst nicht«, fügte er ohne ersichtlichen Zusammenhang hinzu.

»Ach, da gibt es ja solche Tischkärtchen mit den Namen der Eingeladenen«, entdeckte Romeo mit schwacher Stimme.

»Herr Reif, nicht wahr? Freut mich sehr.« Frau Winternitz stand vor Romeo. »Ich muß Ihnen noch danken, daß Sie so freundlich waren, uns zu einem Lautenspieler zu verhelfen. Guten Abend, Herr Knauschner. Ja also . . . die Jugend sitzt wohl am 142 liebsten unter sich. Bitte dort unten vielleicht, wenn es Ihnen recht ist.«

Romeo und der Cellist dankten; sie bemühten sich ans untere Ende der Tafel. Yvett, Lotte und ein drittes, schon mehr als erwachsenes Mädchen standen dort fröhlich beisammen. Yvett stellte vor; Eva Horner hieß das Mädchen und sah aus, als hätte es trotz seinen mindestens dreißig Jahren niemals vom Manne genascht.

Währenddessen hatte der Cellist die Tischkärtchen überprüft. »Hier sitzen Sie, Herr Akademiker«, rief er Romeo zu, der sich in überstürzter Hast sogleich auf den angegebenen Platz begab und nun nicht wußte, ob er sich setzen oder noch warten sollte. Einige Damen saßen bereits, andere standen noch. »Da seh ich gerade«, raunte der Cellist Romeo zu, »Sie haben die lohnende Aufgabe, Frau Schmidt zu unterhalten, sie sitzt rechts von Ihnen. Die Schmidts sind nämlich erst seit 14 Tagen reich. Außerdem eingewanderte Österreicher, die Schmidts, mach ich Sie aufmerksam. Drum hat man sie auch zu uns herunter gesetzt.« Die Stimme des Cellisten sank jäh zum Flüstern hinab. »Da kommt sie schon, die Frau Schmidt. Seit einer Woche chauffiert sie, reden Sie mit ihr davon . . . – Tag, gnädige Frau, Wie geht es Ihnen? Dem Herrn Gemahl auch? Gestatten Sie, daß ich Sie mit Ihrem Herrn Tischherrn bekanntmache: Herr . . . wie heißen Sie eigentlich?«

»Jurist Reif«, murmelte Romeo mit gemessener Verneigung, während die steile akademische Falte auf seiner Stirn erschien. Ein ungehobelter Mensch, dieser Knauschner! Die Falte auf seiner Stirn glättete 143 sich, denn Frau Schmidt begrüßte ihn mit ausgesuchter Herzlichkeit, mit einer wahren Kaskade von entzückten Äußerungen über das Arrangement des Abends – gleichsam als wäre er der Hausherr selbst. Sie war übrigens eine hübsche Frau, sah Romeo jetzt, auch war sie noch bei weitem kostbarer gekleidet als die meisten anderen Damen.

Herr Winternitz thronte bereits am Kopf der Tafel. Jetzt nahmen auch die letzten Stehenden ihre Plätze ein. Links von Romeo saß das gereifte Mädchen, ihm gegenüber Lotte zwischen Herrn Schmidt, einem sehr gesund aussehenden Vierziger, und einem jüngeren Herrn, der sich als Studienrat Straßmann vorstellte; am unteren Ende der Tafel, noch in Romeos Hörweite, saß Yvett, von Herrn Knauschner und einem kommerziell aussehenden Jüngling flankiert. Yvett sah sehr vornehm und apart aus. Wenn aber Lotte sich zu ihrem Teller hinabbeugte, wurde der Ansatz ihrer wundervoll geformten Brust sichtbar.

Romeo hatte es mit dem Essen nicht eilig. Außer Yvett, Lotte und dem kommerziellen Jüngling schien es hier unten übrigens niemand damit eilig zu haben. Es lagen da neben den Tellern nämlich eine Menge verschiedener rätselhafter Bestecke, die zudem mit einem Strohgeflecht umwickelt waren. »Das ist wohl so eine italienische Sitte, net wahr, ganz entzückend!« rief Frau Schmidt aus und blickte von der bereits essenden Lotte zu der essenden Yvett und dem bereits essenden Jüngling im Smoking. Aber auch Herr Schmidt und der junge Studienrat, das reife Mädchen, der Cellist und Romeo blickten voll Interesse auf die 144 bereits Essenden. Die hielten muschelartige Tellerchen in der Hand, aus denen sie mit einem viereckigen Silberinstrument eine dicke weißliche Soß, mit rötlichen Fleischbrocken darin, löffelten. Der Cellist und Frau Schmidt taten nun zögernd ein gleiches; schließlich entschlossen sich auch die übrigen, es gleichsam gelangweilt ebenfalls zu tun. »Wunderbar!« murmelte Frau Schmidt schluckend.

»Ich flieg jeradezu auf möglichst unjewöhnliche Speisen«, rief das gereifte Mädchen eifrig löffelnd und amüsiert kichernd aus – Romeo neigte sich ihr zuhörend höflich zu. »Früher besonders, so vor zwei Jahren, da hatten wir manchmal Aal zum Abendbrot, nun, und da schlich ich vorher immer in die Küche – ich mußte, ob ich nun wollte oder nicht – und leckte, nur so mit der Zungenspitze, das Blut von dem Aale ab. Hihihihi. Ja.«

»Herrgott!« rief Herr Schmidt von der anderen Tischseite bewundernd herüber.

»Nich wahr, Mama, das war doch so vor zwei Jahren?« rief nun das Mädchen einer älteren blassen Dame zu, die rechts von Herrn Schmidt saß.

»Was denn, mein Kind?« fragte die Dame, liebevoll aufblickend.

»Damals, als ich in der Küche immer das Aalblut naschte.«

»Ja, mein Kind«, wurde ihr mit zärtlichem, ein wenig bekümmertem Lächeln bestätigt.

Romeo bemerkte, daß Lotte, mit dem Lachen kämpfend, sich auf die Lippe biß. Das machte sie ihm irgendwie sympathisch.

»Sagen Sie, gnädiges Fräulein«, mischte sich der 145 kommerzielle Jüngling feixend ins Gespräch, »Rückenmark vom Schimpansen haben Sie nie genascht?«

Eine Sekunde lang sagte niemand ein Wort. Der Jüngling errötete leicht.

»Hehehehe«, lachte das reife Mädchen plötzlich amüsiert los.

»Oder Filet de boeuf vom Herrn Bürgermeister?« ergänzte nun der Cellist, trocken, sachlich. Und nun lachten alle. Befreit.

Die beiden Mädchen in weißen Häubchen gossen aus strohumflochtenen dickbauchigen Flaschen roten Wein in die Gläser. Vom Platz des Cellisten her drang ein heiserer wollüstiger Grunzton an Romeos Ohr; es klang wie »Annichen«.

»Schianti!« rief Herr Winternitz vom oberen Tafelende aufgeräumt herab. »Den hab ich verzollt. Ehrlich und teuer verzollt!« Die Äußerung rief beifälliges Gelächter hervor.

Auf langgestreckten Silberschüsseln wurden jetzt Fische aufgetragen. Sie hatten Zitronenscheiben im Maul und heiter blühendes Grün auf den Flossen.

»Das eß ich nicht!« rief das aalblutleckende Mädchen hysterisch aus; sie hielt sich mit den Händen die Augen zu. »Fisch eß ich nicht. Die armen Fische tun mir so schrecklich leid.« Sympathien werbend blickte sie in der Runde umher.

»Das ist nun einmal ein trauriges Naturgesetz, gnädiges Fräulein«, sagte der junge Studienrat, gefaßt, aber mit einem Unterton von Bedauern. Er brach ab, denn die Schüssel wurde ihm zugereicht. Er bediente sich.

»Alle die munteren Fischlein da sind noch vor 146 wenigen Tagen in der schönen blauen Adria geschwommen!« rief Herr Winternitz vom oberen Tafelende aufgeräumt herab.

Romeo beobachtete, daß Yvett sich mit dem kommerziellen Jüngling allem Anschein nach vorzüglich unterhielt. Über Bücher sprachen sie. »Sie chauffieren selbst, gnädige Frau, habe ich gehört«, wandte er sich mit betonter Liebenswürdigkeit plötzlich Frau Schmidt zu. Ein wahrer Wasserfall von lebhaften Äußerungen und Erklärungen war die Folge. Romeo lauschte interessiert und entzückt; in Wahrheit suchte er jedoch Einzelheiten von Yvetts Gespräch mit dem jungen Mann im Smoking zu erlauschen.

». . . jedenfalls ist in dem Roman der Typus junges Mädchen von heute glänzend getroffen. Die Schilderung der Begegnung in der Bar zum Beispiel ist . . .«

». . . wenn ich am Folan sitz, net wahr, dann bin ich ein völlig anderer Mensch, da hör und seh ich nichts anderes als die Straße, net wahr. Zuhause, da hab ich ja ganz andere Interessen. Alles mögliche. Musik, net wahr und . . . ja, Buddhismus, vor allem Buddhismus! Es gibt nichts, was mich so interessiert wie der Buddhismus. Das ist doch so was . . . wie soll ich sagen . . . net wahr, also doch völlig anderes wie alles bei uns hier, so tief und . . . g'scheit und . . . Überhaupt, alles Indische interessiert mich kolossal. Das is ja doch so was Mistisches, net wahr. Da möcht ich gern mal mit einem sprechen, der dort war und mir alles ganz genau erklärt . . . Ich hab ja, also natürlich, viel und viel gelesen über Indien, net wahr, aber . . .«

». . . oder wie meisterhaft beispielsweise das 147 Erwachen der ersten erotischen Regungen der Heldin dargestellt ist!« Was erlaubte sich der geschniegelte Ladenjüngling da mit Yvett zu sprechen?

». . . was ich zum Beispiel nicht ganz vollkommen versteh, net wahr, is also zum Beispiel der Brama.«

»Was bitte?«

»Brama.«

»Bramma?«

»No ja, Brama, net wahr?«

»Ach so, Brach–ma!«

»Ja. Verstehen Sie das so ganz vollkommen, Herr . . . Herr . . .?«

»Reif.«

Romeo hörte nicht mehr, was Frau Schmidt ihm nun weiter auseinandersetzte. Er hätte gern ein paar Minuten allein mit Yvett gesprochen; die schien ja an der Unterhaltung mit dem geschniegelten Kommis-Gesicht ein sehr merkliches Gefallen zu finden! Sie hörte dem jungen Mann mit einem zwar sichtlich zerstreuten, dafür aber um so liebenswürdigeren Lächeln zu. Ob sich nach Tisch wohl Gelegenheit zu einer kurzen Aussprache ergeben wird – das mußte um Gotteswillen jetzt doch schon der letzte Gang gewesen sein, diese Eiscreme, oder was das eben war. Widerlich war das schon, dieses ununterbrochene Gefresse.

Am Tisch trat Stille ein. Herr Winternitz hatte mit einem Messer ans Glas geklopft und sich erhoben. »Signori, Signorini, darf ich Sie bitten, mir jetzt auf die Lagune hinaus zu folgen . . .«

Ein brüllendes quietschendes Gelächter brach am Tisch los. Herr Winternitz bezog es auf seinen witzigen Venezianismus und lächelte geschmeichelt.

148 »Latrine heißt es«, grunzte der Cellist; worüber nun das gereifte Mädchen hysterisch zu lachen begann.

Herr Winternitz hob die Hand; allmählich trat wieder Stille ein. »Die Lagune besteht freilich nur aus unserer Hofveranda, aber mit ein wenig Fantasie wird es Ihnen gewiß möglich sein, dort die zauberhafte Stimmung einer Venezianischen Nacht wiederzufinden. Darf ich Sie also bitten, mir zu folgen? Prego.«

Man erhob sich und folgte unter Scherzen und Lachen – auch der Ausdruck »geschmacklos« drang an Romeos Ohr – dem Hausherrn auf einen Gang hinaus, an dessen Ende, herrlich mit bunten Lampions geschmückt, die Veranda lag. Sie war mit kleinen Tischchen und Korbsesseln angefüllt, der Boden mit Teppichen und Polstern bedeckt. Man setzte sich, so gut es ging; die jüngeren Herren mit gekreuzten Beinen türkisch auf den Boden, worüber die Damen jubelten; einzelne seriösere Herren blieben längs der Wände stehen. Unter ihnen Romeo. Auf dem Weg zur Veranda hatte er vergebens versucht, Yvett, wenigstens für eine Sekunde, allein zu sprechen; sie hatte ihm zwar einen bedeutungsvoll undeutbaren Blick zugeworfen, aber der ekelhafte Krämergehilfe war ihr nicht von der Seite gewichen. Frau Schmidt und das aalblutleckende Biest war er nun glücklich los, die lagen beide in Korbstühle zurückgelehnt; Lotte stand auf der anderen Seite mit dem jungen Professor. Aber wo war eigentlich der Cellist? Der schien gar nicht auf der Veranda zu sein. Entweder hatte er für seine Person ernst gemacht mit der Latrine, oder balzte er am Ende draußen mit dem ›Annichen‹? Romeo beneidete ihn nun noch heftiger um seine 149 Sicherheit; der Mann war stark und unbeirrbar in seinen Grundfesten verankert. Oder schien es nur so?

Auf jedem der Tischchen stand eine Mokka-Maschine. Die Damen füllten die bereitstehenden Tassen, reichten sie den Herren. Die Stimmung schien allgemein sehr lebhaft zu sein. In der Mitte stand schimmernd Herr Winternitz, verschenkte Höflichkeiten nach allen Seiten. »Die Lampions haben wir in Venedig gekauft, sechs Lire das Stück, und nicht verzollt«, hörte Romeo ihn sagen. »Der Bindfaden aber, an dem sie hängen, der ist nicht italienisches Fabrikat, sondern gute solide unzerreißbare heimische Ware. Firma Winternitz und Kompanie, bitte.«

Die Äußerung fand stürmischen Beifall.

Herr Winternitz blickte auf die Uhr, er erschrak und klopfte mit dem Löffel mehrmals gegen seine Tasse. Ruhe trat ein. »Jetzt kommt die große Überraschung, Signori, Signorini«, rief er mit Anzeichen von gelinder Erregung, »einige Augenblicke Ruhe, bitte, für die Serenata!«

»Aaah«, tönte es von allen Seiten. Aus einigen Mündern drang es übertrieben erwartungsvoll hervor.

Herr Winternitz tastete sich zwischen den Füßen der am Boden Sitzenden zu einem ovalen Fenster hin, öffnete es zu einem Spalt, gab mit dem Arm ein Zeichen in den Hof hinab. Einige Damen entfernten sich auf Fußspitzen fröstelnd aus der Nähe des geöffneten Fensters.

Auch Romeo war ein wenig aufgeregt. Er trug doch eigentlich die Verantwortung für das Gelingen. Hoffentlich sang der Kerl halbwegs anständig.

150 Halbverweht drangen vom Hof einige abgerissene Akkorde herauf. Plim-plim . . .

»Aaah«, ging es abermals durch die Reihen der Lauschenden, von einzelnen mit ironischer Überbetonung geäußert.

Frau Winternitz lächelte verlegen, Herr Winternitz strahlend.

»Santa Lutschija . . .«, hub unten der Gesang an.

Romeo atmete erleichtert auf: eine ungebildete, doch angenehm klingende helle Männerstimme, die auch die Höhen des Lieds mühelos nahm; einzelne Begleitakkorde klangen zwar ständig falsch, auch war der Vortrag so unitalienisch wie möglich: schleppend schluchzend und gleichsam schmerzlich von sich selbst gerührt, aber das machte nichts aus, das merkten hier sicherlich nur die wenigsten. Und schließlich sollte das ganze doch volkstümlichen Charakter haben.

»San–ta Lutschi–i–i–ja . . .«

Herr Winternitz strahlte nicht mehr, er blickte traurig in der Runde umher. Frau Schmidt lauschte mit aufgelöstem Gesichtsausdruck, das Kinn verträumt auf die Hand gestützt und hörbar atmend. Die blasse bekümmerte Mutter der aalblutschleckenden Eva Horner wischte sogar mit einem Tüchlein über die Augen. Romeo blickte zu Yvett hinüber. Ihr Gesicht lag im Schatten. Der Jüngling aber an ihrer Seite feixte diabolisch. Lotte hatte den Blick in der Ferne. Auf sie wirkte Musik immer stark ein, denn sie war unmusikalisch. Die übrigen starrten in einem Gemisch von gefühlter Ergriffenheit und ungefühlter, unsicher ironischer Abwehr vor sich hin.

151 »San–ta Lutschi–hi–ja«, verhauchte der Gesang. Und noch einmal, ganz leise: plim-plim . . .

Einige Sekunden verharrte die Gesellschaft in Schweigen – einer blickte verstohlen auf den andern. Dann brach Beifallsklatschen los.

»Da capo!« rief der Advokat mit der blitzenden Hemdbrust und applaudierte wie besessen; zur Vorsicht lächelte er dabei mehrdeutig. Frau Schmidt drückte Herrn Winternitz stumm die Hand.

»Herrgott, das is a Stimm, Reserl, was?« rief Herr Schmidt applaudierend seiner Frau zu; er erntete einen kühlen abweisenden Blick.

»Ausgezeichnet! Noch einmal, bitte!« rief Herr Winternitz aufgeregt in den Hof hinab.

Und abermals begann es. »Santa Lutschija . . .«

Herr Winternitz schlich auf Fußspitzen zu Romeo; flüsternd bat er ihn für eine Sekunde auf den Korridor hinaus. Draußen schüttelte er Romeo die Hand. »Ich muß Ihnen vielmals danken, Herr . . . Herr . . .?«

»Reif.«

»Herr Reif, ja. Es war wunder-wunderschön. Nun, Sie haben ja selbst gesehn. Jetzt wollte ich Sie aber bitten, mich freundlichst zu beraten . . . Sagen Sie, was soll man dem Mann denn eigentlich geben? Ich habe da keine Ahnung . . .«

»Ach Gott, Herr Direktor«, lächelte Romeo wohlwollend-geringschätzig, »ein braver Bänkelsänger! Das wird nicht schlimm sein, irgendeine kleine Summe eben.«

»Na ja, wissen Sie, ich möchte anderseits auch nicht unnobel sein, wie?«

»Aber davon kann doch gar nicht die Rede sein, 152 Herr Direktor«, lächelte Romeo bagatellisierend ergeben.

Herr Winternitz zückte die Brieftasche. »Der Mann hat doch schließlich viel zum Gelingen des Abends beigetragen . . .«

»Das gewiß«, pflichtete Romeo bei. »Und schließlich wurden ihm dadurch mehrere Stunden Verdienstentgang verursacht, das schon.«

»Ja, eben!« entschied Herr Winternitz. Er entnahm seiner Brieftasche einen Geldschein, den er diskret in der Faust verbarg. »Würden Sie nun noch die große Güte haben, Herr . . . Reif, nachdem Sie mit dem Mann bereits einmal verhandelt haben, sich vielleicht auch selbst hinunterzubemühn, um ihn zu entlohnen?«

»Aber gewiß. Mit dem größten Vergnügen, Herr Direktor.«

»Tausend heißen Dank, Herr Reif«, murmelte der Direktor, während er den zusammengeknüllten Schein diskret in Romeos diskret hinabhängende Hand legte. »Dort, bitte, gelangen Sie auf die Treppe.«

Romeo eilte diensteifrig davon.

Eines hatten sie, die feinen Leute, dachte Romeo, während er die Treppe hinabhastete, diese unnachahmlich diskrete Form von Noblesse in Gelddingen! Er öffnete die Faust, warf einen Blick auf die Banknote. Er erschrak und blieb stehen. Ja um Gotteswillen, das . . . das war doch zu wenig! Herr Winternitz mußte sich versehen haben! Oder . . . oder hielt der Schmutzian das am Ende wirklich für eine adäquate Entlohnung? Davon konnte der Sänger sich doch höchstens ein besseres Abendbrot kaufen. 153 Unmöglich, ihm das anzubieten. Was war zu tun? Zurückgehen und Herrn Winternitz auf den . . . Irrtum aufmerksam machen –? Nein, wie würde das aussehen . . . Romeo tastete nach seiner Brieftasche. Himmel, aber selbst wenn er alles, was er bei sich hatte, hinzulegte – und er mußte doch fürs Nachhausegehn schließlich noch mit Trinkgeldern rechnen – dann war es immer noch nicht hinreichend. Der Mann hatte an diesem Abend doch sein ganzes reguläres Geschäft eingebüßt –. Hastig zog Romeo einige Münzen aus der Tasche. Na, vielleicht genügte es doch. Jedenfalls mal versuchen!

Er lief die Treppe vollends hinab und trat auf den Hof hinaus, als der Sänger verhauchend gerade die Schlußtakte seines Liedes herausschluchzte.

Oben prasselte Applaus los.

Mit entschlossener Hast trat Romeo aus dem Dunkel auf den Mann zu. »Sehr schön haben Sie's gemacht. Sie sollten Ihre Stimme ausbilden lassen. Nächstens wieder.« Mit dieser vagen Verheißung ließ er den Schein und die Münzen diskret in die ihm diskret entgegengehaltene Faust des Sängers gleiten.

Der schloß die Faust diskret über dem Geld. »Danke schän, danke vielmals, junge Herr«, murmelte er mit beflissenen Verbeugungen, und eine Wolke von Alkoholdunst entwich seinem Munde. »War gut, bitte schän?« Bestürzt hielt er inne. Der Umstand, daß auch kleine Münzen in seiner Faust waren, schien ihn mit einem Mal bedenklich zu stimmen. Er öffnete die Faust, hob sie an die Augen.

Romeo rieb sich nervös fröstelnd die Hände.

»Machen's Ihnen Spaß aus mir?« schrie der 154 Sänger in gänzlich verändertem Ton, und sein Gesicht verzerrte sich wie zum Weinen.

»Nächstens kriegen Sie mehr, bedeutend mehr, guter Mann, der Herr Direktor hat nur augenblicklich nichts als großes Geld bei sich«, stammelte Romeo begütigend.

»Was, nächstens?!« schrie der Sänger, maßlos erregt. »Ganze Abendg'schäft hab ich verloren, bitte schän, bei solchene Saukälte hab ich auf Hof missen stehn, damit Herrschaften oben sich amisiern –! Ich geh auf Polizeikommissariat, bitte schän! Satrazenej burschoutzkej pakasch! Armeleitebetrieger, sakra mordje!«

Immer lauter brüllte er, während oben der Applaus abebbte. Romeo erkannte, hier konnte nur noch letzte Frechheit helfen. »Werden Sie sofort aufhören, in einem fremden Hause bei Nacht so zu schreien?« herrschte er den verdutzt Innehaltenden an. »Auf der Stelle machen Sie, daß Sie verschwinden, Mann, oder ich lasse Sie durch die Polizei abführen!«

»Hallo, Herr Reif –?« rief's in diesem Augenblick aus dem Fenster der Veranda oben.

Geängstigt fuhr Romeo herum: Herr Winternitz lag im Fenster. »Ja, bitte sehr –?« rief Romeo hinauf.

»Ist der Mann noch hier?« tönte es zurück.

»Ja, ist noch hier.«

»Ach, bitte, fragen Sie ihn doch, ob er als Draufgabe vielleicht noch ein anderes italienisches Lied singen könnte.«

Eine Sekunde stand Romeo erstarrt. In diesem Augenblick geschah etwas Furchtbares. Der Brust des Sängers entrang sich ein tierisch gereizter Laut. »Saupakasch!« rief er in schrillem weinerlichen 155 Diskant zu den erleuchteten Fenstern hinauf. »Dreck wer ich singen! Saupakasch! Saupakasch!« Und immer von neuem wiederholte er schreiend nur das eine Wort: »Saupakasch«.

Romeo stand mit weit aufgerissenen Augen wie gelähmt. Oben auf der Veranda war Totenstille eingetreten.

Romeo riß aus seinem Rock die Brieftasche hervor. Hastig drückte er dem Tobenden den einzigen Geldschein in die Faust, den er besaß. »Da haben Sie!« stammelte er. »Schweigen Sie!! Gehen Sie!!«

Der Tobende nahm den Geldschein an sich, ohne ihn anzusehen. Mit langsamen Bewegungen setzte er sich in Gang, das Gesicht verzerrt und wie fasziniert immer noch zu den erleuchteten Fenstern hinauf gewandt. »Saupakasch! Saupakasch!« schrie er, trunken von leidvoller Enttäuschung.

Oben wurde hastig das Fenster geschlossen.


 << zurück weiter >>