Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

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3

Aber Lotte hatte schon vorher einen Fund gemacht, wie sie es nannte, den sie Yvett verschwieg.

In der Stadt lebt völlig abseits vom allgemeinen Treiben ein Herr Axel Kolbenstetter. Abkömmling einer begüterten alten Rietheimer Kaufmannsfamilie. Dennoch wurde er von den Mitbürgern bereits aufgegeben. Sozial untüchtig. Unzuverlässig. Ein Narr, milde gesagt. Zwar behaupten gewisse jugendliche Schwarmgeister mit Nachkriegsansichten – Elemente demnach, das kennt man doch, die sich grundsätzlich in Gegensatz zu der herrschenden Meinung stellen – diese Elemente also behaupten, Herr Kolbenstetter hätte auch beileibe nicht den Ehrgeiz, ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein. Er habe ganz andere Interessen, und er sei so hochgeistig, daß er lediglich in Ruhe gelassen werden wolle. So etwas behaupten diese Grünlinge, ohne Herrn Kolbenstetter auch nur jemals von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. Denn der ist nicht zu sehen. Fragt man dann aber, womit sie diese Ansicht eigentlich begründen wollen, so 22 wissen sie nichts Vernünftigeres zu erwidern als: ein Mensch, der so viele Bücher besitzt und mit keinem Rietheimer spricht, der müsse ganz einfach ein Genie sein.

Daß dieser Herr Kolbenstetter eine ausgedehnte Bibliothek besitzt und allerlei kostbare Sammlungen, das mag schon stimmen. Das berechtigt ihn aber noch lange nicht, sich über die anderen zu erheben und deren höchste Güter zu verhöhnen. Wie das offenbar seine Art ist. Bitte, da hat zum Beispiel der Installatör, der übrigens im Gemeinderat sitzt und im Hause Kolbenstetter eine Reparatur durchzuführen hatte, erzählt, im Korridor hänge dort, inmitten von lauter alten schmutzigen Holzschnitzereien, in einem kostbaren Rahmen auch ein Reklameflugblatt in den Landesfarben »Kauft nur vaterländisches Abortpapier!« Das ist allerdings ein starkes Stück. Wie kann ein noch so geschäftstüchtiger Fabrikant solcher Artikel zu dermaßen geschmacklosen Propagandamitteln greifen. Zugegeben. Daß aber dieser Prospekt, und noch dazu kostbar gerahmt, ausgerechnet im Vorzimmer dieses Herrn Kolbenstetter hängen muß, das ist provokativste Verhöhnung seiner Landsleute. Wenn aber einmal seine Wasserleitungsröhren verstopft sind, dann erinnert er sich seiner Volksgenossen, dann braucht er sie! Oder könnte er sich seine Röhren etwa selbst reinigen? – Der Installatör, als er es erzählte, bemerkte dazu auch ganz richtig, das grenze an Volksverrat. Jedenfalls sind alle, die in Rietheim etwas bedeuten und leisten, einig darin, daß es sich hier um einen völlig unbrauchbaren Fantasten und Büchernarren handelt, der sich zu 23 allem noch größenwahnsinnig – oder ist er nicht vielmehr lichtscheu? – vor seinen Mitbürgern abschließt.

*

Dieser Herr Kolbenstetter also war Lottes »Fund«. Und das war folgendermaßen gekommen. Eines Tages war vielleicht auch in Lotte das Weib erwacht. Denn sie begann plötzlich die Einsamkeit aufzusuchen, und da träumte sie dann von einem ganz und gar ungewöhnlichen bedeutenden Menschen, den sie lieben werde. Sobald das aber einmal bei ihr feststand, sah sie sich auch sogleich – hocherhobenen Hauptes und mit freiem offenen Blick, wie das eben in allem ihre Art war – in Rietheim nach einem ungewöhnlichen und bedeutenden Menschen um. Aber in ihrem Kreis fand sich keiner, der dem geträumten Bilde entsprochen hätte. Und so stellte sich bald eine ganz unklare ziellose Sehnsucht nach romantischen Geschehnissen, nach außergewöhnlichen Situationen, bei ihr ein.

Was man da und dort über Herrn Kolbenstetter sprach, fesselte sie von da an. Sie vernahm, daß sein Vater ein großer und sogar in der Hauptstadt geachteter Kaufmann gewesen sei. Und daß der Sohn, nach dem Urteil des alten Gymnasialdirektors, schon in der Schulzeit zwar von lobenswerter Denkschärfe gewesen wäre, aber einen tadelnswerten Zynismus nicht habe verleugnen können. Nach dem Abitur habe er sich jahrelang im Ausland herumgetrieben, angeblich auf Universitäten, und erst nach seines Vaters Tod sei er dann in die Stadt zurückgekehrt. Mit einem Christusbart, doch ohne jeden akademischen Grad. Von da 24 an habe man nur noch beobachten können, daß unaufhörlich Kisten vor seinem Haus abgeladen wurden. Vermutlich mit Büchern und sonstigem alten Kram. Axel Kolbenstetter selbst aber konnte und könne man nur sehr schwer zu Gesicht bekommen. Von Zeit zu Zeit verreise er, heißt es. Bei Nacht! Und kehre auch nur bei Nacht wieder zurück. Für Frauen scheint er nichts übrig zu haben. Wiewohl er doch bereits an die vierzig gehen muß . . . Doch gerade bei dieser letzten Bemerkung erinnerte man sich der Anwesenheit Lottes und sprach nicht weiter.

Eines Tags aber konnte Lotte nicht länger an sich halten. Es war Winter, sie trug ein blaues Kostüm mit Pelzbesatz, sie hatte rote Wangen, und sie wartete auf der Straße. Als der Briefträger in das Haus Kolbenstetter trat, schlich sie ihm nach. Im Korridor machte der Postbote vor einer Tür halt und läutete. Zweimal kurz, einmal lang. Lotte war ihm ungesehen gefolgt. Die Tür öffnete sich wie von selbst mit einem dumpfen surrenden Ton. Ohne lang zu überlegen, schlüpfte Lotte hinter dem Postboten durch die Tür. Der gewahrte sie jetzt erst und blickte sie, wie es Lotte vorkam, erstaunt an. Lotte nahm aber ihre ganze Keckheit zusammen, musterte ihn ihrerseits mit hochgezogenen Brauen und tat im übrigen völlig unbefangen. Da schlüpfte der Briefträger wortlos in Filzüberschuhe, die hinter der Tür bereitstanden, schritt bis ans Ende des Vorzimmers, wo er abermals kurz an eine Tür klopfte, legte die Post auf ein Tischchen und verließ daraufhin sogleich die Wohnung. Nicht ohne Lotte, die jetzt harmlos ein Bild an der Wand betrachtete, von neuem verwundert gemessen 25 zu haben. Jetzt stand Lotte unschlüssig im Halbdunkel. Eine drückende Stille umgab sie. Sie vernahm nichts als die kurzen harten Schläge ihres Herzens . . . Die Tür, an welche der Briefträger geklopft hatte, öffnete sich mit einem Mal sanft, eine hohe Gestalt in einem bis an die Füße hinabreichenden Mantel – oder war es ein Schlafrock? – erfüllte fast gänzlich den Lichtausschnitt, ein Arm schob sich vor, nahm die Briefe an sich.

»Ich bin die Lotte Freißler!« rief Lotte mit dem letzten Rest ihrer Keckheit aus dem Halbdunkel. Aber angstvoll krampfte sie auf dem Rücken die Finger ineinander.

Die Gestalt fuhr heftig zusammen, um dann einen Augenblick völlig bewegungslos zu verharren. Lotte wurde es von Sekunde zu Sekunde unheimlicher; sie fand auch nichts, was sie noch hätte hinzufügen können. So albern es scheinen mag – nur das Märchen vom Rotkäppchen und vom Wolf fiel ihr im Augenblick ein.

Da, endlich, brach ein herzliches wohlklingendes Gelächter aus dem riesigen Schatten hervor. »So. Die Lotte Freißler bist du. Also komm nur herein, Lotte Freißler«, rief die Gestalt aus.

Trotzig trat Lotte nach kurzem Zögern ein. Ein Raum war es, wie ein Wintergarten anzusehn. Die Wände entlang, auf Regalen, standen unzählige verschiedenartige Kakteen. Und auf einem altertümlichen Tisch – dieser Umstand gab Lotte ihre ganze Sicherheit zurück – die Reste einer eben genossenen Mahlzeit: Schinken und Eier.

Der Riese hinter ihr hielt immer noch die Tür 26 offen. Er schien Lotte von rückwärts zu betrachten. »Also die Lotte Freißler bist du«, rief er unter Lachen noch einmal aus, »aha!« Damit setzte er sich, ihr gegenüber, in einen Lehnstuhl und blickte sie höchst belustigt an.

Lotte ärgerte diese Heiterkeit allmählich. Mit fast verächtlich vorgeschobener Unterlippe erwiderte sie trotzig seinen musternden Blick: Ein älterer, ziemlich beleibter Mann in einem Schlafrock, wie ihn auch Pappi in früheren Jahren zu Hause gern trug, ein spitzbärtchenumrahmtes wohlwollendes Gesicht mit zarter rosiger Haut, Hornbrille und schwach ergrautem Haar.

»Entschuldigen Sie, Herr Kolbenstetter«, begann Lotte; denn sie fand es nun doch unschicklich, so lange nichts zu sagen, »– ist es wahr, daß Sie so schrecklich viele Bücher haben?« Enttäuscht suchte ihr Blick dabei die einfarbig getönten leeren Wände ab. Mehr noch als die Bücher vermißte Lotte Retorten und Skelette. Dergleichen hatte sie nämlich mit Bestimmtheit hier erwartet.

»Nein! mein Fräulein«, lachte der Riese im Schlafrock. Und als hätte er die Ursache ihres offensichtlich enttäuschten Blickes erraten, fügte er hinzu: »Sie haben wohl in der Schule soeben den Faust gelesen und vermissen nun hier ›Urväter Hausrat‹, nicht wahr? Aber da gibt es doch jetzt ein viel besseres Stück als den Faust: ›Lotte Freißlers Ausflug ins Romantische‹. Hilfe! Au!« Jetzt preßte er beide Hände gegen den Bauch und erstickte beinahe vor Lachen.

In Lotte schwoll der Zorn. »Wenn Sie sich schon 27 weiter über mich lustig zu machen gedenken, so könnten Sie wenigstens wissen, was sich gehört, und mir einen Stuhl anbieten!«

»Gibt's nicht, Mäderle! Stehen bleiben! Du bist zu nett! Ich muß alles sehen von dir!« Er lachte noch immer.

Lottes Wangen waren vom Winter und vom Unmut doppelt gerötet. »Was fällt Ihnen eigentlich ein, mich zu duzen?« rief sie. »Ich gehe wieder, Herr Kolbenstetter. keine Angst! Aber Sie brauchen sich wirklich nicht einzubilden, daß ich gekommen bin, weil etwa Sie mich interessierten. Ich . . .« Lotte hielt inne, denn etwas ganz und gar Unerwartetes geschah: Herr Kolbenstetter wurde über und über rot. Und er blickte plötzlich sehr ernst zu Boden.

»Ja, ich muß um Entschuldigung bitten«, sagte er, einigermaßen stockend. »Aber es geschieht schließlich auch nicht alle Tage, daß eine junge Dame mich besucht.« Das »junge Dame« sagte er ohne allen Spott; obwohl es ihm nicht eben leicht von den Lippen zu gehen schien. »Und da bin ich mir vielleicht nicht mehr ganz der Formen bewußt . . .« Er brach ab und blickte Lotte nun wieder voll ins Gesicht. »Hat Sie ein bestimmtes Anliegen zu mir geführt, Fräulein Lotte?«

Gewiß hatte sich Lotte ein Anliegen zurechtgelegt. Aber der Respekt, mit dem Herr Kolbenstetter sie auf einmal behandelte – und es schien ihm durchaus ernst damit zu sein – verwirrte sie plötzlich. Fast wäre es ihr nun eine Erleichterung gewesen, wenn er sich weiter über sie lustig gemacht hätte. Auch befürchtete sie mit einem Mal, daß er ihr 28 Anliegen sogleich als einen Vorwand durchschauen könnte. Was aber würde sie dann sagen?

»Ja ich wollte, Herr Kolbenstetter«, stammelte sie, »– ich wollte Sie eigentlich bloß um eine Gefälligkeit ersuchen. Sie werden es wahrscheinlich merkwürdig finden . . . Aber da es doch allgemein hieß, daß Sie so schrecklich viele Bücher haben . . . Vielleicht haben Sie aber gar keine Bücher . . .« Sie verstummte und suchte ihre wachsende Verlegenheit nun in keiner Weise mehr zu verbergen. Es schien ihr im Gegenteil angezeigt, verwirrt zu sein. Und in dem Gefühl, daß es gut war, so verwirrt wie möglich zu erscheinen, spürte sie auch schon wieder neue Sicherheit in sich aufsteigen.

»Nun, und ohne daß ich die Bücher habe, könnte ich Ihnen nicht gefällig sein, Fräulein Lotte?« vergewisserte sich Herr Kolbenstetter, sehr ernst und höflich.

»Ich weiß es nicht, Herr Kolbenstetter«, sagte Lotte und lächelte so scheu und allerliebst wie sie nur konnte.

»Um was handelt es sich denn . . . ungefähr?« erkundigte sich Herr Kolbenstetter, und eine leichte Röte flüchtete abermals über seine Wangen.

»Nun, wir haben in der Schule, bitte lachen Sie nicht wieder – für Montag eine Hausarbeit aufbekommen: Der Triumph der bürgerlichen Moral in Hebbels ›Maria Magdalena‹ . . .«

Herr Kolbenstetter lachte bereits wieder. Nicht mehr so eruptiv freilich wie vorher, sondern behaglicher, gleichsam schnurrend. »Nun und – Fräulein Lotte?«

Jetzt lachte Lotte mit ihm. Sah sie doch, daß sie 29 das Spiel fürs erste gewonnen hatte. »Und da dachte ich mir, da Sie doch soviel wissen, wie es heißt, daß Sie mir bei dieser schwierigen Arbeit doch eigentlich recht gut helfen könnten!« Diese Idee war ihr gleich gekommen, als das Thema an die Tafel geschrieben wurde. »Vielleicht wissen Sie aber gar nicht so viel?« setzte sie mit schalkhaften Augen rasch hinzu.

Herr Kolbenstetter schien das zu überhören. »Der Triumph der bürgerlichen Moral . . .«, wiederholte er auf eine sonderbare Art und irgendwie nachdenklich. Dann erhob er sich von seinem Sitz. »Nun, ich will es mir überlegen, Fräulein Lotte. Denn ein so schwieriges Thema, wie Sie selbst richtig sagten . . . Für welchen Tag haben Sie die Arbeit doch gleich aufbekommen?«

»Für Montag«, entgegnete Lotte zaghaft. Es brachte sie aus der Fassung, daß Herr Kolbenstetter ihr jetzt allen Ernstes bei der Arbeit helfen wollte. Auch hätte sie zu gern noch gewußt, warum der Postbote hier Filzpantinen tragen mußte. Aber danach zu fragen, schien nun gar keine Möglichkeit mehr zu bestehen.

»Für Montag«, wiederholte Herr Kolbenstetter überlegend. Dann starrte er sie plötzlich mit einem eigenartigen Blick an, wie voll Sehnsucht, und entschied hastig: »Also kommen Sie doch, wenn es Ihnen recht ist, morgen um die gleiche Zeit hier vorbei.« Und schon schritt er Lotte voran zur Korridortür, öffnete sie. Lotte blieb nichts zu tun übrig als kindlich beglückt für die große Bereitwilligkeit zu danken. Was nicht ganz ihren Wünschen entsprach. »Also auf Wiedersehen, Herr Kolbenstetter!«

»Auf Wiedersehn, Fräulein Lotte.«

30 Lotte war gegangen.

Zerstreut stand Axel Kolbenstetter noch einige Sekunden hinter der geschlossenen Tür; aber seine Finger hielten weiter die Klinke. Dann kehrte er mit langsamen Schritten in den Raum zurück, der wie ein Wintergarten aussah. Gedankenlos zog er an den Fenstern die Vorhänge zusammen. Graues Dunkel senkte sich über das Zimmer. Nur an der einen Wand behaupteten sich Streifen von Wintertageslicht.

Axel Kolbenstetter ließ sich, als wäre er müde, in den Lehnstuhl fallen, neigte den Kopf weit zurück und blickte starr auf die Lichtstreifen an der Wand. Er lachte kurz auf, doch er verstummte ebenso jäh.

Minuten verstrichen mit dem geheimen Geräusch eines fernen elektrischen Geräts.

Eine Tür ging. Und kaum merklich hub irgendwo in der Wohnung ein Hantieren mit Töpfen und Tellern an.

Axel Kolbenstetter hörte es nicht. Er schien zu schlafen.

*

Am nächsten Tag, pünktlich um die gleiche Zeit, fand Lotte sich quellfrisch abermals bei Herrn Kolbenstetter ein. Eine kleine romantische Hoffnung hatte sie freilich schon tags zuvor, gleich beim Anblick des Schinkenomeletts auf dem Tisch und der bürgerlichen Leibesrundungen des Einsiedlers, zu Grabe getragen. Aber eine urgesund durchschlafene Nacht hatte ihr die ganze Geschmeidigkeit ihres Wesens zurückgegeben. Lotte hielt sich jetzt einfach an die gegebene Wirklichkeit, und die war schließlich noch immer überaus interessant. Axel Kolbenstetter 31 war kein Faust, gewiß, er war kein spukhafter Feind allen Lebens in Rietheim und noch weniger ein erlösungsbedürftiger bleicher Prinz mit brennenden Augen, er war ein schinkenessender Mann in einem Hausrock, wie auch Pappi ihn früher mal trug, zugegeben. Aber barg sich nicht gerade hinter seiner unwahrscheinlich geheimnislosen Art eine nur um so größere Überlegenheit und doch so etwas wie ein Geheimnis? Und schließlich – welches Mädchen in Rietheim konnte von sich behaupten: mich empfängt der gelehrte und sonst so abweisende Eremit in aller Heimlichkeit bei sich, mich fordert er errötend zum Wiederkommen auf, damit wir zusammen einen großen Aufsatz über die bürgerliche Moral in Hebbels ›Maria Magdalena‹ schreiben, ich habe das gellende Hohngelächter eines allseits gefürchteten Volksverräters gezähmt und in scheue Ehrfurcht verwandelt. Soll nur Yvett das mal probieren! – Mit solchen Gedanken hatte Lotte sich leicht über die anfängliche Enttäuschung hinweggeholfen. Und dann fand auch ihr Hunger nach Außergewöhnlichem immer noch Nahrung bei den unzähligen Kakteen an den Wänden und bei den Filzüberschuhen, die der Postbote tragen mußte, auf daß er die unheimliche Stille des weiten Hauses nicht störe. So blieb Axel Kolbenstetter für Lotte trotz allem ein Fund.

Es ist bekannt, daß es Papas Tochter eben ganz und gar entsprach, sogar aus Eiter noch Honig zu saugen. Dieses selten häßliche Sprachbild stammt allerdings aus dem üblen Mund eines ihr wenig gewogenen Tanzstundenzynikers, der irgendwo an der Peripherie von Rietheim ansässig war.

32 Ohne furchtbaren Sturz aus den lichten Höhen ihrer Einbildung sollte es freilich auch bei diesem Besuch für Lotte, die munter und voll Erwartung erschien, nicht abgehen. Der ganz und gar ungehobelte Mensch empfing sie mit schallender Heiterkeit; er erwiderte ihr artig-vertrauliches »Guten Tag, Herr Kolbenstetter«, einfach mit den Worten: »Die bürgerliche Moral tommt . . . Hilfe!« Und wurde blaurot im Gesicht vor Lachen.

Lotte traf es wie ein Keulenschlag. Gestern – da hatte dieses unerhörte Gelächter nicht so auf sie gewirkt, nicht dermaßen herabsetzend und verletzend. Da hatte sie es, wenn sie sich die für Herrn Kolbenstetter doch reichlich absonderliche Situation vergegenwärtigte, mehr oder weniger begreiflich gefunden. Ja sie hatte zuletzt schon kämpfen müssen, um von diesem stürmischen Gelächter nicht angesteckt zu werden. Aber heute –! Wo er ihre Vorzüge doch bereits kannte, und wo es ihr am Morgen vorgekommen war, als hätte er die ganze Nacht an sie gedacht . . .

In Lottes Augen erschienen zwei böse Tränen. »Bitte, benehmen Sie sich!« herrschte sie Herrn Kolbenstetter an, vibrierend vor Aufregung. Der gab, erstickend, nur einen quiekenden Laut von sich, wie ein Tier. Eine unzähmbare Wut überkam Lotte, ein fürchterliches Haßgefühl gegen das quiekende und prustende Ungeheuer. Sie stampfte mit dem Fuß. »Also genug!« rief sie erbost. »Wenn Sie mich nicht behandeln, wie es mir gebührt, sag ich's dem Pappi, dem Doktor Freißler! Der wird schon mit Ihnen fertig werden! Warum haben Sie mich zum Wiederkommen 33 aufgefordert, wenn Sie sich bloß . . . – ach was! Überhaupt wissen alle, daß Sie ein Volksverräter sind. So. Und nun – guten Tag. Also lassen Sie mich doch schon hinaus, Sie –!«

Herr Kolbenstetter lehnte mit dem Rücken an der Tür, verstellte ihr so den Ausgang. Die Tränen schossen ihm aus den Augen, vor Lachen, er rang hilflos die Hände. Endlich gelang es ihm hervorzustoßen: »Mäderle! Nicht! Nicht böse sein! Aber ›Pappi‹! Und ›Volksverräter‹! Das ist zuviel! Hilfe, Hilfe! Ja, wie ich jünger war – da konnte man mir solche Sachen noch erzählen! Aber heute! Bei dem Umfang – –!« Er preßte beide Hände gegen den Magen und bekam jetzt plötzlich die Augen eines die Strafe erwartenden Kindes.

Diese Augen besänftigten Lotte. Sie empfand mit einem Mal – komisch! – etwas für Herrn Kolbenstetter . . . ein Gefühl war es, das sie vorher nie gekannt hatte. Ähnlich wie Mitleid. Ob das am Ende die Liebe ist, ging es ihr durch den Kopf. Doch sie verwarf den unsinnigen Gedanken.

Allmählich beruhigte er sich. Er trocknete sich Stirn und Wangen mit einem Taschentuch. »Entschuldigen Sie, Fräulein Lotte«, sagte er, schwach, »ist schon wieder gut.« Damit vollführte er eine einladende Handbewegung und öffnete eine Tür.

Lotte trat ein. Die Bibliothek! – durchfuhr es sie. Ein riesiger Raum. Herr Kolbenstetter drückte auf Knöpfe an der Wand. Strahlendes Licht schoß aus unzähligen elektrischen Kerzen auf die Wände, auf den märchenhaft herrlichen Teppich, der den Boden bedeckte. So was besaßen nicht einmal die 34 Winternitz! Lotte stand geblendet. Geblendet von der verschwenderischen Fülle und der schimmernden Farbwirkung der Bücher, die bis zur Decke empor die Wände bedeckten. Sie hielt den Atem an.

Sie wandte den Kopf nach Herrn Kolbenstetter zurück. Sie lächelte stumm und artig, und in ihren Augen schimmerte es perlmutterbraun.

Axel Kolbenstetters Wangen waren schlaff. Er machte eine kleine Bewegung, als wollte er sie bei der Hand oder an der Schulter fassen, aber er unterließ es. »Sie sind ein gutes Kerlchen, Fräulein Lotte«, sagte er rasch, als wollte er sich verbessern. »Sie sind mir nicht mehr böse, nicht wahr?« Und er lächelte gutmütig.

»Nein«, sagte Lotte und schüttelte bedächtig den Kopf. Sie sagte es seelenvoll. Beide schwiegen.

»Und meine Hausarbeit, Herr Kolbenstetter?« Damit wandte sie sich ihm, schalkhaft, nun vollends zu.

Eine Sekunde lang war es ein zerstreutes schmerzliches Lächeln, das um Axel Kolbenstetters Lippen spielte; wenigstens kam es Lotte so vor. Gleich darauf aber lachte er voll herzhafter gewinnender Heiterkeit. »Sie sollen mich kennenlernen. Den Spaß laß ich mir wirklich nicht entgehen. Die einzige Gelegenheit, mich in meinen Jahren noch einmal produktiv auszuleben. Kommen Sie, Fräulein Ulrike. Sie heißen doch Ulrike, nicht? Ach, Lotte, so, natürlich, Lotte. Also wie lautet eigentlich das Thema?«

Sie waren in ein anderes kleineres Zimmer eingetreten, das gleichfalls voll von Büchern stand, sonst aber nahezu ärmlich war. Unvermittelt begann Herr Kolbenstetter hier sogleich, während er mit großen Schritten den Raum durchmaß, Lotte die Hausarbeit 35 zu diktieren. Nicht ohne zeitweise Heiterkeitsausbrüche. Denn er gab sich sichtlich alle Mühe, das Thema so einfach und ungelehrt wie möglich zu behandeln. Dennoch spürte Lotte einen ihr bis dahin fremden umfassenden und geradezu unmenschlich unparteiischen Geist aus den Sätzen heraus. Das freute sie zunächst Herrn Kolbenstetters wegen. Bald darauf gerieten ihre Gedanken freilich in eine andere Richtung. Während sie mechanisch niederschrieb, was der gelehrte Einsiedler ihr diktierte, schwelgte sie bereits in der Vorstellung, was wohl der Professor über diese »weitaus originellste und gründlichste Arbeit« in der Klasse sagen werde. Im Lehrerzimmer würde das Heft selbstverständlich von Hand zu Hand gehen und voll Staunen betrachtet werden. Und Pappi! Dem wird sie zunächst natürlich nichts von dem allen erzählen. Erst wenn er von Lottes Ruhm aus dem Munde der Professoren und des Direktors gehört haben werde, da wird sie dann ganz schlicht bloß bemerken: »Nun ja, Pappi, dieses Thema hat mich eben mal stärker interessiert.« Ja, genau so würde sie sagen. Nichts weiter. Und auch in der Schule, und besonders Yvett gegenüber, würde sie so tun, als wäre das ganze doch gar nicht so viel Aufhebens wert: Ach Gott, sie hatte doch schließlich immer »vorzüglich« unter ihren deutschen Aufsätzen gehabt. Einige von den neidischen Gänsen würden zwar, wie immer, miteinander tuscheln . . . – So, also glaubt ihr vielleicht, ihr Gänse, daß mir mein Vater bei der Arbeit geholfen hat? Mein Vater kennt den Aufsatz bis heute gar nicht! Soll ihn Yvett doch noch heute fragen, ob er eine Ahnung hat, daß wir das Thema überhaupt zu 36 behandeln hatten! – Nur gut, dachte Lotte, daß kein Mensch gerade Herrn Kolbenstetter dahinter vermuten wird. Ihn doch am allerwenigsten. –

Hingegeben an diese Gedanken, füllte Lotte mechanisch Seite auf Seite mit ihrer sauberen Kinderschrift. Plötzlich schrak sie auf. »So, mein Fräulein, ich denke das wird genügen«, hatte sie Herrn Kolbenstetter ausrufen hören. Wie bei einer schlechten Tat ertappt, sprang Lotte errötend auf; hastig legte sie die Blätter zusammen. Dann stammelte sie verlegen einige Dankesworte. Aber Herr Kolbenstetter unterbrach sie, gut gelaunt. »Ich stelle nur die eine Bedingung, daß Sie mir das Heft bringen, sobald Sie es vom Professor korrigiert zurückerhalten haben, Fräulein Lotte.« Damit schritt er ihr auch schon voran, ganz so wie gestern, zur Tür. Lotte versprach, mit dem Heft wiederzukommen. »Es interessiert mich doch brennend zu wissen, wie ich in einem Mädchenlyceum heute abschneiden würde«, setzte er lachend hinzu und reichte ihr zum Abschied die Hand. »Das weiche Patschhändchen!« murmelte er noch, und es schien Lotte, als wenn er mit einem Mal wieder traurige Augen machte.


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