Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

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2

Um sich von Lotte etwas zu lösen, deren beharrliche Triumphe in ihrem Bereich ihr allmählich doch unerträglich wurden, im Maße nämlich, als Yvett reifer wurde und statt Lottes Knie nun doch lieber die Knie eines Jünglings berührt hätte – um sich von Lotte etwas zu lösen, schloß sich Yvett heimlich enger 15 an ein Mädchen an, das, älter als sie selbst, ihr ungeheuer wissend vorkam und Kind einer in Rietheim wenig geachteten Familie war. Der Ernährer dieser Familie, eine rheumatische Null, war Prokurist in der Fabrik von Yvetts Vater, die Familie selbst bestand neben ihm aus einer mannstollen Frau und zwei mannstollen Töchtern, und in dieser Familie besaß der Ernährer keinerlei Prokura. Im Gegenteil. Nicht wenige noch in der Pubertät begriffene Jünglinge wollen nacheinander die ganze Familie mit Ausnahme des Vaters besessen haben, und auf dem schwarzen Brett des Gymnasiums war einmal verlautbart worden, daß bis auf weiteres den Schülern aller Klassen Besuche in Privathäusern nur mit der ausdrücklichen schriftlichen Einwilligung der Eltern, beziehungsweise des verantwortlichen Erziehers, gestattet seien. So arg mußte es dort bereits zugegangen sein.

Yvett hatte von alldem natürlich gehört. Und eines Vormittags konnte sie nicht länger an sich halten und nahm eine Einladung zu ihrer neuen Freundin, Erna hieß sie, an.

*

Schuldbewußt und linkisch trat sie am Nachmittag dort ins Zimmer. Auf dem Sofa saß ein Jüngling mit einem Mädchengesicht. In seinem Haar hatte die Schwester Ernas gerade ihre Finger. »Die ist nicht so dumm, sondern genießt das Leben«, fuhr es Yvett durch den Kopf. Und verlegen starrte sie den Jungen an. Der sprang leicht errötend auf und stellte sich vor. »Romeo Reif!« Wobei er sehr weltmännisch und sicher war.

16 Es war noch ein zweiter Junge zugegen, größer und älter, der indessen auf dem Sofa ruhig sitzen blieb und Yvett nun ziemlich dumm anlächelte. Er war aber sehr gut gewachsen, und Yvett erinnerte sich plötzlich, daß er ihr doch aus der Theatervorstellung eines Dilettantenvereins bereits bekannt sei. Damals hatte sie über seine übertriebene Art zu deklamieren und die Augen zu rollen mit Lotte furchtbar gelacht. Immerhin schwärmten, wie sie wußte, einige Mitschülerinnen von ihm. Der Mime begann auch sogleich mit geistlos-schlüpfrigen Bemerkungen um sich zu werfen. Lustvoll sekundierten ihm dabei die Schwestern. In diesem Augenblick sahen sie, nicht ohne Feindseligkeit, in Yvett vermutlich nur die Tochter ihres Brotgebers, das unbescholtene vornehme Mädchen, und weideten sich an ihrer hilflosen Verlegenheit. Auch Romeo Reif tat sehr blasiert und verkommen. Solange Tee getrunken wurde, saß man gemeinsam um den Tisch herum; jetzt nahmen die Schwestern mit den beiden Jünglingen neuerdings auf dem Sofa Platz und begannen wie selbstverständlich Zärtlichkeiten auszutauschen. Yvett sah sich allein am Tisch, einsam, von der Welt gänzlich abgeschnitten.

»Aber setzen Sie sich doch zu uns, Fräulein Winternitz!« rief schließlich Romeo, auf den die ratlos ertrinkenden Augen Yvetts offenbar Eindruck machten. Yvett hatte sich – wohl zum ersten Mal in ihrem Leben – schon einige Minuten in den Schoß ihrer, ach, wie friedlich-anständigen Familie zurückgesehnt; doch erst diese Aufforderung gab ihr die Kraft zu einem unsicheren Aufbruchsversuch. Damit rief sie jedoch 17 eine so laute Heiterkeit hervor, daß sie, blutrot und völlig verzweifelt, in der Mitte des Zimmers stehen blieb und sich nun weder zum Fortgehen noch zum Bleiben entschließen konnte.

»Aber was hast du denn, Yvett!« stieß Erna unter Lachen hervor. »Wir tun eben einfach was uns Spaß macht und kümmern uns den Teufel darum, was die Leute von uns denken. Verlaß dich drauf, man lebt besser so.«

»Natürlich! Antike Sinnesheiterkeit sei 's Panier! Ein Hundsfott, der sie schmäht!« deklamierte der Dilettant aus dem Theaterverein und griff nach Ernas Brust. Erna schrie kreischend auf.

Yvett dachte: Dann ist es zumindest gemein, daß ihr mich hier allein am Tisch sitzen laßt. Laut aber stammelte sie bloß: »Ach nein, das ist es auch nicht . . . Aber Mama erwartet mich bei der Schneiderin . . . Es hat mir im Gegenteil doch sehr gut bei dir gefallen, Erna! Aber wegen Mama geht es nicht, leider . . . Auf Wiedersehen, Erna. Guten Tag.« Da merkwürdigerweise aber alle taktlos schwiegen, während Ernas Schwester in die vorgehaltene Hand hineinkicherte, vermochte Yvett, vor lauter Peinlichkeit wie gelähmt, kein Glied zur Tür hin zu regen. Am liebsten wäre sie wohl spurlos in die Erde gesunken. »Guten Tag«, würgte sie mit angstgeweiteten Augen noch einmal hervor, und dann wankte sie mit steifen Beinen zur Tür.

Der Dilettant, weltmännisch die Situation rettend, sprang vom Sofa empor, pflanzte sich breit vor die Tür hin: »Deinen Mund beut mir zum Abschied, göttliches Mädchen!«

18 Aber auch Romeo hatte sich erhoben. Er trat zwischen die beiden. »Laß das, du verhinderter Tragöde«, sagte er und geleitete Yvett mit vollendeter Ehrerbietung auf den Korridor hinaus. Er vermutete, auf diese Weise mehr Eindruck zu machen. Yvett gefiel ihm. »Wenn Sie gestatten, Fräulein Winternitz, werde ich Sie noch zu der Schneiderin hinbringen. Ich meine, damit Ihnen ähnliche Anfechtungen erspart bleiben.« Es war heller Tag.

»Nein! Bitte, bleiben Sie«, hauchte Yvett, atemlos; »danke schön. Adieu.«

Romeo ging trotzdem neben ihr her. Die Treppe hinunter, die Straße entlang. Und redete. Er sei Jurist im ersten Semester, aber er fahre nur zu den Immatrikulationen in die Hauptstadt. Von seinen Plänen sprach er; daß er Künstler werden wolle, und daß in ihm eine merkwürdige Sehnsucht nach Höhenflügen der Seele sei. Erna und ihre Familie streifte er nur kurz und verächtlich. Dorthin ginge er übrigens nur zu dem Zweck, um psychologische Studien zu machen, ob sie ihn denn verstehe? Da Yvett aber noch keine Silbe erwidert, sondern mehrmals nur heftig mit dem Kopf genickt hatte, kam er gewandt auf Allgemeines, auf die Festspiele dieses Sommers zu sprechen. Jetzt hatte sich Yvett schon so weit gefaßt, daß sie einzuflechten vermochte, auch sie habe einen Abend in Salzburg mitgemacht. Romeo war entzückt. Wie er sie beneide! Und bei welcher Aufführung sie denn zugegen gewesen sei?

»Ja es war ganz wunderbar«, ereiferte sich Yvett. »Die Oper war es von . . . warten Sie . . . von – ? –«

»Na von Mozart doch jedenfalls«, ergänzte 19 Romeo mit nachsichtigem Lächeln. »Welche war es denn?«

Yvett wußte plötzlich gar nichts mehr; das war ihr nun doppelt peinlich.

»Na warten Sie, Fräulein, nehmen wir Mozarts Opern einfach nach der Reihe durch. Dann wird es Ihnen schon einfallen«, sagte Romeo aufmunternd. Und ohne allzu merkbare Überlegenheit begann er sogleich, ohne zu stocken: »›Bastien und Bastienne‹ war es sicher nicht. ›Cosi fan tutte‹ auch kaum. ›Entführung aus dem Serail‹ vielleicht? ›Figaros Hochzeit‹ . . . Auch nicht? ›Don Juan‹?? ›Zauberflöte‹?! Ja hören Sie, sonst gibt es doch nichts mehr!«

Yvett erschrak. Denn der gesuchte Titel fiel ihr plötzlich ein. »Nein!« rief sie. »›Jedermann‹ hieß es, natürlich! ›Jedermann‹.«

»Tja, das ist dann freilich was anderes«, bemerkte Romeo, und nun legte er sein Gesicht unverhüllt in tadelnde Falten. »Ein Schauspiel war es also. Von Hofmannsthal. In der Reinhardtschen Inszenierung.«

»Ja«, suchte Yvett freudig zu bestätigen, aber da Romeo belastend schwieg, verstummte sie rasch. Schweigend gingen sie einige Sekunden nebeneinander her.

»Gott, wie Sie das wissen«, hauchte Yvett bewundernd, mutlos, und in ihre Augen traten Tränen.

»Na, na«, wehrte Romeo bescheiden ab, »das weiß doch heute jedes Kind.«

»Nur ich weiß es nicht«, murmelte Yvett, ohne Ton, »sobald ich es nämlich wissen sollte.« Und sie lächelte, weil im Augenblick offenbar gar keine Möglichkeit für sie bestand, Selbstmord zu begehen.

20 »Was? Wie meinten Sie?« erkundigte sich Romeo. Aber Yvett wandte bloß stumm den Kopf zur Seite.

Yvett blieb stehen. Sie waren bei ihrem Hause angelangt. »Guten Tag, Herr . . . Herr . . .?« »Reif«, ergänzte Romeo verbindlich. Es war ihm mit einem Mal eigentümlich traurig zumute. »Wann kann ich Sie wiedersehn, Fräulein Winternitz?«

»Nie!« stieß Yvett unbeherrscht hervor, »es ist besser für Sie!« Eigentlich meinte sie: »für mich«. Aber gleichzeitig merkte sie selbst das Pathetische ihrer Antwort – eine neue Entgleisung. Und verzweifelt stürzte sie ins Haus.

Den ganzen Abend spielte sie dann zum Staunen der Eltern Sonaten von Mozart und gab auf keine Frage Antwort.

*

Am nächsten Tag, nach der Schule, erwartete Romeo sie unweit vom Ausgang des Schulgebäudes. Mit einer Miene, als wartete er hier seit Monaten täglich auf sie.

Aber auch Yvett war in keiner Weise verwundert, Romeo hier zu erblicken; sie wäre im Gegenteil erstaunt gewesen, hätte sie ihn nicht vorgefunden. Ängstlich blickte sie nur mehrmals zurück. Ob ihnen nicht am Ende die Lotte gleich wieder folge – in aller Harmlosigkeit, wie sie es immer machte. Doch nichts war von Lotte zu sehen. Wahrscheinlich scherzte sie auf dem Gang noch immer mit dem alten Religionslehrer . . . Und unvermittelt sprach sie den Wunsch aus, Romeo möge sie künftig nie mehr vor dem Schulgebäude erwarten. Der Professoren wegen, begründete sie.

21 Und auch in den nächsten Wochen, da sie sich nahezu täglich mit Romeo traf, verbarg sie ihn peinlich vor Lotte. Er war so nett angezogen und so gescheit. Jung schien er ihr auch – wenn sie seine Art mit der ihren verglich. Und schon dachte sie ängstlich daran, wie jung auch Lotte war . . . Jedenfalls sollte die ihn nicht haben. Noch nicht haben. Diese Egoistin!


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