Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

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56 Von diesem Tag an lebte Lotte mit sich und der Welt in Feindschaft. Düster und schweigsam verbrachte sie ihre Zeit fast ausschließlich über den Schulbüchern, und auch beim lockendsten Eislaufwetter war sie nicht zum Verlassen der Stube zu bewegen. Schon gar nicht aber zum Besuch der Tanzstunden. Sie lernte mit wütendem Fleiß, stets mehr als man in der Schule aufbekommen hatte; auch ließ sie keine Gelegenheit vorbeigehen, ohne ihre Kenntnisse strahlen zu lassen. Besonders dann, wenn eine Mitschülerin unmittelbar vorher bei der gleichen Frage versagt hatte. Sie zeigte freilich keinen Schimmer von freudiger Genugtuung darüber, aber sie tat es doch und tat es hartnäckig immer wieder. Nie half sie durch Vorsagen bei den Schularbeiten, was sie früher aus dem einfachen Bedürfnis, als anständig zu gelten, doch manchmal getan hatte; noch weniger nahm sie für sich selbst fremde Hilfe in Anspruch – das hatte sie jetzt bei Gott auch nicht nötig. Sie drückte mit ihrem ständig bereiten Wissen die Noten der übrigen um mindestens einen Grad herab, denn wo früher keine in der Klasse etwas gewußt hatte, da wußte jetzt eine etwas. In der Pause hielt sie sich auf dem Korridor stets abgesondert von den übrigen, und sie erregte kurzum in allem und jedem allmählich die höchste Erbitterung der Klasse. Die Geschichte mit der Hausarbeit war nach Dr. Freißlers männlichem Dazwischentreten im Sande verlaufen, in der Form nämlich, daß Lotte vor der Klasse eine formelle Verwarnung erhielt ›wegen nicht empfehlenswerter 57 Privatlektüre, deren unverdauter Genuß sich in der letzten deutschen Hausarbeit der Schülerin deutlich niedergeschlagen hat.‹

Zuhause übersah Lotte, höflich aber gemessen, mit Hartnäckigkeit die Versöhnungsbereitschaft des Vaters und reizte den unbeugsam Stolzen dadurch stets von neuem zu gerechtem Zorn auf. Man saß, wie Frau Freißler sich Frau Winternitz gegenüber ausdrückte, in der Familie nur noch auf einem Pulverfaß. Die Mutter war es nämlich in erster Linie, die von Lotte geradezu schandbar behandelt wurde; die schuldlose Schöne ging Lotte mit ihren ewig erneuerten, wehmütig-gütigen Vorstellungen, daß das undankbare Kind lieblos und ungerecht gegen den einzigen Pappi sei, auf die Nerven.

Lotte bemühte sich, an Herrn Kolbenstetter nicht mehr zu denken. Und nach anfänglichem kurzen Schwanken gelang ihr das auch, wie ihr eben alles gelang, was sie bei sich einmal fest beschlossen hatte. Sie war ihm keineswegs böse. Ganz im Gegenteil. Gleich am Tag, der dem furchtbaren Zornesausbruch des Vaters gefolgt war, hatte Lotte den Aufsatz mehrmals aufmerksam durchgelesen. Doch das meiste darin war ihr völlig unverständlich geblieben. Bis sie endlich auf den Einfall kam, in Vaters Zimmer aus dem Bücherschrank, der die deutschen Klassiker in schönen goldgeschmückten Bänden enthielt, Hebbels »Maria Magdalena« zu nehmen. Jetzt, nachdem sie das Drama in seiner eigentlichen Fassung kannte, entschleierte sich ihr ahnungsweise auch manches von Herrn Kolbenstetters Gedanken. Von Blödsinn und Geschwollenheit, wie der Vater sich ausgedrückt hatte, 58 konnte da gewiß nicht die Rede sein. Herr Kolbenstetter hatte auch gar nicht für den Bösewicht und gegen die ordentlichen Leute in dem Stück Partei ergriffen – diese ordentlichen Leute kamen Lotte übrigens recht beschränkt und hartherzig vor – er hatte den Bösewicht vielmehr nur mit dessen innerer Dürftigkeit und Schwäche zu rechtfertigen versucht, und das war doch schließlich nur schön von Herrn Kolbenstetter gewesen. Der Sündenfall der Maria Magdalena freilich erschien in dem Aufsatz ganz ohne Rückhalt verherrlicht. Das entsprach aber ganz und gar auch Lottes innerstem Empfinden. Zwar wußte sie nicht recht, worin dieser Sündenfall eigentlich bestand – das Mädchen bekam eben ein Kind. Ein Kind, nun ja . . .? – – Alles, was diese Maria Magdalena aber auch getan haben mochte, sie hatte es gewiß nur aus Liebe getan. Und das war sicherlich ein großes, ein herrlich schönes Gefühl.

Auch sie würde einmal so lieben . . .

Sollte sie mit dem Heft, wie sie's versprochen hatte, zu Axel Kolbenstetter gehen?

Nein. Er würde am Ende wieder zu lachen beginnen, und das könnte sie jetzt nicht ertragen. Jetzt nicht.

Unendlich viel aber gäbe sie darum, zu wissen, wer nun eigentlich der bessere, der größere Mensch war: der Vater, der so dachte, wie alle dachten, die ihr in Rietheim bisher begegnet waren, oder Axel Kolbenstetter, den alle verurteilten, weil er anders war als sie alle. Oder konnte einer der bessere Mensch sein und dabei doch gewöhnlich, ja spießbürgerlich wirken? Und der andere der größere Mensch sein und 59 doch das verachten, was alle für das Gute hielten? – vielleicht gerade deshalb der größere Mensch sein? – In diesem Fall wollte Lotte lieber ein großer Mensch sein als ein guter Mensch, ja.

Aber solche Gedanken mündeten stets in ein unerforschliches Dunkel ein. Zum Schluß fand man sich überhaupt nicht mehr zurecht. Lotte verbot es sich also, derlei Gedanken noch weiter nachzuhängen. Und diesem Selbstverbot blieb sie auch geraume Zeit treu.

Durch einige Tage beunruhigte sie noch das uneingelöste Versprechen, Herrn Kolbenstetter die korrigierte Arbeit zu bringen, dann dachte sie auch daran nicht mehr.

Mit sich und der Welt zerfallen, reizte sie etwas anderes vielmehr zum Widerstand. Es war jenes halbverborgene Fluidum von Glücklichsein, das in letzter Zeit aus Yvetts ganzem veränderten Wesen strahlte. Yvett war eine schlechtere Schülerin als jemals zuvor. Aber statt daß diese anhaltenden Mißerfolge sie, wie früher, mit Verzweiflung erfüllt hätten, jetzt erschütterten sie in keiner Weise Yvetts sieghaften Gleichmut.

Lotte ahnte, daß Yvett ein sie heimlich erfüllendes und sicherheitspendendes Glück vor ihr verbarg, und was sich in Lotte darüber allmählich regte, war Vernichtungsdrang.

*

Die vielen Stunden, die Yvett an den Nachmittagen außer Haus zubrachte, Gott weiß wo, hatten bereits den Verdacht der Eltern erregt, die erst vor kurzem 60 von einer Mittelmeer- und Italienreise zurückgekehrt waren, bis zum Bersten voll von traumhaften Hotel- und Landschaftseindrücken. Das katastrophal schlechte Zeugnis, das Yvett aus der Schule nach Hause brachte und das für die Versetzung ernstlich befürchten ließ, tat ein übriges. So daß Herr und Frau Winternitz – einer der seltenen Fälle, wo sie einig waren – zu dem Entschluß kamen, Yvett in Zukunft nun aber ganz gehörig auf die Finger zu sehen.

Yvett bangte für den Fortbestand ihrer süßen erregenden Heimlichkeit mit Romeo. Sie lebte längst nur noch in diesen Stunden des Zusammenseins: in der Erwartung und im Nachgenuß. Nichts sonst hatte Bedeutung für sie. Nahm man ihr jetzt die Möglichkeit mit Romeo zusammen zu sein, dann stand sie vor dem Nichts.

Doch die Eltern, das wußte Yvett, würden sie in der nächsten Zeit schwerlich allein vor die Türe lassen.

Was war zu tun? Lotte ins Vertrauen ziehn?

Freilich, wenn die mit im Bund wäre, dann müßte es möglich sein, die Wachsamkeit der Eltern manchmal zu täuschen. Und alles überhaupt wäre nicht dermaßen hoffnungslos.

Aber Romeo mit der Lotte bekanntmachen? Eben das nun herbeiführen, was sie mit ihrer ganzen armen Schlauheit bis heute angstvoll zu verhindern gewußt hatte –? Nein. Lieber wollte sie den vergötterten Jungen nie mehr sehn!

Lieber Gott, gab es denn wirklich keinen anderen Ausweg, keinen? Sie würde doch mit so wenig zufrieden sein. Auch lernen würde sie jetzt, für die 61 Schule. Wirklich. Und überhaupt alles tun, was man von ihr verlangte. Nur Romeo manchmal, ganz selten, noch sehen können. Wenn schon nicht anders, dann wenigstens im Kreise von Eltern und anderen fremden gleichgiltigen Menschen. Ihn gar nicht sprechen, nur von weitem sehen – den lieben Jungen! Wie sollte sie denn auch anders leben können?

Herrgott, wie könnte man's nur geschickt so einrichten, daß die Eltern, ganz von sich aus, Romeo mitunter zum Tee einladen würden. Früher waren doch auch immer junge Leute ins Haus gekommen. Mit Lottes Hilfe wäre gewiß auch das zu erreichen, ohne daß die Eltern Verdacht schöpften . . . Aber – genug davon. Gerade in Lottes gegenwärtiger Verfassung war so was auf keinen Fall zu riskieren. Die Finstere würde nichts anderes als namenloses Unheil stiften.

So blieb denn wahrhaftig nichts mehr als zu verzweifeln –?

In heller Not riß Yvett Blätter aus ihrem Schulheft; sie schrieb Romeo, daß sich etwas Fürchterliches ereignet habe, daß eine Welt von Feinden sie umlauere – die Eltern vor allem. Daß alle es darauf angelegt hätten, den Fortbestand ihrer wunderbar herrlichen Freundschaft im Lebensnerv zu zerstören – genau so schrieb die Ärmste. Sie werde Romeo jetzt nimmer sehen können, schrieb sie, obwohl es bald Frühling sein und bald die armen Veilchen geben werde. Aber ein allerletztes, ein einzig Mal wolle sie ihren lieben lieben Jungen doch noch sehen, bevor . . . Drei Punkte machte sie hin, nichts weiter. Sie werde zu diesem Zweck morgen am Vormittag der Schule fernbleiben, und Romeo möge sie bei der 62 Laterne unterm Viadukt – wie immer, doch morgen zum allerallerletzten Mal erwarten.

Den Brief schrieb Yvett viermal nacheinander ab, weil beim Durchlesen ihr die Schriftzüge immer noch zu ordentlich, zu wenig wirr und verzweifelt vorkamen. Dann tat sie ihn in ein Kuvert mit dem Aufdruck »Winternitz & Co. Rietheim, Telegrammadresse: Bindfadenitz«, das sie auf dem Schreibtisch des Vaters gefunden hatte. Marken lagen in einem Kästchen daneben. Yvett klebte eine große Anzahl auf den adressierten Brief und schrieb noch, dick mit Rotstift unterstrichen und mit vielen Ausrufungszeichen versehen, »mit Eilboten« und »eingeschrieben« an den Rand. Den fertigen Brief zerknitterte sie sorgfältig mit beiden Händen, so daß er schließlich den Eindruck hervorrief, als hätte sie selbst ihn, an der Brust oder im Strumpf verborgen, durch jene Welt von Feinden zur Post geschmuggelt. Dann beauftragte sie das Stubenmädchen, mit dem Brief zur Post zu eilen.

Vor dem Mädchen verbarg sie ihre Verzweiflung in keiner Weise. Im Gegenteil. Sie erteilte der Pauline den Auftrag mit fliegendem Atem, und Augen machte sie dabei, in denen der Wahnsinn flackerte. Ein Mensch mußte es doch sehen, wie nahe sie dem Selbstmord war. Die Pauline machte auch wirklich ein ganz verdutztes Gesicht und verbarg ihren Mund rasch hinter der Hand. Klatschen wird die den Eltern doch hoffentlich nichts von dem Brief –?

Später, im Einschlafen, kostete Yvett in der Erwartung des kommenden Vormittags schließlich ein fremdes tiefes Glücksempfinden aus; so intensiv, wie 63 kaum jemals zuvor. Wie wird Romeo morgen blaß und erregt sein! – Um nichts in der Welt hätte Yvett jetzt von dem Unheil, das ihrem Liebesbund drohte, etwas missen mögen.

Es war doch eigenartig schön, so mitten im Lebensnerv getroffen zu sein.


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