Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

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6

Romeo schrak aus wildbewegten Morgenträumen auf; schrill, aufgeregt hatte an der Wohnungstür soeben die Glocke getönt. Ein Telegramm! – war Romeos erster Gedanke. Er hatte in seinem Leben niemals ein Telegramm erhalten, eben darum aber spürte er jetzt auch deutlich, daß es eine dringende Nachricht war, die ihm galt. Von Yvett! – fuhr's ihm durch den Kopf. Er setzte sich im Bett zurecht, strich sich die Haare aus der Stirn. Da hörte er im Vorzimmer auch schon die schlürfenden Schritte der Mutter – die müden Schritte einer vorzeitig altgewordenen Frau, die ihren Sohn und sich selbst, mühselig genug, von einer Witwenrente erhielt. Romeo hörte, wie draußen die Wohnungstür geöffnet und von einer fremden Stimme sein Name genannt wurde. Noch erwartungsvoller setzte er sich im Bett zurecht.

Die Mutter trat ins Zimmer. In Händen einen Brief, dessen Adresse sie eingehend betrachtete. Ungeduldig schob sich Romeo bis ans Fußende des Bettes vor, ihr entgegen. Er riß ihr den Brief aus der Hand, der mit den vielen Marken und den roten Zetteln ungeheuer wichtig aussah. »Winternitz & Co.«, las er.

»Wieso von Winternitz?« erkundigte sich die 64 Mutter, wie immer sogleich besorgt. »Das ist doch die Bindfadenfabrik, nicht?«

»Aber so laß mich doch erst mal lesen!« schrie Romeo sie erregt an.

»Zuerst mußt du doch hier unterschreiben!« erklärte die Mutter, ebenso aufgeregt wie er, und hielt ihm ein Amtsformular unter die Augen.

Romeo unterschrieb, flüchtig wie ein Senatspräsident. Die Mutter hastete mit dem Zettel davon.

Mit zitternden Fingern erbrach Romeo den Umschlag. Mühsam entzifferte er die ersten Zeilen. Er las sie gleich darauf noch ein zweites Mal und fühlte sein Herz dabei stillstehen.

Von neuem erschien im Türrahmen die Mutter. »Was ist es denn, Romeo?« fragte sie voll Bangigkeit.

»Herrgott, ich hab's doch selbst noch nicht gelesen, laß mich doch endlich in Ruhe!« schrie er. Aber da er die guten, in seinem Gesicht forschenden Augen der alten Frau gewahrte, setzte er rasch hinzu: »Nichts ist es, gar nichts. Von einem Freund, der bei Winternitz angestellt ist. Aber jetzt geh schon, Mutter, und laß mich endlich lesen!«

»Ja, aber weshalb denn mit Eilboten? Und eingeschrieben?« suchte sie mit leicht zitternden Lippen noch zu erfahren. Doch da sie den Zorn in Romeos Zügen bemerkte, verließ sie kopfschüttelnd das Zimmer.

Wie betäubt las Romeo den Brief zuende. Dann sprang er aus dem Bett. Aus der Tasche seines Rocks, der über der Stuhllehne hing, zog er einen Kamm hervor und strich sich das Haar zurück, planlos immer von neuem. Mit einem Mal fielen seine Hände schlapp hinab. Er hielt den Kamm in der Hand, er stand und stand.

65 Er war im Hemd, es fror ihn. Er zog sich den Mantel an, machte den Kragen hoch, setzte sich auf den Bettrand, zog die Beine an die Brust, er las den Brief von neuem. Mehrmals nacheinander las er ihn. Plötzlich spürte er den Kamm in seiner Hand; er schleuderte ihn mit verquältem Gesicht auf den Fußboden.

In seinem Kopf jagten die Gedanken einander.

Yvett! Er würde sie künftig nicht mehr sehen können . . . Sein Leben würde jetzt ohne den Blick ihrer tiefen lieben Augen verlaufen. War das möglich? – Ein Kältegefühl durchdrang ihn bei dem Gedanken.

Im gleichen Augenblick mußte er wieder an das Ereignis von Mittwoch, abend denken: der entblößte Leib des Dienstmädchens aus dem zweiten Stock . . . Und im gleichen Augenblick fand er es eigentlich erstaunlich, daß Yvetts Nachricht ihn dermaßen aufrührte. Beinahe wie eine Todesnachricht . . . Was bedeutete ihm Yvett denn eigentlich? War es wirklich so schlimm, sie zu verlieren? Noch vor ein paar Tagen – ja, da hätte dieser Gedanke ihn niedergeschmettert. Denn da war, bei Tag und bei Nacht, seine einzige Spannung, seine einzige Erwartung Yvett gewesen. Aber das war doch nur knabenhaft. Inzwischen jedoch war er zum Manne geworden, er hatte in der körperlichen die eigentliche Liebe des Mannes kennengelernt. War ihm sein Umgang mit Yvett, diese überspannten Gespräche, die armseligen Liebesbezeigungen, die keinen anderen Ausdruck fanden als leuchtende Blicke und zaghafte Händedrücke – war ihm das alles seit dem Mittwoch nicht kindisch, ja lächerlich vorgekommen? Freilich, er war Yvett seit 66 dem Tag seiner Vermännlichung noch nicht gegenübergetreten – vielleicht würde auch Yvett, und gerade Yvett, jetzt ganz anders und richtig auf ihn wirken: erotisch. Aber hatte er denn in diesen drei vier Tagen auch nur einen Gedanken für sie übrig gehabt? Nein. Bestenfalls hatte ihn eines gelockt: die Aussicht, ihr das nächste Mal bereits als ein gereifter Mann entgegenzutreten und sie das irgendwie auch merken zu lassen. Sagen würde er ihr als ein Mann von Geschmack und Verschwiegenheit natürlich nichts von seinem Abenteuer. Denn damit würde er gleichzeitig verraten, daß er erst vor ein paar Tagen die körperliche Liebe kennengelernt hat. Und er hatte doch stets durchblicken lassen, daß er, hm, so mancherlei erlebt habe, aber bloß nicht davon spreche. Direkt sagen würde er ihr also nichts; aber Yvett würde es, in ihrer Liebe unfehlbar, dennoch sogleich gewahr werden. Und auf die Weise macht so was dann auch einen viel besseren Eindruck, als wenn er wie ein halbwüchsiger Junge mit seinen Erlebnissen vor ihr geradezu protzen würde.

Zum Teufel, aber was dachte er sich denn da für blödsinniges Zeug aus! Das war doch jetzt, nach Yvetts Nachricht, bereits ohne Sinn und Bedeutung. Hatte er denn vergessen, daß er Yvett heute wahrscheinlich zum letzten Mal sehen würde? Und in einem solchen Augenblick fiel ihm wahrhaftig nichts Edleres ein? Wie gemein es eigentlich von ihm war, daß er der armen Kleinen, aus purer Eitelkeit, zuguterletzt noch einen derartigen Höllenschmerz zufügen wollte. Oder meinte er etwa, daß die Geschichte mit dem Dienstmädchen Yvett nicht grenzenlos 67 nahegehen müßte, wenn sie etwas davon erriet? Pfui, er war doch nur ein schlechter frivoler Kerl.

Übrigens –! Wollte er sich am Ende selber was vorgaukeln? Wollte er sich einreden, daß sein Mannesabenteuer ihn etwa übermäßig beglückt oder auch nur außergewöhnlich aufgeregt habe? Ja, freilich –! Angst hatte er ausgestanden. Und als er sich dann schließlich doch ermannte – bloß deshalb, weil das alberne Luder über seine Befangenheit so gellend lachte – da erwies sich das ganze nachher als ein ziemlich belangloser Schwindel, jawohl. Gar nichts Besonderes war dabei. Ein Händedruck – jawohl, ein bloßer Händedruck von Yvett hatte oft einen süßeren Schauer bei ihm ausgelöst, als Brust und Hüften und die ganze fragwürdige Herrlichkeit des nackten Weibsbilds zusammengenommen.

Lachhaft, wirklich lachhaft, wenn man sich dagegen jetzt all die fantastischen, diese unzähligen lockenden und bangen Vorstellungen vergegenwärtigte, die man sich die ganzen langen Knabenjahre hindurch von der Liebe heimlich gemacht hatte.

Allerdings, daß sein erstes richtiggehendes Liebeserlebnis dermaßen schal – jetzt hatte er den Ausdruck – schal ausfallen mußte, daran war aber doch nicht die Liebe an und für sich schuld, oder gar er selbst, daran war bestimmt nur das Mädel schuld. Die gute Emma aus dem zweiten Stock war im ganzen eben nichts anderes als ein bleichsüchtiges, ziemlich reizloses und unreizbares Geschöpf. Wahrscheinlich trieb sie's auch schon sehr lange und empfand wohl gar nichts Besonderes mehr dabei.

Ach was! Das ganze war schließlich keine solche 68 Affäre, und er hatte letzten Endes andere Sorgen. Jedenfalls würde es seinem Herzen mehr Ehre machen, wenn er statt dessen lieber an die Seele der armen Yvett denken wollte –!

Ob ein so schmalhüftiges Wesen wie die Emma wohl überhaupt sein Typ war –? Quatsch. Wenigstens hatte er den Rummel jetzt endlich mal aus der Nähe kennengelernt, und das war schon allerlei. Denn bei künftigen besseren Gelegenheiten würde er nun wenigstens nicht mehr gegen seine blödsinnige knabenhafte Scheu von ehedem anzukämpfen haben.

Herrgott, wie brachte er es fertig, unentwegt nur an sich zu denken – dermaßen niedrige Dinge noch dazu. Und die gute einzige Yvett, seine Yvett, war währenddessen sicherlich der grauenhaftesten Verzweiflung preisgegeben . . . Übrigens: um welche Zeit sollte er doch gleich beim Viadukt auf sie warten?

Romeo wußte genau, daß er um halb zehn Uhr dort zu sein hatte, ebenso genau war ihm bewußt, daß er es wußte. Trotzdem nahm er den Brief zur Hand und vergewisserte sich. Um halb zehn Uhr . . . Und jetzt war es –? Herrgott, gleich neun! Aber da war es doch allerhöchste Zeit, daß er sich anzog!

Romeo sprang auf; er begann sich hastig und geräuschvoll zu waschen. Ebenso hastig fuhr er in die Kleider. Während er sich vor dem Spiegel mit nervösen Fingern die Kravatte band, durchfuhr ihn plötzlich der Gedanke: Was hindert ihn jetzt eigentlich noch daran, Yvett zu seiner Geliebten zu machen?

Diesen Gedanken suchte er so rasch wie möglich zu verscheuchen. Lächerlich, er würde Yvett doch heute zum letzten Mal sehen! – begründete er vor 69 sich selbst. Doch gleichzeitig sagte ihm eine geheime Stimme, daß dies das eigentliche Hindernis nicht sei. Denn er würde Yvett auch dann nicht zu seiner Geliebten machen, falls er weiterhin täglich mit ihr zusammen wäre. Was mochte wohl das wahre Hemmnis sein? War er von seiner idiotischen Scheu vor der eigentlichen Berührung vielleicht immer noch nicht geheilt? Ja und warum hatte er eigentlich bei dem vertrockneten Dienstmädchen früher zugegriffen als bei Yvett, die im Innersten fraglos viel stärker nach sinnlicher Lust verlangte und die ihm gewiß auch keinen ernsthaften Widerstand entgegengesetzt hätte? Entgegensetzen würde . . .

Himmel, aber jetzt hatte er doch wahrhaftig nicht Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen! Viertel vor zehn!

Romeo warf einen letzten Blick in den Spiegel, riß Mantel und Hut von der Wand, stürzte aus dem Zimmer. Er würde es aber doch noch ein- oder zweimal mit der Emma versuchen – ging's ihm dabei flüchtig durch den Kopf. Die erste Zigarette hatte ihm schließlich auch nicht gleich Vergnügen gemacht!

Er hatte kaum die Wohnungstür hinter sich zugeschlagen und die ersten Treppenstufen genommen, als auf der Schwelle die Mutter erschien, die ihn mit leicht zitternden Lippen zurückzurufen suchte. »Wohin denn, Romeo?« fragte sie bange.

»Mitten hinein ins Unglück!« dröhnte er. »Mußt du denn von jeder Kleinigkeit wissen?« rief er noch, ohne stehnzubleiben, und nahm immer drei Stufen auf einmal. Auf dem Treppenabsatz setzte er dann etwas freundlicher hinzu: »In die Gemeindebücherei muß 70 ich, na also.« Und winkte grüßend mit der Hand nach oben.

Unten am Haustor band er sich die Schnürsenkel und verspürte dabei einen gelinden Stich in der Gegend der Blase. Im gleichen Augenblick erinnerte er sich auch, daß er etwas, ohne das es am Morgen bei ihm niemals abging, heute noch nicht getan hatte. Er wollte auch schon umkehren, doch sein besseres Gewissen siegte über den niederen Drang: Nein, er konnte Yvett heute zu allem nicht noch warten lassen. Übrigens würde er das ganz gut einmal auf kurze Zeit hinausschieben können – beruhigte er sich und stürzte aus dem Hause, in der Richtung zum Viadukt.

*

Als es von der fernen Turmuhr drei Viertel schlug, näherte sich Romeo, von seinem Dauerlauf außer Atem, dem Viadukt. Den ganzen Weg hatte ihn ein einziger Gedanke beherrscht: sollte sich Yvett, wie sonst zumeist, auch diesmal verspätet haben, dann könnte er im Dunkel des verlassenen Bahnübergangs doch ganz gut noch rasch . . . – Fast inbrünstig hoffte er, als erster zur Stelle zu sein. Denn mit jedem Schritt, so schien es ihm, wurde der fatale Drang fühlbarer, unerträglicher. Oder spürte er ihn etwa nur deshalb so arg, weil er unentwegt daran dachte? Und später, im Gespräch, würde er ihn vielleicht völlig vergessen –? Ach was, wenn schon! Wenn bloß Yvett noch nicht da wäre. Sonst ließ sie ihn doch auch immer warten.

Romeo war zur Stelle; er stützte sich mit der Hand gegen die Mauer des Viadukts. Tief ausatmend – es 71 schmerzten ihn die Rippen – spähte er angestrengt ins Innere des Tunnels. Es verstrichen jedoch einige Sekunden, bis seine Augen sich so weit an das nur durch eine schmutzig-fahle Laterne durchbrochene Dunkel gewöhnt hatten, daß er mit einer Aufwallung von heißer Genugtuung festzustellen vermochte: Yvett war noch nicht gekommen. Kein Mensch war in dem eisig feuchten Tunnel zu erblicken.

Zur Sicherheit warf Romeo noch einen Blick nach der Stadt zurück. Niemand. Nur ganz in der Ferne kam ein altes Weib mit einem Korb auf dem Rücken. Wo nur Yvett wieder blieb? Daß sie sich aber auch immer verspäten mußte! Na, wenigstens hatte er jetzt massenhaft Zeit gewonnen: für etwas weit Wichtigeres. »Des Menschen Schicksal ruht in seinem Unterleib«, ging es Romeo durch den Kopf. Er lächelte. Und ohne besondere Eile, so, als wollte er das befreiende Bewußtsein, jetzt könne ihm nichts Schlimmes mehr widerfahren, erst noch eine Weile auskosten, trat er lässig in den Schatten eines Eckpfeilers. Aufseufzend schickte er sich an . . . – da, verflucht, Schritte! Von der anderen Seite! Männerschritte? Nein, Frauenschritte, die im Tunnel bloß übermäßig hallten.

Hastig brachte Romeo mit steifen nervösen Fingern seinen Anzug in Ordnung. Mit wutverzerrtem Gesicht trat er, unverrichteter Dinge, in die Mitte des Wegs zurück. Von neuem suchte er mit den Augen die Finsternis zu durchdringen.

Jemand näherte sich zaghaft. Eine schlanke Frauengestalt.

»Romeo, bist du es?« fragte es bange aus dem Halbdunkel.

72 »Ja, Yvett!«

Romeo stürzte zu ihr hin, streckte ihr die Hand entgegen.

Yvett ergriff seine Hand nicht. Ihr Kopf lehnte – zum ersten Mal – an seiner Schulter. »Romeo«, hauchte sie, »ich hab mich so furchtbar gefürchtet.«

»Kleines!« murmelte Romeo beruhigend und dachte, daß er sie nun eigentlich in die Arme schließen müßte.

Ihr Kopf grub sich Schutz suchend in seine Brust.

»Yvett, was . . . was ist denn also eigentlich geschehn, Yvett?« stotterte Romeo. Und er wehrte sich gegen den Gedanken, daß er doch wenigstens ihren Kopf streicheln müßte.

Yvett antwortete nicht. Wie in einem übermäßig verhaltenen Leid, rieb sie bloß ihre Schläfe an seinem Mantel.

Auch Romeo verstummte in dumpfer Ergriffenheit. In einer unfreien Bewegung strich er mit der Hand über ihren glatten Hut hinweg, der sich, von dem Köpfchen darunter, wundersam erwärmt anfühlte.

Mit einer Gebärde verzweifelter Leidenschaft riß sich Yvett den Hut vom Kopf. Sie schüttelte ihre schweren Haare durcheinander, bis sie gelockert zurückfielen. Dabei fuhr sie mit der Stirn heftig gegen Romeos Kinn. »Oh«, flüsterte sie erschrocken, »ich hab dir wehgetan!«

»Ach, keine Ahnung«, beeilte sich Romeo zu versichern. Wehe lächelnd fuhr er mit der Hand ans Kinn.

»Ja, Romeo, ich hab dir wehgetan!« rief Yvett 73 schmerzerfüllt aus. Ganz leise berührten ihre Finger sein Kinn. »Mein armer – lieber Junge . . .!«

Der Schauer einer lockenden Erinnerung rieselte Romeo den Rücken hinab. Erst zögernd, dann mit festerem Druck setzte er seine Hand auf ihrem Rücken auf, den zweiten Arm hielt er unentschlossen in der Luft.

Yvett hielt hörbar den Atem an. Das erregte ihn fremdartig. »Yvett!« stieß er unterdrückt hervor und knirschte mit den Zähnen.

Yvett war ganz starre Erwartung.

Jetzt schlang Romeo den Arm heftig um sie. Seine Fingerspitzen berührten ihre Brust. Eng preßte er Yvett an sich.

Yvett seufzte matt, wie todeswund auf. Ihr Kopf fiel in den Nacken zurück, zwischen ihren halbgeschlossenen Lidern brach ein feuchtschimmernder Strahl hervor, ihre Lippen öffneten sich ein wenig.

Romeos Mund fiel über ihre feuchtwarmen Lippen her, daß seine Zähne gegen die ihren schlugen. Er erschrak darüber. Und wie seine Hand an ihrer Brust jetzt zugriff, bog sich ihr Leib nach hinten. Seltsam. Ein Wonnegefühl, wie er's noch niemals verspürt und bei Yvett auch am wenigsten zu finden gehofft hatte, durchschauerte ihn. Yvett wand sich. Seinen Mund zwischen ihre Lippen gepreßt, knöpfte er mit der freien Hand wie im Fieber erst ihren, dann seinen Mantel auf – er spürte die Wärme, die Unruhe ihres Körpers, seine Hand ballte sich zur Faust, die Faust preßte sich – es mußte Yvett wehe tun – in ihr Rückgrat hinein, die Faust öffnete sich wieder, die Finger strichen über Seide hinab, fieberhaft streichelten sie, was sich ihnen, verlangend und zurückschauernd 74 zugleich, darbot . . . Yvett windet sich wie toll. Maßlos aufgeregt, ohne Besinnung, preßt Romeo sie noch enger unter sich, noch weiter biegt er sie zurück – ein Lustgefühl, ungeheuerlich wie im Traum, durchpulst ihn, mit einem dumpfen Todeslaut wirft er den Kopf zurück, und in letzten unsinnigen Lebensschauern verströmt seine Lust . . .

Keuchend riß er sie empor. Ein süßlich schales Gefühl im Hals, löste er sich von ihr.

»Nein!« stöhnt Yvett fiebernd heraus und sucht ihn gierig festzuhalten. »Noch nicht!«

Im gleichen Augenblick spürte Romeo einen neuen heftigen Stich in der Blasengegend. Entsetzt stieß er Yvett von sich und taumelte zurück.

Gequält aufschluchzend richtete sich Yvett in die Höhe. Es schwindelte ihr, sie suchte mit den Armen Halt im Leeren.

»Nur hier heraus!« stöhnte Romeo. »Hier erstickt man!« Und ohne sich auch nur mit einem Blick zu vergewissern, ob Yvett ihm eigentlich nachfolge, stürzte er aus dem Tunnel hinaus, ins Freie. Wie ein gehetztes Tier blickte er sich nach einer Gelegenheit um. Verflucht, aber da trat auch schon Yvett, ein wenig schwankend und mit zärtlichem Vorwurf in den Augen, aus dem Viadukt hervor und stürzte, da sie Romeo erblickte, sogleich zu ihm hin. »Romeo!« Den Hut hielt sie zerquetscht immer noch in der Hand.

»Was denn, mein Engel?« stotterte Romeo, wie bei einem mörderischen Vorhaben ertappt. Und er bemühte sich, verträumt zu lächeln.

Yvett dehnte die Arme. Ihre Brust weitete sich in einem langen tiefen Atemzug. Von ganz nahe her 75 strahlte es aus ihren übermäßig geöffneten Augen in sein Gesicht. »Jetzt bin ich deine Frau, Romeo«, sagte sie, schlicht.

»Ja«, beeilte er sich freudig zu bestätigen. Gleichzeitig verspürte er einen neuen fürchterlichen Stich. »Ja!« schrie er ohne faßbare Ursache noch einmal heraus, und in ratloser Qual trat er von einem Fuß auf den andern.

Befremdet, leicht beunruhigt blickte Yvett ihm jetzt forschend ins Gesicht. Romeo färbte sich rot unter ihrem Blick.

»Fehlt dir etwas, Romeo? Ist dir kalt?«

»Kalt? Aber woher denn!«

»Du bist so blaß . . . das heißt, im Gegenteil: so rot bist du im Gesicht!« In ihre Stimme kam plötzlich ein schmachtender Ton. »Bist du krank, mein Kindchen? Sag!«

Da, als Romeo gerade fühlte, er würde die nächste Minute niemals überstehen können, zeigte sich ihm blitzartig ein Ausweg. »Krank? Nein«, stieß er hastig heraus. »Aber, weißt du, für mich war das vorhin ein übermächtiges – wie soll ich sagen – ein nahezu mystisches Erlebnis. Ich meine . . . Nicht daß du glaubst, ich hätte so was zum ersten Mal mitgemacht, nein. Aber . . .« Er schloß in angespannter Qual die Augen; mühsam sprach er weiter, doch mit seiner letzten Energie suchte er seiner Stimme einen Klang von Ergriffenheit zu geben. »Weißt du, was schön wäre, Yvettchen?«

»Was?«

»Wenn wir jetzt schweigend voneinander gingen, jeder in anderer Richtung – jetzt gleich, ja – damit 76 wir den wunderbaren Eindruck unabgeschwächt mit uns nehmen. Willst du?«

Yvett seufzte verhalten auf. »Ja, Romeo«, sagte sie, hingegeben, und legte die Arme um seinen Hals.

Romeo trat sich mit dem Absatz auf die Zehen; für den Bruchteil einer Sekunde hatte er Lust verspürt, Yvett mit der Faust auf die Nase zu schlagen. Apathisch neigte er sich über ihren verlangenden Mund, berührte ihre Lippen und schob sie mit verquältem Gesicht hastig von sich. Sein Atem ging rasch, doch in dem unklaren Wunsch, daß sie das alles nur als Anzeichen seiner seelischen Erschütterung deuten möge, suchte er seinen Zügen einen Ausdruck von mühsam niedergehaltener Leidenschaft zu geben. So etwa, als könne er nur mit dem Aufgebot seiner ganzen Beherrschungskraft der Lockung widerstehen, sich neuerdings über Yvett zu werfen. Erregt stieß er hervor: »Nein! Nicht mehr! Laß uns ohne alles auseinandergehn!« Doch im gleichen Augenblick riß sein stechender Schmerz ihn von neuem zusammen; leise aufstöhnend preßte er beide Fäuste gegen den Magen und bückte sich.

»Romeo! Was ist dir, um Gotteswillen?« rief Yvett aus, jetzt ernstlich erschrocken und ratlos.

»Ich . . . ich weiß selbst nicht . . .«, flüsterte Romeo. Langsam richtete er sich aus seiner gebeugten Stellung auf. In diesem Augenblick war der schmerzhafte Druck wieder völlig geschwunden. »Nichts ist mir«, knurrte er. »Was soll denn schon sein! Vielleicht Blinddarmreizung . . .«

»Romeo!« schrie Yvett unterdrückt auf. »Da mußt du doch sofort . . .«

77 »Zum Arzt, was?« höhnte Romeo, wütend. Er sah durch die unvorhergesehene Gesprächswendung die Möglichkeit, auf schickliche Weise von hier fort zu kommen, abermals in die Ferne gerückt. »Mein Blinddarm, der ja!« höhnte er, feindselig. »Aber mein Seelenzustand – für den bringst du kein Verständnis auf, wie?«

Yvett starrte ihn ungläubig an. »Aber ja, Romeo, ich verstehe dich schon. So ungefähr wenigstens«, stammelte sie.

»Ungefähr« . . . Hatte sie das nicht mit spöttischer Betonung gesagt? Erriet sie am Ende schon –? Romeos Stirn lief dunkel an. »Ja ja, gewiß!« schrie er gereizt. »Der Mann empfindet bei so was eben viel tiefer als die Frau. Leider!«

»Gott, also was hast du nur, Romeo«, schluckte Yvett, und in ihre Augen traten anklagende Tränen. »Du bist so . . . so sonderbar bist du zu mir, Romeo! Auf einmal!« Sie ergriff seine Hand, hielt sie fest in der ihren. »Sag, mein Liebling, mein Kindchen, hast du deine Yvett eigentlich noch ein bißchen, ein ganz kleines bißchen . . .«

»Nichts mehr!« keuchte Romeo. Er riß sich los, lief drei Schritte von ihr weg, blieb stehen und wandte ihr das Gesicht zu: das Gesicht eines Gekreuzigten. Auf seiner verquälten Stirn perlte der Schweiß. Nur nicht hier! – betete er unhörbar. Nicht hier, vor ihren Augen, die Katastrophe! – – Seine Stimme klang schrill unangenehm überstürzt. »Hast du, zum Teufel, denn gar kein Empfinden dafür, daß wir durch jedes weitere Wort unser gemeinsames Erlebnis entheiligen, trivialisieren?! Aber was! Mach du, was du willst. Ich meine . . . denke darüber wie du willst, 78 lach mich aus, meinetwegen, aber ich . . . ich verschwinde jetzt, basta. Adieu.'« Brüsk drehte er sich auf dem Absatz herum und stürzte ohne alle Beherrschung dem Viadukt zu.

»Romeo!« rief Yvett ihm ratlos nach. »Aber wir müssen doch wenigstens besprechen, wann wir uns . . .«

»Schreib mir!« schrie Romeo zurück, ohne im Laufen innezuhalten. Er litt Höllenqualen bei jedem Schritt, und er hatte nur noch den einen Gedanken, das Innere des Tunnels zu erreichen, bevor . . . Trotzdem zwang ihn etwas, was stärker war als er selbst, den Kopf nochmals nach Yvett zurückzuwenden. Sie stand reglos, mit weit aufgerissenen Augen immer noch auf dem gleichen Fleck. »Vertrau mir, mein Engel!« rief er ihr durch das Schallrohr seiner Hände zu. Seine Zähne schlugen wie im Schüttelfrost gegeneinander; ohne Yvetts Antwort abzuwarten, lief er weiter. Unklar hatte er noch den einen tröstlichen Gedanken, er werde sie, wenn alles erst glücklich vorüber ist, unter irgend einem Vorwand wieder einholen und den peinlichen Eindruck seines Benehmens dann schon irgendwie verwischen.

Sein Atem fliegt, als er jetzt in das Dunkel des Viadukts hineinstolpert. Zitternd am ganzen Leib, nestelt er, reißt er mit den frosterstarrten behandschuhten Händen an seinen Knöpfen – doch jetzt, in diesem heiß ersehnten Augenblick, erlahmt auch plötzlich all seine übermenschlich aufgebotene Widerstandskraft, er kann einfach nicht länger: nicht eine Sekunde – und erlöst und verzweifelt zugleich, läßt er seinem Drang einfach die Freiheit; ganz wie er eben ist, ohne die nötigen Vorbereitungen beendet zu 79 haben. Und in dem dumpfen Gefühl einer maßlosen Erleichterung verläßt ihn für Sekunden alles klare Bewußtsein . . .

Als er es wieder erlangte, begann ihn zu frieren. Und jetzt überkam ihn auch eine heiße wütende Scham. Er stöhnte dumpf auf, er war den Tränen nahe. Nun konnte er Yvett natürlich nicht mehr einholen und ihr verschiedenes ausreden. Was mußte die sich von ihm nur denken!

Ach was. Gleichgiltig. Alles aus. Nur nach Hause. So rasch wie möglich nach Hause. Ohne gesehen zu werden. Ausziehen, sich waschen – und dann ins Bett. Schlafen. – –


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