Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

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13

Romeo befand sich in diesen Tagen in einem ihm selbst unerklärlichen Zustand von Müdigkeit, gegen den er durch unruhige Geschäftigkeit anzukämpfen suchte; doch ohne rechten Erfolg. Es war bestimmt 220 nicht bloß das Fluidum des Frühjahrs, das wie auf ein Zauberwort nun plötzlich durch die Luft ging und das Romeo auch in seinem Blut spürte. Nicht ungern stellte er sich vor, daß vielmehr das kränkliche, beunruhigend verschlechterte Aussehen der Mutter die Ursache seiner unfaßbar herabgeminderten Lebenslaune sei. Ihr Gesicht war wie Wachs, und in den letzten Tagen aß sie fast nichts. Aber hatte sie ihm nicht versichert, daß der Arzt, bei dem sie auf Romeos Drohungen hin gestern war, nichts Beunruhigendes gefunden habe –? Jedenfalls konnte er sich nicht darüber täuschen, daß dieser Zustand der Mutter ihm näherging, als er ihm jemals zuvor hätte nahegehn können. Sie beschäftigte ihn jetzt, die Mutter, sie war ihm wichtig geworden, wichtiger – und auch das überraschte ihn – als Yvett.

Von Yvett hatte er zu Beginn der Woche einen Brief erhalten mit der kurzen Mitteilung, das eingetretene warme Wetter setze dem Skilaufen in den Bergen und damit auch ihren Sonntagsausflügen ein Ende. Der Vater habe bereits eine solche Bemerkung gemacht und energisch betont, sie müsse bis zum Semesterschluß nun jede Minute zum Lernen benützen, sonst falle sie mit Pauken und Trompeten durch und die Blamage sei fertig. Sie wisse sich keinen Rat. Aber Romeo solle sie mittags in der Nähe der Schule erwarten und ihr sagen, wie er sich die Zukunft denke.

Nun wartete Romeo wieder Tag für Tag bei der Schule. Er tat es gewissenhaft, doch ohne besondre Spannung und fast gewohnheitsmäßig. Daß Lotte, die ja gleichzeitig aus dem Gebäude kam, stets dabei war, 221 gehörte für ihn mit zu dieser Gewohnheit. Yvett freilich schien sich daran zu stoßen. Wohl deshalb hatte sie ihm auch bedeutet, er möge nicht genau vor dem Schulgebäude warten, sondern etwas weiter abseits, in einer Seitenstraße, wohin Lotte nicht käme. Ihm jedoch war es ganz selbstverständlich, auf beide, »auf die Mädchen«, wie er's verallgemeinernd bezeichnete, zu warten, und Yvett gegenüber äußerte er, Lotte könne schließlich nicht stören; vor ihr könne man doch ungeniert über alles sprechen, auch dürfe man sie nicht brüskieren – jetzt, da man ihre Hilfe nötiger habe denn je. Und dann sei es auch, meinte er, klüger, wenn sich Yvett jetzt nicht allein mit ihm zeige.

So wußte er für diese Bedenken Yvetts Rat. Keinen Rat aber wußte er, soviel man auch auf diesen Wegen von der Schule darüber sprach, wodurch jetzt die Skiausflüge zu ersetzen wären. Vielmehr sprach immer bloß er davon, während die Mädchen aufhorchend schwiegen.

Um etwas zu sagen, was auf die Mädchen erhöhten Eindruck machen mußte, warf er im Verlauf eines solchen Gesprächs einmal hin, ob Yvett nicht zu ihm in die Wohnung kommen wolle. Und er hielt auch Begründungen bereit, die ihre Einwände entkräften sollten. Von ihren, Yvetts, Bekannten wisse doch schließlich niemand, daß er in dem Haus wohne, und daß sie gerade zu ihm gehe – sie könne in dem Hause doch zu tun haben, bei der Näherin oder so – und von seinen Hausleuten wisse wiederum ganz bestimmt niemand, wer sie sei.

Mit diesem Vorschlag war es ihm trotz den 222 empfehlenden Begründungen keineswegs ernst. Aber er freute sich in der Erwägung, daß der Gedanke, was er und Yvett in dem Zimmer dann tun würden, Lotte beschäftigen und vielleicht sogar ärgern könnte. Freilich konnte er Lotte derlei nicht anmerken: sie ging schweigend, wie immer, mit ihnen.

Auf dem Weg von der Schule gelangte als erste Yvett zu ihrem Haus. Und in den allerletzten Tagen hatte sie sogar die Gewohnheit angenommen, sich gleich zu Beginn der Hauptstraße von ihm und Lotte zu verabschieden. Die Arme, sie zeigte jetzt überhaupt ein merkwürdig verändertes bedrücktes Wesen . . . Da Lotte aber weiter abseits in einer Seitenstraße wohnte, hatte er Gelegenheit, mit Lotte dann noch eine Weile allein zu sprechen.

Er vermochte den Ausdruck schweigsamen Lauschens nicht recht zu deuten, den ihr Gesicht annahm, sobald er dann in bewegten Worten allsogleich und unentwegt von dem unbeschreiblichen inneren Reichtum des Meisters zu sprechen begann, des Meisters, den durch die Vernichtung seines Lebenswerks wohl das tragischste Los getroffen habe, das die Leidensgeschichte eines Schaffenden überhaupt aufweist. Ein innerer Reichtum und eine innere Größe seien es, von denen Lotte sich nur einen schwachen Begriff machen könne. Er als der Duzfreund des Meisters habe – wohl als einziger Sterblicher überhaupt – einen Blick in Franz Marias Seele tun dürfen, in einer Stunde von letzter Offenheit und Vertrautheit. Weiter dürfe er freilich nichts verraten, denn ein gegebenes Wort verpflichtete ihn zu lebenslänglichem Schweigen. Eines wolle er ihr aber dennoch sagen: sie sei 223 sich wohl klar darüber, welch erhabenes beneidenswertes Frauenschicksal ihr da unter Umständen zuteil werde. Jawohl, sie – sie und keine andere! – müsse den Meister erlösen. Es unversucht zu lassen, wäre Frevel gegen sich selbst, Frevel auch gegen die Nachwelt. Und die Nachwelt sei streng in ihren Richtsprüchen, das wisse sie. Sie möge nur an Ulrike von Levetzow denken: wie die Nachwelt beispielsweise mit der umspringe.

Wie glücklich hätte es Yvett machen müssen, würde sie gewußt haben, daß Romeo davon und von nichts anderem sprach, so oft er mit Lotte allein war. Lotte ihrerseits verriet ihre Gedanken mit keiner Silbe; sie ging verschlossen ihren Weg, als wären sie zu dritt.

Die gleiche erregte Beredsamkeit verwendete Romeo aber auch dazu, Franz Maria, den er in den Abendstunden täglich besuchte, zu überzeugen, er müsse Lotte wiedersehen. Sie glühe doch im Innersten vor Erwartung.

Der Meister – er war seit dem Tag, an welchem sein Lebenswerk ein Raub der Flammen geworden, stets dunkel und feierlich gekleidet, sonst aber in seinem kindlich gefügigen Künstlergemüt heiter und guter Dinge – der Meister schenkte Romeo wohl bereitwillig Gehör, unternahm im übrigen jedoch nichts, um mit Lotte irgendwo wieder zusammenzutreffen. Wohl aber gefiel er sich darin, mit bloßen Worten, doch lebhaft schwelgend, über alle Teile von Lottes Körper dahinzugleiten. Der schwer geprüfte Meister zeigte sich damit als echter Künstler von olympischer Heiterkeit und bewies sich als Bildhauer 224 dadurch, daß er in allen Partien eines weiblichen Körpers, seinem Arbeitsfeld, schmunzelnd sozusagen zuhause war. Das war aber auch alles.

Bis Lotte dann plötzlich ihr Schweigen brach. Zornrot im Gesicht, machte sie durch eine jähe unbeherrschte Handbewegung Romeos verstiegenen Reden von dem inneren Reichtum des Meisters ein Ende. »Ja warum sagen Sie das alles denn unentwegt mir?« herrschte sie den Erschreckten an. »Sagen Sie's ihm! Er soll kommen! Er soll mich umarmen und küssen! Anders kann man's, zum Kuckuck, doch offenbar nicht machen?«

Da hatte Romeo, verblüfft und betreten, zunächst geschwiegen. –

Doch an ihrer Energie entzündete sich die seine. Und am nächsten Tag, vor dem Schulgebäude, wußte er Rat. Er habe, zwölf Minuten vom Bahnviadukt, einen kleinen Gasthof ausgekundschaftet, wo man vollkommen sicher sei – verkündete er den Mädchen in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Dort müßten sie alle zusammenkommen. Sie müßten! Die Mädchen, indem sie am nächsten Tag die Geometriestunde schwänzen, die Stunde vor Schulschluß; und für Franz Marias Anwesenheit möge man ihn sorgen lassen!

*

Kaum hatten sich die Mädchen, Franz Maria und Romeo in der menschenleeren ungelüfteten Wirtsstube niedergelassen und bei dem uralten Wirtsweiblein eine Bestellung gemacht, als Romeo, nervöse Röte auf den Wangen, auch schon den Kriegsplan, 225 den er sich ausgedacht, spielen zu lassen begann. Das Eis muß gebrochen werden! Und in einem Pfänderspiel war es bald so weit, daß der Bildhauer die hinter dem Ofenschirm verborgene Lotte zu küssen hatte. So verfügte es Romeo, der die Auslösung der Pfänder leitete.

Franz Maria protestierte, übertrieben lachend. Lotte aber erhob sich. Zögernd, mit abgewandtem Gesicht, trat sie hinter den Ofenschirm.

Der Meister protestierte immer noch, krebsrot im Gesicht vor Lachen. Da stieß ihn Romeo, jedem Sträuben ein Ende machend, fast roh hinter den Schirm.

Yvetts Blick forschte ratlos in Romeos unnatürlich angespanntem Gesicht.

Nach Sekunden einer lähmenden Stille ließ sich hinter dem Schirm ein enttäuschtes, fast feindliches Auflachen Lottes vernehmen. Im gleichen Augenblick kam Franz Maria angstvoll erregt hinter dem Schirm hervor. Sichtlich waren ihm die möglichen Konsequenzen so verfänglichen Tuns zu Kopf gestiegen. »Was fällt Ihnen ein«, fuhr er Romeo unterdrückt an, »ich werde mich und meinen Ruf doch nicht einem jungen Mädchen ausliefern!« Und da Romeo zu erwidern versuchte, schnitt er ihm mit unverhehlter Hoheit – unter der Wucht der Ereignisse vergaß er das vereinbarte »du« – das Wort ab. »Sie haben nichts zu verlieren! Ich ja!«

Blaß trat nun auch Lotte hinter dem Schirm hervor; sie sah keinem ins Gesicht. Unwillig riß sie Mantel und Hut vom Haken, murmelte etwas von Geometriestunde, rief, als wäre nichts geschehen, »Auf Wiedersehn« und stürzte aus der Stube.

226 »Ich gehe auch! Albernheiten!« knurrte Franz Maria unwillig. Ohne zu grüßen, verließ er den Raum durch die Küchentür.

Romeo sah sich mit Yvett allein: zwei Zuschauer vor verödeter Bühne. Und da standen auch auf dem Tisch die vier unberührten Gläser . . . Noch immer spürte Romeo Yvetts Blick auf sich gerichtet: lähmend und peinlich. Er hätte gern die quälende Stille mit einem drastischen Wort der Verhöhnung der vorgefallenen Kläglichkeiten durchbrochen. Aber ihr Blick . . . Was war es nur mit diesem Blick? Er enthielt nichts von Einverständnis, verbot fast, ein solches zu suchen, schaute nicht mit Romeo, sondern auf Romeo, hob ihn, den vermeintlich unbeteiligten Zuschauer, auf die Bühne . . . Und plötzlich verstand er Yvetts Blick. Dort, wo eben noch Franz Maria Lotters Platz war, stand er selbst: verlogen, feige wie der Meister, mehr als er. Und Romeos Verachtung des Vorgefallenen wurde mit einem Schlag verzweifelte Selbstverachtung. Denn ihn selbst, das erkannte er nun, zog es zu Lotte – schon lange – und alle seine Manöver waren nichts als klägliche Versuche gewesen, sich und die andern zu täuschen. Verstecktere Versuche freilich, aber gerade darum um so erbärmlichere.

Er hatte unwillkürlich von Yvett weggesehen. Als sein Blick jetzt wieder zu ihr hinschleicht, sieht er sie vornübergebeugt, die Hände im Schoß verkrampft, hilflos wie immer.

»Wir müssen aufbrechen«, murmelt sie, ohne ihn anzusehn.

»Ja ich habe . . . ich hab, glaube ich, nicht 227 genügend Geld bei mir!« stammelt Romeo. »Die beiden sind fortgerannt ohne zu zahlen!«

Yvett greift nach dem Täschchen, das neben ihr auf der Bank liegt, öffnet es, schüttet es über dem Tisch aus. Ein Kamm, ein zerbrochener Spiegel, eine Postkarte und einige Münzen fallen heraus. »Vielleicht genügt es«, murmelt sie.

Romeo zählt die Münzen mit dem Blick. »Es genügt«, flüstert er, »mit dem meinen zusammen.« Langsam, unentschlossen nähert er sich ihr. In seinen Augen ist Ratlosigkeit. Ohne Yvett anzublicken, läßt er sich neben sie auf die Bank nieder. Sein Kopf fällt auf ihre Schulter, in ihren Schoß. Ein dumpfes unterdrücktes Schluchzen dringt aus seiner Kehle. Yvett umschließt mit den Händen seine Wangen, ihre Lippen berühren sein Haar. »Mein Junge . . .«, weint sie.

Romeos Rücken erzittert in einem stoßweisen lautlosen Schluchzen.

»Mein armer Junge . . .«, weint sie; haltlos.


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