Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15

Romeo liegt im Zustand seltsamer Starre – der Kopf schmerzt ihn, er glaubt wahnsinnig zu werden – auf dem harten halbzerfallenen Ledersofa seines Zimmers. Das Hoffenster ist geschlossen, der alte 260 Vorhang ängstlich darüber zusammengezogen. Aber durch einen unbedeckten Spalt blaut ein winziger Ausschnitt des lauen leuchtenden Frühlingabends ins Zimmer.

Unten im ersten Stock wird das Klavier gestimmt. In den Dissonanzen, die gedämpft heraufdringen, schwingt alles Elend des Tages. Erklingt dann eine Oktav endlich rein, so wirkt alles nur noch hoffnungsärmer, noch vergeblicher sinnberaubter verzweifelter als vorher. Immer wieder schlägt unten der Klavierstimmer einen Akkord an, lauscht ihm einen Augenblick nach, dann fängt es von neuem an.

Die Erinnerungen an das zuletzt Erlebte füllen das dumpfe dunkle Zimmer. Heute ist es genau drei Wochen her, daß die Mutter begraben und Yvett in ein Sanatorium der Hauptstadt geschafft wurde. Mit schweren inneren Verletzungen, beide Beine gebrochen. Yvett wird auf Jahre hinaus nicht mehr gehn können. Sie wird – die eigentlichen Jahre ihres Lebens – an einen Rollstuhl gefesselt sein. Fürchterlich, es zu Ende zu denken. Yvett, mit ihren großen, jetzt vielleicht noch größer gewordenen verträumten Augen, in denen das Meer ist, bewegungslos in einem Rollstuhl . . . Vielleicht wird sie nach einigen Jahren komplizierter Behandlung wieder gehn können – diese Hoffnung lassen die Ärzte bestehen. Aber selbst dann wird sie, und das sei absolute Gewißheit, zeitlebens stark hinken.

Wie ist es bloß möglich, geht es Romeo durch den Kopf, daß Yvetts Schicksal – es ist doch bei weitem grauenhafter! – ihm trotzdem weniger nahe geht als das der Mutter? Dieser durch ein Krebsgeschwür 261 verursachte Tod, dem kein Leben voranging, nichts als ein paar alltägliche Lebensäußerungen – ein Tod, der einen ihm kaum bekannten Menschen traf . . . Und er erinnert sich, wie sehr es ihn damals schmerzte, als es ihm zum ersten Mal zum Bewußtsein kam, daß ihm die Mutter nur ein unvertrauter Irgendjemand war. Er erinnert sich genau an damals. Aber es ist eine bloße Erinnerung; eigentlich wie andere Erinnerungen auch. Und doch müßte ihn – spinnt er den Gedanken weiter – heute das alles weit schmerzlicher berühren als damals. Voll Qual ruft er sich, wie so oft schon, einen entsetzlichen Gedanken ins Gedächtnis zurück: Vielleicht ist die Mutter gerade in jenen Minuten – allein – gestorben, als er über dem Leib Yvetts nichts als dumpfe sinnlose Lust gespürt hatte . . .

Diese Ungewißheit ist das Fürchterlichste von allem. Und ist es nicht eben dieses Gefühl gemeinsamer Schuldverdammnis, was ihn, auch jetzt noch, daran hindert, Yvett jenes allerletzte Mitgefühl entgegenzubringen, das ihre Liebe, ihr Unheil, bei ihm auslösen müßte?

Romeo lauscht in sich hinein. »Selbstquälereien im dumpfen Zimmer!« will ein Gedanke der Unmut sich in ihm Bahn brechen. Er erschrickt über diese Teilnahmslosigkeit. Und jetzt wird ihm – er wehrt sich dagegen – mit einem Mal klar, daß auch der Tod der Mutter – er hatte es sich bisher nur nicht einzugestehen gewagt! – genau wie das Schicksal Yvetts nur eben noch schmerzliche Erinnerungen sind, kein Schmerz, dem man nicht entlaufen könnte, sondern Erinnerungen, die kommen, häufiger oder seltener, die aber wieder gehen.

262 Romeo rührt sich nicht, er läßt seinen Gedanken, zum ersten Mal, ihren Lauf.

Sollte er nicht aufstehn, die Tür aufmachen, die Treppe hinuntergehen . . .! –

Und nun erinnert er sich auch an den Tag, als ihm auf dem Gericht verlesen wurde, zur Hinterlassenschaft gehöre neben der Wohnungseinrichtung ein Sparkassenbuch, von dessen Existenz er bis dahin nichts gewußt hatte. Damals hatte er sich der Infamie geschämt, daß ihm gleich im Augenblick der Verlesung eingefallen war, der Betrag sei ja groß genug, um ein Jahr oder noch länger irgendwo fern von Rietheim zu leben. Schon damals war er also, ohne daß er's gemerkt hätte, so gewesen wie er heute war. Und hatte er nicht schon damals die Tür geöffnet – die Tür in die Freiheit, in die Zukunft? Was war es anders, wenn er, weiterblickend als er blicken konnte, der Behörde sogleich klar gemacht hatte, es sei, da kein ausdrücklicher Wunsch der Mutter vorliege, überflüssig, ihm für das knappe Jahr bis zu seiner Großjährigkeit noch einen Vormund zu bestellen; er sei kein Knabe mehr, sondern akademischer Bürger, und er werde sich des Vertrauens der Behörde gewiß niemals unwürdig erweisen. Man möge ihn, der gegebenen außerordentlichen Umstände gemäß, daher jetzt schon für großjährig erklären. – Für infame spekulative Gerissenheit hatte er es damals gehalten, und er hatte sich auch der stolzen Befriedigung geschämt, die ihn erfüllte, als der Postbote ihm vor wenigen Tagen die Großjährigkeitserklärung der Gerichtsbehörde zustellte. Sein noch am gleichen Tag aufgegebenes Zeitungsinserat wegen Verkaufes der 263 Wohnungseinrichtung . . . Seine langwierigen, bis heute ergebnislosen Verhandlungen über den Preis mit den wenigen Interessenten . . . Und schließlich jene gemessene Haltung eines würdevollen Haushaltungsvorstands, in der er dem Untermieter, seinem ehemaligen Gymnasiallehrer, zum Fünfzehnten gekündigt hatte . . .

Wegen alles dessen hatte er sich verachtet und sich mit Selbstvorwürfen gequält. Wie sinnlos! Nichts von dem allen war infam. Alles war vielmehr ein natürlicher gesunder Instinkt der Rettung. Flucht aus Rietheim. Aus diesem vergifteten und vergiftenden Leben ringsum . . . – In diesen übermächtigen Wunsch münden längst alle seine irrenden Gedanken. Er will sich von allem hier loslösen, vom Schatten der Mutter, von dem Gespenst Yvetts und dem uneingelösten Wechsel »Lotte«. Und er will ein neues Leben beginnen in einer fremden fernen Stadt, ein Leben ohne Bindungen . . .

Romeo legt den Arm über die Augen. Wie töricht, wie sinnlos! – denkt er. Ein Leben ohne Bindungen! Als ob er es länger als Tage, Wochen hindurch ertrüge, ohne einen Menschen zu sein, dessen Geschick dann nahezu sein eigenes ist. Wie drängt alles in ihm jetzt schon wieder zu neuen Menschen hin, nach diesen endlosen drei Wochen, die er seit jenem einen vernichtenden Entsetzenstag grenzenlos verlassen in diesem Elendszimmer zugebracht hat . . . Romeo richtet sich halb von seinem Lager empor; seine Augen haben einen fiebrig matten Glanz. »Ja«, denkt er, »ich werde neue Bindungen eingehen, aber andere, bessere als bisher!« Und hatte er sich nicht in einem verborgenen übermächtigen Drang, gegen den er vergeblich 264 anzukämpfen suchte, schon in den Tagen Yvetts nach einer anderen fernen ungewissen Frau gesehnt –?

»Fort von allem hier! Um jeden Preis!«

Erregt schließt Romeo die Finger um die Rückenlehne des Sofas; er zieht sich halb in die Höhe, preßt die heiße Stirn gegen den Arm. Gibt es aber anderswo wirklich und wahrhaftig ein besseres lichteres erfüllteres Leben? – denkt er in größter Anspannung. Oder schlummert Rietheim, jeweils nach Größe und Lage, Volk und Rasse in seiner Gestalt verändert, unter der Oberfläche auch jedes anderen Ortes? Ist Rietheim nicht am Ende die Welt, das Leben hier das Leben schlechthin? Gibt es überhaupt einen Ausweg, Rettung aus dieser Lebensverdammnis?! Und wo ist der Weg? Flucht? Wohin?! Nimmt man denn das Rietheim in der eigenen Brust, das weitaus verhängnisvollere, nicht mit sich, wohin man auch immer geht? Was tun –?!

Aufseufzend sinkt Romeo auf das harte zerrissene Kopfkissen zurück. Er entsinnt sich des Briefes, den er heute morgen von Yvett erhalten hat. Er dreht das Licht an, um ihn noch einmal zu lesen.

»Mein lieber, lieber Junge! Es ist zu Ende. Es ist Nacht, für immer Nacht um mich. Du bist nicht mehr da und wirst nie mehr da sein. Ich sehe nicht mehr.

Du siehst noch. Willst du einmal – noch ein Mal – gut zu mir sein? Dann soll jede es sein, jede – hörst du? – nur Lotte nicht. Lotte nicht!

Das heißt, wenn es nicht anders geht, wenn du es tun mußt, dann mag auch Lotte es sein. Es ist gleichgiltig, gleichgiltig . . . Yvett.«

265 Romeo läßt die Hand mit dem Brief sinken. Der Brief fällt auf den Teppich. Romeo macht keine Bewegung, um ihn aufzuheben. – – – – –

Von unten schlägt, fern und freudig, die Durkadenz des Klavierstimmertriumphes an Romeos Ohr. Das feindselig-mißgestimmte Klavier, das Dissonanzenheer, ist besiegt, tributpflichtig zu reinen Oktaven. Befreite Akkorde, aus sonoren Tiefen in hellere Höhen . . . Da – die Triumphkadenz erklang verfrüht. In den obersten Regionen der Tasten höhnen immer noch Dissonanzen. Unter der bewaffneten Faust des Stimmers geben auch sie jetzt wimmernd ihr dünnes Dissonanzleben auf; eine nach der anderen . . .

Romeo springt vom Sofa empor; er stürzt in die Mitte des Zimmers. Er erträgt es nicht länger, das alles! Fort von hier, aus diesem ihn erwürgenden Zimmer! Kein Nachdenken mehr, keine Vierteltöne! Luft!! Menschen!!

Er reißt Hut und Mantel vom Haken . . . Sein Blick fällt auf den winzigen tiefblauen Spalt am Fenster. »Was will ich noch mit dem Mantel?« denkt er. »Draußen ist Frühling, ich wußte es bloß nicht!« Er schleudert den Mantel in die Ecke, fährt mit beiden Händen durchs Haar und stürzt aus der Wohnung.

Dort, wo die Hauptstraße und der Ringplatz sich schneiden, bleibt er stehen. Benommen starrt er in das bunte Gewimmel von frühlinghaft gekleideten Menschen. Es ist noch Tag, der Himmel leuchtet wolkenlos blau; nur die Schaufenster der größeren Geschäfte schimmern bereits in künstlichem Licht. 266 Wie hübsch und sauber die Menschen sich in dem Zwielicht ausnehmen.

Eine biegt um die Ecke; über den Arm eine Menge kleiner, artig weißer Paketchen. Formblühend und schwelgerisch bewegt sich im Gehen ihr Leib unter dem schwarzen, knapp anliegenden Frühjahrskostüm; frische samtene Wangen, dunkelblonde Locken schimmern anmutig gerötet unter dem Baskenmützchen hervor. Lotte! – Wie angeschossen dreht sich Romeo auf dem Absatz herum, läuft davon.

Er hält inne, wendet sich, wartet. Bei seinem Anblick verlangsamt Lotte den Schritt. Eine dunkle Welle steigt ihr in die Wangen. Zögernd tritt sie, da Romeo sich nicht regt, auf ihn zu, streckt ihm die Hand entgegen. »Herr Reif«, will sie mit umdüstertem Gesicht mitfühlend zu sprechen beginnen, da lähmt sie auch schon die Sprödigkeit dieser Anrede. Er hat doch so unendlich viel durchgemacht, der arme Junge, seit sie ihn zum letzten Mal sah. Da kann sie doch jetzt nicht dermaßen kalt und förmlich zu ihm sein. Aber . . . »Romeo« kann sie ihn doch nicht kurzerhand ansprechen –? »Herr Romeo«, noch weniger, es klänge albern und entsetzlich. Wie aber? Und: »mein Beileid« –? All das ist so abgebraucht und nichtssagend . . .

Lotte sagt nichts, und zum Zeichen ihres Mitgefühls drückt sie stumm nur Romeos Hand, den Blick umdüstert zu Boden gesenkt.

»Lügen Sie nicht!« stößt Romeo heiser hervor. Er räuspert sich.

Erschreckt blickt sie auf. Sein Blick bohrt sich bitterböse in ihr Gesicht. »Lügen Sie nicht!« 267 wiederholt er ingrimmig, leidenschaftlich. »Sie sind munter. Warum zwingen Sie sich unentwegt zu falscher Tragik? Ich brauche Ihre tragische Miene nicht, ich brauche Ihre Munterkeit. Kommen Sie!«

Schweigend, hastig geht er an ihrer Seite; vielmehr ist er ihr stets um einen halben Schritt voraus. Hinter der alten Kaserne biegt er wortlos zum Flußufer hinab.

»Wohin?« fragt sie leise, eingeschüchtert, in ungewisser Spannung.

»Schweigen Sie!« stößt Romeo erregt hervor. »Schluß mit der Komödie! Ich habe Sie nicht gesucht. Aber da Sie nun einmal da sind . . . davonrennen werde ich vor Ihnen nicht. Kommen Sie, dort ist es dunkel!« Er umfaßt ihr Handgelenk, zieht sie hinter sich her.

»Ich verstehe nicht . . .«, flüstert sie geängstigt.

»Sie verstehen sehr gut!« schneidet Romeo ihr, als hätte sie ihn beleidigt, das Wort ab. »Lügen Sie nicht!«

»Haben Sie . . . haben Sie Nachricht von Yvett, Romeo?«

Romeo preßt seine Nägel in ihr Handgelenk, daß sie unterdrückt aufseufzt. »Schweigen Sie!« flüstert er. »Kein Wort davon! Da gibt es nichts zu reden, hören Sie?« Aufgeregt blickt er sich um. Kein Mensch weit und breit . . . In einer ungestümen Bewegung umschlingt er Lotte mit beiden Armen, preßt sie an sich, als wollte er sie ersticken. Lottes Pakete fallen zu Boden. Hungrig verbeißt er sich in Lottes blühende samtene Wangen, in ihren zarten härchenumschmeichelten Nacken, ihre Lippen, seine Hand versinkt in 268 dem immer geahnten seligmachenden Wunder ihrer Brust. Lotte schauert zurück. Romeo fühlt ihre Lippen bluten. Eine traumhafte sinnverzehrende Wonne überkommt ihn da, bricht aus seinen geschlossenen Augen. Seine Hand – er hat viele, unermeßlich viele Hände – irrt über verborgene Seide hin, warme, geheimnisvoll-lebendig erfüllte Seide, zerreißt Seide . . . In einem halberstickten Röcheln verliert er die Besinnung.

»Du!!« dringt ein fremdes Schluchzen an sein Ohr. Er spürt einen fremden todfeindlichen Körper, der ihn zu ersticken droht, an dem seinen lasten. Mit beiden Händen stößt er den fremden Körper von sich, weit von sich, und stürzt davon. Durch die Dämmerung, über fremdes unbekanntes Gelände flieht er, als jage ein starkes Traumtier hinter ihm her – oder sah er's in dem Afrika-Film? – immer weiter, immer hastiger eilt er hin, ohne Ziel, ohne Besinnung, ohne Qual, ohne Wohlgefühl. »Feigling! Mörder!!« dröhnt es in ihm, hämmert in seinen Schläfen. – – – – – – – – – – – – – – – –

Mit einem Mal sieht er sich, als würde er in diesem Augenblick aus einem dunkel bewegten Traum erwachen, auf dem Platz vor dem Bahnhof stehn. Ohne daß es ihm zum Bewußtsein gekommen wäre, ist es Nacht geworden. Nur das Licht der beiden Bogenlampen vor dem Hauptportal zerreißt das Dunkel über dem kleinen Platz. Innen im Gebäude ist es hell. Benommen geht Romeo auf das Portal zu, späht ins Innere des Schalterraumes. Menschen, fremde Menschen und großes Gepäck treiben hastig und geräuschvoll zwischen Beamten und Bahnbediensteten dahin. 269 Ein wichtiger Zug muß eben angekommen sein; die Reisenden erwarten offenbar den Anschlußzug. Ohne Zweifel einen der internationalen Züge nach dem Süden.

In diesem Augenblick kommt über Romeo eine brennende Sehnsucht nach dem Süden, nach exotischen Pflanzen, leuchtenden Farben, nach verwirrend duftender Luft . . . Ohne jegliche andere deutliche Empfindung betritt er den Schalterraum. In einer stilleren Ecke lehnt er sich mit dem Rücken an die Wand. Mit zunehmender sehnsuchtsvoller Trauer betrachtet er die Glücklichen, die eine gewaltige Lokomotive vielleicht schon in wenigen Minuten in ferne balsamische Länder entführen wird.

Was hindert ihn eigentlich daran – zündet ein Gedanke durch sein Hirn und reißt ihn aus dem Nebel seiner Benommenheit – was hindert ihn eigentlich daran, es diesen Menschen gleichzutun? Morgen schon kann er, wenn er will, in diesem Raum gleich ihnen auf den Auslandszug warten. Er ist großjährig, niemand als er selbst hat über das kleine hinterlassene Kapital der Mutter zu verfügen!

Um den Preis wievieler stummen Entbehrungen mag die Mutter den Betrag im Lauf der Jahre zusammengespart haben! – erinnert er sich; entmutigt sinkt er mit dem Rücken an die Mauer zurück. Überhaupt, ist er wahnsinnig? Wovon sollte er denn nachher leben und seine Studien fortsetzen? Will er eigentlich weiterstudieren? – Gleichviel. Das Geld muß er jedenfalls so anwenden, daß er sich eine Existenz geschaffen hat, bevor es aufgebraucht ist. Gewiß, er muß nicht unbedingt in Rietheim leben. Er 270 kann die Stadt in Kürze verlassen, um anderswo weiterzuleben. Aber gewiß nicht unter Palmen, leider, sondern höchstwahrscheinlich in irgendeiner großen Stadt, wo er so rasch wie möglich etwas zu finden vermag, was ihm späterhin die Existenz sichert. Denn sein kleines Kapital – der Betrag erschien ihm nur aufs erste törichterweise bedeutend – läßt ihm doch bestenfalls eine Gnadenfrist von eineinhalb Jahren. Und da kommt es ihm in den Sinn, eine Lustreise nach dem Süden zu machen . . .

Wird er Rietheim verlassen? – Fast will's ihm scheinen, als erstrebe er es in diesem Augenblick nicht mehr. Flößt ihm der Gedanke, hier alle Brücken hinter sich abzubrechen und in einer fremden ungewissen Stadt dann einer ebenso ungewissen Zukunft entgegenzuleben, nicht insgeheim Furcht, ja sogar Grauen ein? Unsinn. Was für Brücken hätte er denn auch hinter sich abzubrechen? Er hat noch die Wohnungseinrichtung zu verkaufen, sonst aber hält ihn nichts mehr hier fest, gar nichts mehr.

Oder . . . ist es am Ende nun –

– Lotte –? – Sonderbar, daß jeder Gedanke an sie wie ausgelöscht war, bis er vorhin, hier in der Bannmeile des Bahnhofs und der Auslandszüge, plötzlich aufwachte. Wär's trotzdem denkbar, dieses flüchtige, ja enttäuschende Erlebnis mit Lotte heut abend hätte dermaßen stark auf ihn gewirkt, daß er nun nicht mehr allzu ernsthaft daran denkt, Rietheim, das bedeutet: sie – auf immer zu verlassen? Undenkbar. Das kann doch nicht sein. Und darf nicht sein. Wären alle seine Erkenntnisse von der Untergang bedeutenden vermaledeiten Sphäre dieses Ortes 271 und seine Bewohner – Lotte gehörte doch zu ihnen – wäre selbst seine Erkenntnis von der absoluten Lebensnotwendigkeit, aus sich einen neuen besseren Menschen zu machen, wäre diese ganze neugewonnene Einsicht so schwächlich, so wenig in ihm befestigt gewesen, um gleich bei der ersten flüchtigen Berührung mit jenem fragwürdigen Himmel, den Lottes Leib ihn nun ahnen ließ, ins Nichts zu zerstieben –? Ja, aber könnte er denn nicht gerade im Besitz Lottes sich in einen anderen besseren menschlicheren Menschen verwandeln? Und Lotte mit ihm? – – Lächerlich. Lotte ist nichts als eine neue Gefahr, in der er seit Stunden schwebt, ohne daß er sich dessen bewußt war. Lotte, bei aller Verführung, die von ihr ausgeht, ist Rietheim, ausgeprägtes Rietheim. Weiß er es denn nicht? Glaubt er es nicht? Oder will er's nun nicht mehr glauben . . . Er muß fliehen, morgen schon. Gerade jetzt muß er fliehen. Wohin? Gleichviel. Fort. Fort von hier. Ohne Lotte noch einmal gesehen zu haben.

Aber . . . Alles richtig, zugegeben. War ihm heute nachmittag in seinem Zimmer nicht klar geworden, daß er aus Rietheim nicht fliehen kann? Weil Rietheim weniger um ihn als in ihm ist? Daß man das Erbe dieser Stadt mit sich nimmt, wohin man auch immer geht? Ja daß man, noch schlimmer, Rietheim gar nicht mit sich zu nehmen braucht, weil man es, offen oder versteckt, unter der Oberfläche jeder anderen Stadt wiederfindet?

Gequält, ratlos irrt Romeos Blick über die Menschen hin, die nervös geräuschvoll den Schalterraum erfüllen. Da wird sein Blick ganz plötzlich von der 272 Erscheinung eines Mannes getroffen, von dem eine so starke bezwingende Wirkung ausgeht, daß Romeo nichts anderes mehr zu denken vermag als: Wer mag das sein? Und während Romeo diesem Gedanken nachhängt, folgt sein Blick sklavisch, gebannt dem ungewöhnlichen Fremden, der mit den Anzeichen einer gelinden Nervosität in der Halle auf und ab geht, wiederholt auf die Uhr über dem Hauptportal blickend.

Ein Mensch aus einer anderen Welt! Das der nächste, nun von Sekunde zu Sekunde mehr zur Gewißheit werdende Gedanke, der Romeo im Anblick des schimmernden Fremden überfällt.

Romeo müht sich, den rätselhaft aufrührenden Eindruck, den die Persönlichkeit des Mannes auf ihn ausübt, genauer, klarer zu umgrenzen. Was ist das für ein Mensch? Und was ist das Zwingende an ihm? Doch es fällt Romeo schwer, es klar zu bestimmen.

Ein schlanker übermittelgroßer Herr – er kann etwa fünfunddreißig Jahre alt sein – an dem zunächst eine im Innersten freie achtlose selbstverständliche Eleganz auffällt. Eine höhere autonome Eleganz ist es, die sich in der Kleidung und besonders in den Bewegungen des Fremden offenbart. Dabei trägt er einen nichts weniger als eleganten weißlichen, nahezu schlampig wirkenden Mantel, an dessen beiden Seiten die Gürtelenden heiter und vergessen herabbaumeln. Der Fremde geht barhaupt, die Reisemütze achtlos zerknüllt in der Faust. Aber die Krawatte, diese unerhörte eigensinnige, locker und nachlässig gebundene, ebendarum faszinierende Krawatte! 273 Wenn der Fremde, wie jetzt, auf wenige Schritte herankommt, kann Romeo die Erlesenheit ihres Stoffes deutlich erkennen. Letzte Nebensächlichkeit an diesem ganzen Menschen, und doch – was gäbe Romeo darum, wenigstens diese Krawatte zu besitzen!

Romeo merkt, daß er sich mehr mit der Krawatte als mit dem Gesicht des Fremden beschäftigt; er erschrickt. Wird es mit ihm denn nie anders werden? Wird sein Blick immer an Nebensächlichkeiten haften, statt das Wesentliche zu erfassen? Das Hauptsächliche an dem Fremden aber ist doch das Gesicht, nicht die Art seiner Kleidung. Ein undefinierbares Gesicht . . . Wenn Romeo schärfer hinblickt, sieht er, daß es weder besonders schön, noch besonders edel ist. Es ist nur ein ungemein eindrucksvolles lebendiges geistiges Gesicht. Ziemlich blaß, glattrasiert, mit schmalen blutvollen Lippen, die sekundenweise kaum merklich einen spöttischen Ausdruck annehmen. Zwei haarfeine, scharf eingeprägte Falten – Leidensfalten? – gehen von der Nase zu den Mundwinkeln. Die Nase . . .? Doch! Die Nase ist eigentlich durchschnittlich zu nennen, nichts Außergewöhnliches ist an ihr. Das Edelste an dem ganzen Gesicht ist wohl die Stirn, diese scharf gemeißelte breite gebietende Stirn. Nein, das alles ist unwesentlich. Das Wesentliche ist unausdrückbar. Es leuchtet aus dem Gesicht.

Jetzt trifft der Blick des Fremden Romeo, der reglos steht und ihn gebannt anstarrt. Gleichsam zerstreut gleiten die Augen des Fremden – stahlgraue männliche und doch abgründige Augen – über Romeos Gesicht hin, um im Bruchteil einer Sekunde bereits anderswohin zu blicken. Romeo errötet unter 274 diesem Blick. Diese Augen scheinen nichts zu bemerken, denkt Romeo, ohne Zweifel aber erfassen sie alles ringsum, auch das Geringfügigste.

Romeos Blick schleicht dem vorüberschreitenden Fremden nach, verweilt auf dem lockeren unachtsam zurückgekämmten Haar, daß sich am Hinterkopf künstlerisch-üppig wellt. Eigentlich eine unbestimmbare Farbe, dieses Haar . . . Blondgrau, könnte man es vielleicht nennen; aber das trifft bei weitem nicht das Richtige. Und diese Hände! Vor allem die Hände! Wie die schlanken und doch gewiß stahlharten Finger jetzt das Haar am Hinterkopf zurückstreichen . . . Lebendige geistige, es ist nicht zuviel gesagt: bannende Hände!

Romeos Augen glänzen. So schwärmerisch hingegeben, wie die Augen eines verliebten kleinen Mädchens, das in einer Zeitschrift das Bild seines Lieblingsfilmschauspielers entdeckt. Romeo hat längst alles, was ihn noch vor wenigen Minuten im Innersten bewegte, vergessen. Nur ein Gedanke beherrscht ihn: Wer mag dieser herrliche einmalige Mensch sein? Sicher ein großer bedeutender Künstler. Ein gewaltiger Dirigent oder ein weltbekannter Autor, ein Maler oder Virtuose . . . nein, kein Virtuose. Auch kein Schauspieler. Ein schaffender Künstler, fraglos. Einer von denen, die dem Jahrhundert das Gesicht geben. Auch ein Großer der Wissenschaft ist es wohl nicht, nein, ein bahnbrechender, in allen Weltteilen bekannter schöpferischer Künstler! Jedenfalls ein ganz und gar einmaliger atemraubender Mensch, ein Gott!

Wie würde eigentlich Lotte auf diesen Menschen wirken? – fragt sich Romeo ganz unvermittelt. Über 275 den absonderlichen Einfall versucht er zu lächeln. Doch der Gedanke geht ihm nicht aus dem Kopf. Es ist klar, sagt er sich nach kurzem Schwanken, der Fremde würde Lotte nicht in höherem Maße beachten, als er vorhin ihn selbst beachtet hat. Seltsam, daß Lotte aber auch in Romeos eigenem Empfinden plötzlich allen Reiz und allen Schimmer verloren hat. Im Zusammenhang mit dem Fremden dort, erscheint sie ihm jetzt mit einem Mal hausbacken dürftig entzaubert. Ein nettes kleines Provinzschulmädel, sagt er sich, sonst nichts. Was könnte sie diesem Halbgott bedeuten?

Die Feststellung erleichtert, befreit Romeo, ohne daß er weiß weshalb. Unfaßbar! staunt er. Hätte ein Blick in das Antlitz eines Menschen aus Jenseits-von-Rietheim mich mit einem Mal alles anders betrachten und richtiger, sachlicher beurteilen gelehrt? Mein Gott, wie würde ich da erst sehen lernen, wenn ich das Glück hätte, mit Menschen wie diesem da die gleiche Luft zu atmen, oder zu ihnen gar in nähere Beziehung zu treten. Aber wie ist es eigentlich damit? Wären Menschen dieser Art mir bis heute wirklich niemals begegnet –? Kaum anzunehmen. Zumindest hab ich doch Bücher gelesen. Nein. Eher verhält es sich so, daß ich bisher blind war und daß erst das Unglück meinen Blick für höhere seelische Rangunterschiede geschärft hat.

Romeo kommt nicht dazu, den Gedanken zu vollenden. Denn seine Aufmerksamkeit wird in diesem Augenblick von außen her in Anspruch genommen. Ein Gepäckträger ist an den Fremden herangetreten, spricht auf ihn ein; dabei deutet er mit der Hand auf 276 eine der Türen, die auf den Bahnsteig gehen. Romeo nähert sich den beiden. »Vielleicht sagt der Fremde etwas!« denkt er, elektrisiert, und bemüht sich, unauffällig in Hörweite zu gelangen. Doch nur ein einziges Wort hört er den Fremden sagen. »Danke«. Der Dank wird von einem unbeteiligten, nicht unfreundlichen Kopfnicken begleitet.

In diesem Augenblick werden die Türen zum Bahnsteig geöffnet; das Donnern eines einfahrenden Zugs übertönt die Stimme des Ausrufers. In die Wartenden kommt Bewegung. Hastig drängt alles dem Bahnsteig zu.

Romeo sieht den Fremden, von der allgemeinen Nervosität angesteckt, die Brieftasche hervorziehen, ihr hastig einen Schein entnehmen, den er dem Gepäckträger einhändigt. Ein zusammengefaltetes bläuliches Papier gleitet dabei aus seiner Rocktasche zu Boden. Weder der Fremde noch der Träger scheinen den Verlust zu bemerken. Romeo macht eine Bewegung, als wollte er hinstürzen und das Papier aufheben. Er besinnt sich, hält inne. Er sieht, wie der Fremde, von dem Träger gefolgt, die Halle verläßt. Zögernd nähert er sich dem Platz, wo die beiden gestanden waren. Er hebt das Papier vom Boden auf und hält es, in der Richtung der Tür, durch die der Fremde gerade die Halle verläßt, vor sich hin, mit der ehrlichsten Miene, deren er fähig ist. Ein Brief! Oder ein Manuskript! – stellt er fest. Mehrere zusammengefaltete Bogen. Steile sonderbare eindrucksvolle Schriftzüge. Eher eine weibliche als eine männliche Schrift. Nicht deutsch. Eine fremde Sprache . . . Französisch!

Hastig läßt Romeo die Hand mit den Papieren 277 sinken. Ein rascher, verstohlen in der Runde umhergesandter Blick zeigt ihm, daß niemand ihn beobachtet. Hastig verbirgt er den Fund in der Rocktasche. Schlendernd verläßt er den Schalterraum.

Draußen, vor dem Bahnhof, beschleunigt er seine Schritte. Sobald er in verlassene schlafende Straßen gelangt, gerät er ins Laufen. Er kann es kaum erwarten, zu Hause zu sein, dort das Schriftstück zu untersuchen. Vielleicht gibt es ihm Aufschluß über die Person des Fremden. Am Ende stellt sich jetzt heraus, daß es sich um den Vertreter eines Weinexportunternehmens handelt, geht es ihm durch den Kopf. Doch er verbannt den absurden Gedanken. Jedenfalls hab ich nicht einen Augenblick ernsthaft daran gedacht, die Papiere zu dem Zweck vom Boden aufzuheben, um sie dem Fremden zurück zu geben, sagt er sich. Von vornherein muß in mir der Wunsch gewesen sein, das Schriftstück für mich zu gewinnen. Ohne die Spur eines Selbstvorwurfs, nur ein wenig verwundert, stellt Romeo das fest. Da sieht er sich schon vor seinem Hause.

Atemlos betritt er die verwaiste Wohnung. Wie heiß ihm ist! In seinem Zimmer wirft er den Rock aufs Sofa, setzt sich an den Tisch. Ohne eine Minute verstreichen zu lassen, zieht er das Schriftstück aus der Tasche, entfaltet die Bogen. Ein Blatt, eine Fotografie, fällt auf die Tischplatte. Romeo greift danach, betrachtet sie lange und eingehend. Seine Hand, die das Bild hält, beginnt unmerklich zu zittern, seine Augen glänzen. Was für ein Weib! – denkt er beklommen. Eine wunderbare fremdartige Frau . . .! Gewiß die Frau, nein, die Geliebte des Fremden! Wie 278 könnte sie anders aussehen . . . Und dieses Kind! Ein allerliebstes Kerlchen! Sein Kind . . . Seltsam. Eigentlich geschieht es zum ersten Mal, daß der Reiz eines Kindes ihn tiefer berührt.

Gebannt ruht Romeos Blick von neuem auf dem Gesicht der Frau. Welche Beseeltheit – und wieviel Geist ist in diesem unirdischen und doch wie irdischen, menschlichen Antlitz! Romeos Herz beginnt rascher zu schlagen. Die ferne süße Trauer in diesem herzbezwingenden Lächeln! Die Lippen . . . Die Nase! Und die zarten erregenden Schatten in der Mitte der Wangen und unter den klugen sprechenden Augen . . . Ein ergreifendes atembeklemmendes Gesicht. Wie das des Mannes. Und doch so anders . . . andersrassig – jetzt hatte er das Wort. Das ist keine Deutsche, nein. Der Fremde könnte ein Deutscher gewesen sein, die Frau aber entstammt, kein Zweifel, einer fremden fernen Welt . . . Und doch sind beide, ja selbst das Kind, Angehörige der gleichen höheren geistigen Welt. Das gibt es also . . . Und nicht bloß in Dichtungen, nein, so etwas lebt, atmet und liebt auf dieser Erde. Und ist mit einem Schnellzug, der auch durch Rietheim fährt, vielleicht gar in eineinhalb Tagen zu erreichen . . . –

Benommen greift Romeo nach dem Schriftstück, das er, wie ihm jetzt bewußt wird, über dem Bild völlig vergessen hat. Er hält inne. Ich bin von Sinnen! – denkt er, kopfschüttelnd. Nicht genug an der Tollheit heute abend mit Lotte, vergaffe ich mich unmittelbar nachher in einen wildfremden Mann, und nun bringt mich gar schon eine Fotografie dermaßen in Aufruhr, daß meine Hände zittern!

279 Romeo beginnt zu lesen. Seine Wangen glühen, die Blätter in seiner Hand zittern unmerklich. Seine Bewegtheit nimmt zu, im Maße als er in der Lektüre fortschreitet. Jetzt hält er das letzte Blatt in Händen. Jeder Rest von Neugierde ist aus seiner Miene gewichen; in kindlich-ernster atemloser Spannung liest er zu Ende. Seine Hand, die das Blatt hält, sinkt auf die Tischplatte hinab. Im Gesicht einen Ausdruck von kindlicher Ergriffenheit, von Feierlichkeit, den sein schwärmerisch entzückter Blick vergeblich Lügen strafen möchte, greift er von neuem nach der Fotografie, versinkt in ihrem Anblick. Seine Finger streichen mit scheuer Zärtlichkeit über das Bild hin, er neigt sich darüber, berührt es mit den Lippen. Verwirrt springt er vom Sessel auf, streicht mit der Hand über die Stirn, versucht zu lächeln. Mit geistesabwesenden Blicken geht er zum Bücherregal, zieht einen dickleibigen Band, ein Wörterbuch, hervor, kehrt damit an den Tisch zurück. Von neuem überfliegt er die Briefbogen, zwischendurch mehrmals in dem Wörterbuch nachschlagend. Immer wieder fällt sein Blick dabei auf die Fotografie. Er wirft Kragen und Krawatte von sich, seufzt leise auf, glättet mit der Hand sorgfältig, behutsam die Blätter, setzt sich zurecht. Jetzt erst glaubt er den Brief ganz zu verstehn. In schwärmerischer Hingegebenheit beginnt er vom neuem zu lesen. Was er liest, ist ungefähr das:

Mein Freund, mein großer Freund,

An dem Schreibtisch in meinem Zimmer, den du gut kennst, da ich ihn kurze Zeit mit dir teilen 280 durfte, vor dem Fensterausschnitt eines Tages, der zu Ende geht, suche ich daran zu denken, was die Zeit mir gebracht hat. Eine deiner verlassenen Zigaretten begleitet meine Gedanken, die traurig sind, ohne mich heftig zu stimmen. Ich hab den Geschmack am Kampf, vielleicht auch die Kraft verloren. Ich bin, wohl durch dich, mein Freund, ohne daß ich's merkte in die Tiefen der Skepsis hinabgeglitten, zur Tatenlosigkeit.

Schwäche? Vielleicht. Ich hätte, glaube ich, das Zeug zu einem Mann, wie du es bist, gehabt, wenn die Natur mich nicht schon im Augenblick meiner Geburt vernichtet hätte, indem sie mich Weib sein ließ. Jetzt möchte ich wenigstens im Verzicht Größe beweisen.

Vielleicht wirst auch du in diesen Tagen eine Bilanz deiner selbst aufstellen. Sie wird ganz anders ausfallen als die meine. Du siehst dich mitten im schöpferischen Leben. Um wie viel mehr ich dich darum liebe! Vielleicht liebe ich in dir gerade das, was ich selbst hätte sein können. Ja es scheint mir, als würde in der Liebe zu dir meine Armut sich in Reichtum verwandeln. Und was mich bedrückt, ist vielleicht nur das eine, daß ich in deinem Leben so wenig vermag. Ich kann dich nur lieben.

Das Gestammel unserer kleinen Cecilie leistet mir Gesellschaft, ohne mich zu verwirren. Diese kleine Seele, die aus der unseren, einen, hervorging, erwacht eben erst zum Leben; sie nimmt unter meinen Augen nun schon ein wenig Gestalt an. Sie ist feinfühlend und zärtlich; ihre große Liebe sind der herrliche Teddybär, den du ihr geschickt hast, und 281 ich. Wenn ich nicht bei ihr bin, spielt sie nicht und weist sogar alle Nahrung zurück. Hört sie dann aber meinen Schritt, so würde man meinen: der Himmel öffnet sich für sie. Ihre Neigungen sind vorläufig wenig weiblich: sie spielt »Eisenbahn«, mit der »Massine«, wie sie sagt, und sie klettert – ein reizender Anblick! Doch das Bemerkenswerteste an ihrem Wesen ist ihr ausgesprochener Hang zum Theaterspielen. Sie spielt sich selbst und anderen ganze Dramen vor, mit allerlei eingebildeten Nebenfiguren. So hält sie zum Beispiel einem Kind, das natürlich nicht existiert, den Arm hin, um sich von ihm beißen zu lassen. Sie tut es einzig deshalb, um sich durch dieses kleine Unglück vor mir interessant zu machen und ausgiebig von mir trösten zu lassen. Beim Lachen dringt zwischen ihren Lidern ein ganz kleiner Strahl von Schalk und Ironie hervor. So klein sie ist, sie hat deinen Ausdruck. Freilich führt sie alle die Schelmereien, die ihre Augen ausdrücken, auch durch. Mit Methode, wie du. Sie komponiert ihre kleinen Coups; ihre Spiele sind organisiert. Das an einem so kleinen Baby zu bemerken, wirkt seltsam. Ja, und dann! Sie ist lebhaft gepackt von den Tönen. Wie ein winziges Spielzeug sitzt sie bewegungslos in einem der großen Fauteuils, wenn ich Klavier spiele und fordert, sobald ich aufhöre: »Noch Masik!«

– – – Ich nehme den Brief, den, ich weiß nicht mehr welche öde Notwendigkeit unterbrochen hatte, einige Stunden später wieder auf. Es ist Nacht geworden. Durch die Fenster zeigen sich mir die vertrauten Lichter der Straße. Der 282 Regen schlägt gegen die Scheiben und spiegelt auf dem Asphalt. Was für eine weiche erregte Frühjahrsnacht! Ich möchte wissen, woher dieser unwahrscheinliche Geruch von Tannen dringt, weihnachtlich und an Gebirgsdörfer gemahnend, voller Geheimnis und Leben.

Wie möchte ich jetzt an deiner Seite sein und auf dem Diwan dort in der halbdunklen Ecke meinen Leib und meine Seele mit deinem Leib und deiner Seele vermischen . . . Doch statt mich aufzugeben in solch einem endlos schweigenden Akkord, muß ich zu schreiben versuchen, was unaussprechlich bleibt bis ans Ende der Tage; und das in einer Sprache, die, nicht die deine und nicht die meine, Grenzen überall . . ., notgedrungen die unsre wurde.

Was magst du tun, mein angebeteter Freund? Um diese Stunde bist du manchmal in meinen Armen eingeschlafen. Wie oft hab ich dann so in dein Gesicht geblickt. Damals trennte der Schlaf dich von mir. Jetzt vereint er uns, wie der Tod.

In der süßen Bitternis eines Tages, der nun zu Ende ist, will ich meinen Brief schließen. Meine Arme aber schließe ich um dich, mein einziger Freund, in einer unaussprechlichen Umarmung, die du – wie schade! – nur in der Ahnung fühlen wirst. Oder auch das nicht.

Aber du bleibst, auch ungetreu, der Mann, den ich am meisten liebe und schätze.

Kirsten Johannsen.

– – Was für ein Name? Eine Nordländerin . . .? –

Romeos Stirn sinkt auf die Hände herab, die, um die Fotografie geschlossen, auf der Tischplatte ruhen. 283 Einmal ein Mensch! – seufzt er. Ein menschliches Wesen! Eine Landschaft . . .! Er scheint zu schlafen. Plötzlich richtet er sich im Sessel auf. Sein Gesicht ist frei gut und jungenhaft-gläubig. Ja! Diese Frau ist alles – denkt er, überzeugt und erlöst – was ich bei Yvett, bei der Mutter und heute bei Lotte vermutete, suchte und nicht fand. Oder immer nur zu einem Teil fand. Sie ist das alles: Freundin und Mutter und Geliebte, und alles ist sie in berückender lichter Anmut. Madonna . . .

Mit einer jäh entschlossenen Bewegung öffnet Romeo die Tischlade; er zieht eine Mappe mit Briefpapier hervor und beginnt zu schreiben. Er adressiert zwei Kuverts. Dann überliest er das eine seiner beiden Schreiben. Es lautet:

Liebes Fräulein Lotte! Vergessen Sie, was heute war. Sie werden mich nicht wiedersehen. In spätestens drei Tagen verlasse ich Rietheim, um nie mehr, oder erst nach vielen Jahren, zurückzukehren. Es wäre nett, wenn Sie in der Weise auf das Geschehnis von heute vergessen wollten, daß kein Mensch, besonders nicht Yvett, jemals etwas davon erfährt. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute, Fräulein Lotte, denn ich bin Ihnen in bleibender Freundschaft zugetan. Romeo R.

Romeo wirft einen Blick auf den französischen Brief und streicht das Ausrufungszeichen hinter den Worten »Liebes Fräulein Lotte« durch. An seine Stelle setzt er, wie in dem Brief der Kirsten Johannsen, ein Komma. Er steckt den Brief in den Umschlag, klebt ihn zu. Dann überliest er das zweite Schreiben. Es lautet:

284 Sehr geehrter Herr Kirrner,

Da ich in spätestens drei Tagen die Stadt auf immer zu verlassen gedenke, habe ich mich nun doch entschlossen, Ihnen die gesamte Wohnungseinrichtung zu dem von Ihnen genannten Betrag zu überlassen. Wollen Sie sich im Lauf des morgigen Tages daher freundlichst bei mir einfinden. Hochachtungsvoll: jur. Romeo Reif.

Mit einem Ausdruck flüchtiger Befriedigung klebt Romeo auch diesen Brief zu und legt ihn mit Sorgfalt auf den andern. Er entkleidet sich. Nachdem er nochmals nach den Briefen gesehen hat, sinkt er ins Bett. Er wendet das Gesicht zur Wand. Mechanisch dreht er das Licht ab.


 << zurück weiter >>