Walter Seidl
Romeo im Fegefeuer
Walter Seidl

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12

Mit Franz Maria Lotter hat es eine eigne Bewandtnis. Auch er fällt gewissermaßen aus der wohlgepolsterten Mitte der Rietheimer Einwohnerschaft heraus. 184 Wiewohl seine Abkunft, sein ererbtes Vermögen, der Name schlechthin, den er trägt, ihn zum Genuß des allgemeinsten Ansehens berechtigen, ja zu den höchsten stadtbürgerlichen Würden und Vertrauensstellungen berufen würden. Ist er vielleicht irgendeiner? Mit nichten. Sein Großvater, sein Vater, beide starben, nachdem sie Jahrzehnte hindurch Rietheims Bürgermeister gewesen. Eine ganze Front von Patrizierhäusern am Marienplatz, Sonnenseite gelegen, erbten die Söhne. Der Notar, der Chefarzt des Krankenhauses, der Bierbrauerei-Besitzer und eben Franz Maria, der . . . ja was eigentlich? Der Bildhauer. Ist das ein Beruf? Möglich. Aber dazu müßte man doch zunächst einmal Werke geschaffen haben, wie? Werke, die bezahlt und die dann irgendwo aufgestellt werden, für alle sichtbar. Hat jemals einer ein Werk von Franz Maria Lotter gesehen? Nein. Oder hat man jemals gehört, daß vielleicht auswärts irgendwo ein solches steht? Nein. »Sculpteur«, steht auf seinem Briefpapier, das ist alles.

Nun, daran läge schließlich nichts. Denn auch ohne einen richtigen Beruf, allein von den Zinsen des väterlichen Erbes kann Franz Maria Lotter sehr schön leben. Als mehrfacher Hausbesitzer gilt er zudem als Privatmann, nicht als Künstler, so daß man ihm die entsprechende Ehrfurcht keineswegs zu versagen brauchte. Und warum sollte er da nicht nebenbei auch seinen kleinen Sport haben – manche sagen: einen Spleen, eine Marotte – die Bildhauerei. So könnte man meinen. Ja, aber die eigene Familie, die übrigen Lotter, die das väterliche Vermögen inzwischen bedeutend vermehrt haben und heute wie Säulen in 185 der Stadt stehen, selbst die sind doch von Franz Maria längst abgerückt, behandeln ihn mit nachsichtig lächelndem Wohlwollen oder überhaupt nicht, schicken ihm bestenfalls einmal einen alten, weniger gewichtigen entfernten Verwandten zu wochenlanger Bewirtung ins Haus . . . ja, und zu Franz Marias Geburtstag dann natürlich all die kleinen Erbneffen und -nichten zur Gratulation mit Blumen und Sprüchlein.

Wenn aber schon die eigne Familie sozusagen öffentlich bekundet, daß sie über Franz Maria bereits das Kreuz gemacht habe, wie sollten da nun erst die Mitbürger glauben, daß an ihm etwas sei, als Privater sowohl wie als Künstler. Zwar gibt es so vereinzelte Grünschnäbel, grundsätzliche Verneiner – die nämlichen, die von Dr. Freißler höhnisch als von dem »Napoleon von Rietheim« zu sprechen wagen – ja, und die behaupten immer wieder einmal, Franz Maria Lotter sei ein verkanntes Genie. Schon gut! Hat man jemals Werke von ihm gesehen? – Wie war das nur eigentlich mit ihm so gekommen? Zuerst hatte er doch Historische Grammatik oder sonst etwas Ausgefallenes zu studieren begonnen, dann trug er eines Tags aber plötzlich lange Haare, Schlapphut, und war ganz einfach Künstler. »Sculpteur«, wie er sich auf seinem Briefpapier nannte. Wenngleich er sonst stets untadelig gekleidet geht. Schon gut, hat er irgendeinem seiner vielen Bekannten etwa jemals den Eintritt in sein Atelier – so bezeichnet er das eine der beiden Mansardenzimmer – gestattet? Nein, nicht mal dem Dienstmädchen. Er selbst räumt dort auf, scheuert sogar in eigener Person den Fußboden und – seit er, vor vielen Jahren, seine Brüder einmal 186 bei einem Einbruchsversuch ins ›Atelier‹ ertappt hat – trägt er den Schlüssel zu dem neuen komplizierten Vorhängeschloß ständig bei sich. Was soll das alles, fragt man sich da mit Recht, für einen Sinn haben? Besser gesagt: man fragte. Früher mal. Heute fragt niemand mehr danach. Seit damals die Geschichte mit der Landwirtschaft passiert ist, hat man sich wie mit einer unabänderlichen Tatsache stillschweigend damit abgefunden.

Damals hatte sich folgendes zugetragen. Da fand doch die große landwirtschaftliche Ausstellung in Rietheim statt. Der Minister selbst sollte sie feierlich eröffnen. Ein stattliches Gebäude war eigens zu dem Zweck errichtet worden. Nun, und vor dem Gebäude sollte eben irgendeine Figur stehen, in Marmor oder so, die Göttin der Landwirtschaft, oder sonst irgendeine sinnreiche Verherrlichung. Ja, und da hatte man natürlich in erster Reihe an Franz Maria Lotter gedacht, weil der doch angeblich Bildhauer war, außerdem doch ein Sohn der Stadt war, und weil schließlich auch in seinen Adern das Blut der Lotter rann, denen Rietheim so viel zu danken hat. Einstimmig sogar hatte der Stadtrat Franz Maria mit dem ehrenden Auftrag betraut. Und er? Zuerst hatte er sich drei Tage Bedenkzeit ausgebeten – war das schon merkwürdig genug – dann hatte er dem Stadtrat in einem langen, allerdings wunderbaren Schreiben, das sogar in der Zeitung abgedruckt wurde, mitgeteilt, daß er den ehrenden Auftrag annehme und ihn auch zum dauernden Ruhme der Stadt durchzuführen hoffe, der Stadt, an der er mit allen Fasern seines Herzens und mancher 187 dunklen Blutsbande seiner Väter hänge. Dann, während vieler Wochen, hatte er, der sonst so Gesellige, für keinen Menschen Zeit gehabt und gleichsam nur im Vorübereilen von einem wichtigen Wendepunkt in seinem Dasein gesprochen. Alles war voller Erwartung, alle freuten sich, daß der Minister und alle die auswärtigen Gäste bei dieser festlichen Gelegenheit denn also ein Werk des geschätzten heimischen Sculpteurs zu sehen bekommen würden, der zudem ein Lotter war. Na, und was geschah in Wirklichkeit? Hals über Kopf mußte aus einer anderen Stadt eine völlig belanglose Figur, eine Kuh in Bronze – etwas Besseres, Sinnreicheres war in der Eile nicht mehr aufzutreiben gewesen – herbeigeschaft werden, mit großen Kosten noch dazu, und warum? Weil Franz Maria Lotter, zwei Tage vor Eröffnung der Ausstellung, dem Stadtrat in einem langen, ebenso sprachherrlichen Schreiben mitgeteilt hatte, nach reiflicher Erwägung könne er den ihn nach wie vor ehrenden Auftrag nun doch nicht annehmen. Das ihm gestellte Thema: die Apotheose eines so betont amusischen Begriffes, wie es die sonst durchaus ehrbare Landwirtschaft sei, entspreche nicht seiner Auffassung von der künstlerisch-ethischen Sendung der Bildhauerkunst in unserem Jahrtausend . . .

Na, Schwamm drüber. Deswegen kann Franz Maria Lotter doch sonst ein recht ehrbarer Mensch und Mitbürger sein. Außerdem sieht er sehr vorteilhaft aus. Man lädt ihn gern zu sich ein. In jedem Salon wirkt er, mit den langen, trotz seinen vierzig Jahren merkwürdigerweise schon silbern schimmernden Haaren, die sein junges faltenloses Gesicht einrahmen, 188 geradezu dekorativ. Und wenn er einen manchmal so leicht spöttisch durch die scharfgeschliffenen Brillengläser anblickt, sieht er ausgesprochen wie ein Künstler aus. Überdies weiß er wie kaum ein Zweiter zu erzählen. Die geringfügigsten Tagesereignisse hören sich in seiner fesselnden Darstellung geradezu abenteuerlich an. Diese Erzählergabe, derentwegen manche ihn als die Rietheimer Vicki Baum bezeichnen, schätzt sogar seine Familie an ihm, die ihn sonst wahrscheinlich nur deshalb nicht leiden kann, weil er keine von all den wohlhabenden Bürgertöchtern und Frauen, die man ihm im Lauf der Jahre hatte anhängen wollen, geheiratet hat. Weil er überhaupt nicht heiraten zu wollen scheint, obwohl er, auf der Straße und auch sonst, jedem jungen Mädchen nachblickt, wollüstig auflacht und einen ganz roten Kopf bekommt.

*

Franz Maria Lotter lehnte in halb liegender Stellung, die Beine weit von sich gestreckt, in einem riesigen Fauteuil, sein Gesicht lag im Dunkel, nur über dem linken Stirnknochen und einem Teil des silbern schimmernden Künstlerhaars lag von der roten Wandlampe oberhalb des dämonisch blickenden Fantasieporträts Michelangelo Buonarottis ein magischer Schein. Ohne mit einer Silbe zu unterbrechen, nur einige Male kurz auflachend, hörte er Romeo zu, der ihm stotternd schließlich ferne seelische Bereicherung in Aussicht stellte, sowie mancherlei neue Impulse für ein Werk, falls er am kommenden Sonntag bei dem Ausflug mit Lotte und 189 Yvett mitmachen wollte. Dann wußte Romeo nichts mehr zu sagen.

Franz Maria Lotter setzte sich mit einer jähen Bewegung vorn an den Rand des Fauteuils, stützte das Kinn auf die Hand, den Ellbogen aufs Knie, und sträubte sich. Das ginge nicht, erklärte er beleidigt, er sei überbürdet mit Arbeit. Und überhaupt – was sollte er unter lauter jungen Mädchen? Unmittelbar darauf lachte er wollüstig auf, nur um sogleich wieder gekränkt vor sich hin zu starren. Überhaupt, er könne sich solche Spaße jetzt nicht leisten, er habe nicht weniger als vier Wohnungen leer stehen! Was die Fahrt dort hinaus denn eigentlich koste?

Romeo erschrak. Denn er erinnerte sich plötzlich, daß auch er ja noch keine Ahnung hatte, woher er sich das Geld für den nächsten Sonntag beschaffen werde. Dennoch erwähnte er mit Takt – die patrizierhafte Eleganz des Zimmers berauschte ihn – daß die kleine Gesellschaft es sich natürlich zur Ehre anrechnen werde, den Meister auf dem Ausflug als ihren Gast betrachten zu dürfen. Da der Meister aber nur einen unwilligen Ton von sich gab, fügte er rasch noch etwas von Lottes köstlicher kleiner Brust hinzu.

Der Meister stieß Romeo kannibalisch lachend in die Rippen, und mit einer raschen Bewegung drückte er auf den Schalter des Kronleuchters. Romeo sah, daß er einen ganz roten Kopf hatte. »Na also – meinetwegen«, rief er aus. »Sie –! Aber was ich sagen wollte! Niemand außer Ihnen und den Mädchen darf selbstverständlich etwas davon erfahren!«

190 Romeo beruhigte ihn. Das sei doch schon der Mädchen wegen Voraussetzung. Und mit der nochmaligen Versicherung, der Meister werde aus dem Ausflug gewiß mancherlei neue Impulse für sein Werk schöpfen, verließ er ihn eilig.

Sobald Franz Maria Lotter allein war, überfielen ihn scharenweise die Bedenken. Fast reute ihn die vorschnell gegebene Zusage. Wie leichtsinnig von ihm! War er denn ein junger Student? Nein, er war in den besten Jahren, galt für wohlsituiert und so weiter – da war es denn äußerst gefährlich, sich mit jungen Mädchen aus den besten Kreisen abzugeben. Ein Mensch wie dieser Reif, ein halber Lausbub noch, der nichts war und nichts hatte als seine Frechheit, der konnte sich dergleichen eher erlauben. Der schon. Aber bei ihm hieß es dann am Ende gleich wieder: heiraten! Jawohl. Aber das nicht, das würde noch fehlen. Und nun gar hier, wo es sich zu allem noch um die Tochter des Doktors Freißler handelte. Ausgerechnet die Tochter vom Regierungsrat Freißler mußte es sein. Mit dem war doch schon gar nicht zu spaßen. So ein Willensmensch, ein Fressen geradezu für den Nietzsche – so ein Napoleon! Himmel, wie einen doch auf Schritt und Tritt unsichtbare Gefahren umlauern! Was hatte er da getan. In welche Gefahrenzone hatte er sich da eben noch begeben wollen. Nein, er wird diesem Reif noch heute schriftlich mitteilen, daß er verhindert sei. Gott soll ihn behüten vor so etwas. Eine abgefeimte bübische List war das ganze, nichts anderes!

*

191 Am Sonntag früh erschien Franz Maria Lotter pünktlich auf dem Bahnhof. Bei seinem Anblick konnte Romeo ein breitmäuliges Grinsen nicht unterdrücken. Die wandelnde Pastoralsinfonie! Zwar schien die Sonne heute ziemlich warm hernieder, aber das –? Das war des Guten denn doch ein wenig zu viel. Grünrot karierte Joppe mit Messingknöpfen; Lederhose mit aufgesticktem »Grüß Gott«, Wadenstrümpfe, Steirerhütel. Nichts fehlte als die nackten Knie. Nein, um Himmelsgotteswillen, so war das nicht zu machen. Was würde Lotte . . . – Unausdenkbar. Die würde doch laut auflachen und auf der Stelle Kehrt machen! – Aber wie brachte er das dem Meister nur schonend bei? Der war so aufgeräumt und so guter Dinge. In einem fort scherzte er von nichts anderem als von Lottes Busen. Zudem war doch nun gar nicht mehr Zeit zum Umkleiden, in ein paar Minuten mußte der Zug eintreffen. Ach was, so würden sie eben den nächsten Zug benutzen, eine halbe Stunde später, mit den Mädchen gemeinsam. Es würde sie ohnehin kein Bekannter sehen. Wer fuhr denn jetzt noch ins Gebirge hinauf.

Romeo räusperte sich. »Hm, Meister, aber Sie sind reichlich leichtsinnig, seh ich gerade. Hier ist es warm, aber in den Bergen weht immer noch eine recht rauhe Winterluft. In dieser Bekleidung können Sie sich leicht eine Ischias holen.«

»Ischias . . .«, wiederholte der Meister, sichtlich bleicher werdend; alle gute Laune war wie mit einem Schlag aus seinem Antlitz geschwunden. »Ja warum haben Sie mir denn das nicht vorher gesagt?« rief er aufgeregt.

192 »Nun, ich weiß ja nicht, was für eine Konstitution . . . das ist natürlich Konstitutionssache«, stotterte Romeo, bestürzt.

»Ach was, Konstitution!« schnitt ihm Franz Maria Lotter empört das Wort ab. »Ischias, ich bitte Sie! Das würde mir gerade noch fehlen!«

»Aber so gehen Sie doch rasch nachhause und kleiden Sie sich um!«

»Was heißt das? Jetzt kommt doch schon der Zug!«

»Das macht nichts, Meister. So fahren wir eben mit dem nächsten Zug, in dreißig Minuten.«

»Was? Mit den Mädchen zusammen?! Was fällt Ihnen ein? Das ist viel zu gefährlich!«

Der Meister war hochrot im Gesicht vor Aufregung. Romeo beruhigte ihn mit vieler Mühe. Kein Mensch würde sie sehen. Außerdem könne man beim Einsteigen doch zur Vorsicht getrennte Abteile wählen. Viel wichtiger sei, daß der Meister keine Erkältung riskiere.

Murrend schüttelte Franz Maria das Haupt. In diesem Augenblick sah er wie Jupiter tonans aus. Hatte er es nötig gehabt, sich in eine derartige Gefahrenzone zu begeben? Aber, selbstverständlich, der rauhen Winterluft in den Bergen kann er sich auf keinen Fall ungeschützt preisgeben! – Grußlos ließ er Romeo stehen, eilte davon, dem Ausgang zu. Doch schon nach wenigen Schritten rief er erbost über die Schulter zurück: »In zwanzig Minuten bin ich wieder hier!«

Pünktlich erschien er zum zweiten Zug auf dem Bahnsteig. Romeo erkannte mit einem Blick, daß er 193 noch in genau der gleichen Tracht steckte wie vorhin, nur trug er jetzt zwei Paar Wadenstrümpfe und über der Joppe eine kurze dicke elegante Pelzjacke. Auf seiner Stirn hingen kleine Schweißtropfen; aber er war nun wieder in übermütiger Laune. Romeo begrüßte ihn mit einem belustigten Auflachen, sagte im übrigen aber nichts mehr.

Die Mädchen erschienen auf dem Bahnsteig; sie blieben, da sie die Herren gewahrten, in einiger Entfernung stehen. Nur ein verstohlenes Kopfnicken tauschte Romeo mit ihnen. Franz Maria Lotters Gehaben verriet wachsende Ungeduld. »Welche hat den Busen, von dem Sie sprachen?« fragte er, verstohlen hinüberblickend. Romeo lächelte ungläubig: »Na hören Sie –? Das sehen Sie nicht selbst? Die Dunkelblonde!«

Der Meister stieß einen unterdrückten, komisch klingenden Lustschrei aus, er stieß Romeo in die Rippen. Allem Anschein nach brannte er bereits lichterloh. Er wollte von Romeo nun auch immer Neues über Lotte hören.

Von Lotte drang ein silbern klingendes Lachen herüber. –

Und auch während der ganzen Fahrt, die man auf des Meisters Geheiß zur Vorsicht in getrennten Abteilen zurücklegte, holte er Romeo eingehend über alles aus, was Lotte betraf. –

Franz Maria Lotters wegen, der durch keine Versicherungen der Welt dazu zu bringen war, seine Person ›solch odiosen Brettern‹ anzuvertrauen – das märzhafte Wetter hätte das Skilaufen gerade noch zugelassen – ging man diesmal einfach spazieren. 194 Franz Maria mit Lotte voran, Romeo und Yvett folgten in einigem Abstand.

Der Meister war wie von der Leine gelassen. Romeo fand es grotesk anzusehen, wie er in Lederhosen und Pelzjacke schäkernd um Lotte herum war, sie an den Härchen im Nacken kitzelte und allerlei Albernheiten trieb. Romeo ließ die beiden nicht aus den Augen; kaum ein Wort wechselte er mit Yvett. »Das ist psychologisch nämlich überaus interessant!« sagte er, wobei er forscherhaft zu lächeln versuchte; sonst nichts.

Als aber Franz Maria plötzlich zurückblieb, um an seinen Wadenstrümpfen etwas in Ordnung zu bringen, oder sonst aus einem Grund, eilte er sogleich an Lottes Seite, um ihr mit möglichst sarkastischen Blicken auf den Meister zuzuflüstern: »Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande!«

»Ich sehe nur die Winterlandschaft!« entgegnete Lotte mit leicht vibrierenden Nasenflügeln; trotzig, hochmütig vor sich hin blickend.

Yvett trat mit dem Meister zu den beiden. Auf ihren mit nach innen gewandtem Blick lächelnd vorgebrachten Vorschlag hin vereinbarte man, sich in etwa zwei Stunden in dem gewohnten Gasthof zu treffen; dann schlug man getrennte Wege ein.

Franz Maria Lotters ausgelassene Stimmung schlug in tiefste Schwermut um, sobald er sich mit Lotte allein sah. »Galgenhumor, Fräulein Lotte!« murmelte er tragisch, mit einer unendlich mutlosen müden wegwerfenden Handbewegung. Und mit schmerzlich herabgezogenen Mundwinkeln, in herrlichen, tief 195 bewegenden Worten, wie Lotte sie sonst nur in Büchern gefunden hatte, begann er von der Einsamkeit seines Künstlerlebens zu sprechen, enthüllte er ihr all die verständnislose Geringschätzung, die er von Seiten seiner Mitbürger und – was bei weitem schmerzlicher sei – auch von Seiten seiner Familie seit jeher habe erfahren müssen. »Wundert es Sie da, Fräulein Lotte«, schloß er mit tonloser Stimme, »daß ich das einzige, letzte, was mir aus dem Zusammenbruch meines Lebens noch geblieben: mein Werk . . . daß ich es scheu vor den zudringlichen unverständigen, kalkulierend tastenden Krämerblicken meiner Umwelt verschließe? Mein Werk . . . Sehen Sie! Erst nach meinem Tod, Fräulein Lotte, wird die Welt es zu beurteilen haben.«

Der Meister verstummte. Er schritt heftig aus. Kaum vermochte Lotte mit ihm Schritt zu halten.

Auch sie schwieg. Aber in ihrem Gemüt hatte bei Franz Marias Bekenntnis ein Glockenton von schicksalbedeutender Weihe zu schwingen begonnen. War hier nicht das langersehnte aufwühlende Erlebnis: der außergewöhnliche und darum verkannte Mensch, den sie lieben werde und den ihre Liebe dann zu den höchsten eisig-erhabenen Gipfeln der Kunst emportragen würde –?

Lottes Augen umflorten sich. Wie tief doch auch sie eigentlich war! All die Munterkeit ihres Wesens – gleichfalls Galgenhumor. Eine Maske, die sie trug, um das Heiligtum ihrer Seele vor den zudringlichen, lüstern tastenden Krämerblicken ihrer Umwelt scheu zu verschließen. Ja, so war es, so und nicht anders war es immer gewesen. Doch erst dieser seltene 196 Mensch und Künstler, der jetzt, als wäre er ihr von Gott gesandt, einsam ringend an ihrer Seite dahinschritt, er hatte ihr den Blick für dieses ihr innerstes Wesen geöffnet. Zeitlebens würde sie ihm Dank dafür wissen, heißen lebendigen Dank . . . Nein, Franz Maria, von dieser Minute an stehst du nicht mehr allein; allein im Weltall . . . –

Sollte sie es ihm sagen? Gleich? Nein, noch nicht. Dieses schicksalhaft-bange Schweigen, das sie beide nun geheiligt umhüllte, sie durfte es jetzt nicht brechen mit irdisch-alltäglichen Worten. Ausreifen lassen, dies unnennbare Gefühl, in der Stille der verschneiten Waldeinsamkeit hier. Es erst eine Weile noch so, ganz für sich, auskosten. Franz Maria – –!

Franz Maria geht beklommen neben ihr, ohne sie anzublicken. Manchmal streift seine Schulter an die ihre. Dann fühlt er das eigentlich Unerquickliche an diesem inhaltreich schweigenden Nebeneinandergehn. Er fühlt es wie heißes Blut ihm in den Kopf hinauf steigen. Jetzt müßte er schon irgend etwas sagen, denkt er, gleichviel was. Er merkt, daß er durch den raschen Gang etwas außer Atem gekommen ist. In einem langen Atemzug bläst er die gestaute Luft aus den Lungen, damit er nun mit ganz ruhiger Stimme zu sprechen beginnen kann . . .

Lotte aber hört nur seinen erregten stockenden Atem. Sie erschauert in süßbanger Erwartung.

Franz Maria findet nichts, was er ihr sagen könnte, nichts, was er in diesem Augenblick sagen könnte, ohne trivial zu wirken. Denn was ihm blitzartig auch immer durch den Kopf geht, er verwirft es alsogleich. Es ist ihm, als hätte er, und auch Lotte 197 vielleicht, es in einem schlechten Roman schon gelesen. Etwas Gewöhnliches Konventionelles aber darf es nicht sein, jetzt, auf seine aufwühlende Beichte hin, unter keinen Umständen. – Er lauscht auf Lottes leichte Schritte an seiner Seite. Er verbietet es sich, ihren Schritten zu lauschen, bevor er etwas Geeignetes gefunden hat. Eine widrige Verlegenheit überkommt ihn. Er hätte Lust, laut nach Luft zu schnappen, sich auf der Erde zu wälzen, von einem starken Vieh angefallen zu werden – ein scheußliches Tier, in dessen Augen er seine Daumen . . .!! Er sieht rot.

Abermals streift seine Schulter an die ihre. Er zuckt leicht zusammen. Fast unangenehm wirkt die Berührung diesmal auf ihn. Diese Feststellung beruhigt ihn für Sekunden. Was geht ihn die Göre da eigentlich an –? Lächerlich. Er wird jetzt, ohne allen Zusammenhang, ganz einfach von nebensächlichen fernliegenden Dingen zu sprechen beginnen – warum könnte er das nicht? Und zwar gleich, sofort.

Doch nichts, nicht das geringste will Franz Maria einfallen. Es ist ihm, als sei sein Hirn ein Brei, ein rotierender Brei. Ein widriges Angstgefühl durchdringt ihn, preßt ihm die Kehle zusammen, quetscht Feuchtigkeit aus seinen geballten Fäusten. Unerträglich ist dieses Gefühl, qualvoll. Jetzt hat er ganz deutlich den Eindruck, seine Nerven kreischen zu hören, so etwa, als kratze einer mit einem schartigen Stück Stahl über Porzellan. Sein Gang wird unsicher. Er bemerkt, daß er mit Lotte nicht Schritt hält; hastig wechselt er den Schritt.

Lotte spürt, daß Franz Marias Brust von heftigen Gefühlen durchtobt wird. Sie spürt den 198 Leidenschaftsausbruch herannahen. Geängstigt und gierig zugleich, fühlt sie den stockenden Herzschlag eines schwülen Schweigens in der Luft.

Ein Wort, ein Anfang, um Gotteswillen! – hämmert es Franz Maria in den Schläfen. Es handelt sich doch bloß um ein Wort, ein einziges Wort, um das allererste! Sobald es gesprochen ist, geht alles von selbst weiter! Wo findet er's bloß, dieses eine Wort? Um Himmelsgotteswillen, was ist denn heute mit ihm los?! Er ist doch sonst nicht auf den Mund gefallen! »Im Anfang stand das Wort« – geht es ihm durch den Kopf. Wütend beißt er die Zähne zusammen. Zum Teufel, wenn ihm jetzt alle möglichen blöden Zitate einfallen sollten, statt eines Anfangs –! Er muß, muß jetzt etwas sagen, jetzt sogleich, auf der Stelle, ja! Etwas Bedeutungsvolles und doch Unverbindliches, was sein langes Schweigen erklärt. Sonst müßte Lotte ohne Zweifel den Eindruck gewinnen, daß er sie liebe und nur nicht wisse, wie es ihr sagen. Er wird sich zu allem noch lächerlich machen vor dem jungen Mädchen! Lacht sie nicht bereits verstohlen?! – Franz Maria wagt nicht, sie anzublicken.

Lotte lächelt. Verloren, verträumt vor sich hin. Sie fühlt sich Mutter. Mutter des lieben großen Kindes da an ihrer Seite, zu dem sie den Blick nicht zu heben wagt, aus Furcht, sie könnte den Reifeprozeß seiner innersten Gefühle dadurch hemmen. Wie sicher er im Anfang war – erinnert sie sich voll Rührung – wie keck geradezu. An den Härchen am Nacken hatte er sie gekitzelt. Und jetzt . . . Wie schwer es ihm wird, das erlösende Wort auszusprechen. – Sie möchte ihm beistehen, ihm in seinem Ringen Verbündete 199 sein und doch wieder nichts missen von diesen süßbangen Augenblicken zweifelnder Gewißheit.

Er neben ihr fühlt sich festgefahren in uralten stählernen Geleisen. Wie diesen qualvollen Zustand, dieses entsetzliche blamable Schweigen beenden, wie es beenden, um Himmelsgotteswillen?! – denkt er verzweifelt. Ach was, er wird jetzt einfach von etwas völlig Gleichgiltigem zu reden beginnen, ja, das wird er. Mit betonter Trivialität wird er reden. Kann ja Absicht sein! Sie kann sich doch ganz einfach in seinen Gefühlen geirrt haben, nicht? Er kann doch ganz einfach ein Träumer sein, der an völlig fernliegende Dinge gedacht hat, während er schweigend neben ihr herging. Er kann doch . . . ganz einfach . . . – Ja! Ja!!! Alles gut und schön! Wenn ihm so etwas Einfaches Gleichgiltiges eben nur einfallen wollte!! – – Nein, zu spät! Schon zu spät! Dieses verfluchte inhaltsreiche Schweigen währt nun bereits zu lange, als daß er jetzt noch in ein allgemeines Gespräch zurücklenken könnte, ohne sich ganz scheußlich vor dem jungen Mädchen zu blamieren. Jetzt muß er, unter allen Umständen, etwas ganz und gar Seltenes Metaphysisches sagen. Er öffnet den Mund wie zum Sprechen. Er schließt ihn hastig. Denn mit der zermalmenden Glätte einer Riesenschlange legt sich etwas Unnennbares von neuem um seine Brust, preßt ihm die Kehle zusammen. Seine Hände, in den Taschen zu Fäusten geballt, sind feucht. Er verwünscht sich, verwünscht diesen ganzen elenden Tag. Ein Wort! – betet er – nur ein Anfang . . .!!

Lotte lächelt nicht mehr. Wohl fühlt sie noch immer, daß neben ihr ein ungeheuerliches Gefühl nach 200 Äußerung ringt. Doch die Gewißheit schwindet ihr hin, daß Franz Maria das aussprechen wird, was ihn bewegt. Um so mehr, als man jetzt doch sehr bald zu dem Gasthof gelangen und dort die anderen treffen wird. Sollte sich dann aber nochmals Gelegenheit zu einer Aussprache ergeben? Wahrscheinlich nicht . . .

Jetzt empfindet auch Lotte dieses riesenhaft erregte Schweigen plötzlich als unheimlich, unerträglich. Inbrünstig wünscht sie, es möge zu Ende gehn.

Zaghaft wendet sie Franz Maria den Kopf zu. Der sieht sie nicht, stiert mit einem merkwürdig leeren Blick vor sich hin, setzt wie mit Anstrengung Fuß vor Fuß. Wie ein alter Ritter in Rüstung geht er. Auf seiner Stirn perlt der Schweiß.

Lotte erschrickt über die krasse Veränderung in seinem Aussehen. Nein, sie muß ihm zu Hilfe kommen, sie selbst muß das erlösende Wort sprechen! Vielleicht bereitet ihm, dem feinfühligen silberhaarigen Künstler, nur der beträchtliche Altersunterschied zwischen ihr und ihm unnötig Sorgen. Ja, das wird es wohl gewesen sein, was ihn am Sprechen hinderte, nichts anderes. Ach, das große liebe silberhaarige Kind!

Lotte preßt ihre Nägel in die Handballen; sie gibt sich einen Ruck. Ihr Herz pocht hörbar, als sie jetzt stehen bleibt, ihre Hand zaghaft auf den Arm des Meisters legt, ihn aus blassem Gesichtchen tiefernst in die Augen blickt und mit zitternder, leicht belegter Stimme, doch unendlich innig die beiden Worte ausspricht: »Franz Maria!«

Lottes Stimme schlägt wie aus dem Telefon an Franz Marias Ohr. Er erschrickt heftig, bekommt 201 einen hochroten Kopf. Aufs äußerste beunruhigt irrt sein Blick über den Waldboden hin.

Lotte tastet nach seiner Hand, führt sie an ihr pochendes Herz. Verhalten, den Blick irgendwo seitwärts, stammelt sie, inhaltschwer: »Und glauben Sie, Meister, daß in Ihrem Leben . . . einer Frau eine Aufgabe erwachsen könnte?«

Der Blick, mit dem Franz Maria sie jetzt anstarrt, hat etwas vom Blick des Wildes an sich, das sich von Jägern umstellt sieht. »Frau« . . . Mit aller Kraft sucht er das lähmende Erschrecken zu meistern, das ihn bei dem Wort Frau überfällt. Seine gesamte Existenz fühlt er bereits wanken und krachend zusammenstürzen unter der Intensität des Seelenbunds, den er da leichtfertig hergestellt hat. Doch als wäre sein Erschrecken nichts als tiefste Ergriffenheit, so blickt er Lotte durch die scharfgeschliffenen Zeißgläser jetzt voll in die Augen. Und im Tonfall düsterster Schwermut verkündet er, stockend, abgerissen: »Zu spät, Fräulein Lotte. Früher einmal, vor langer Zeit – ja! Heute nicht mehr. Zu spät.« Er preßt Lottes Hand, stößt die Hand von sich, macht Kehrt und schreitet heftig aus. Als müßte er sich gewaltsam von Bildern losreißen, die seinen Geist verführerisch lockend umgaukeln.

Schweigend legen sie den Rest des Weges zurück. Lotte in der Haltung einer innerlich Ringenden.

*

Yvetts Spaziergang mit Romeo verlief qualvoll. Kein Zweifel mehr, er liebt Lotte. Was sie immer befürchtet hatte, es war eingetreten. Warum, o Gott, 202 war sie so schwach gewesen und hatte Lottes Hilfe in Anspruch genommen! Sie hatte doch gewußt, wie das enden würde. Wäre es da nicht besser, tausend Mal besser gewesen, sie hätte Romeo nie mehr gesehen? Dann hätte sie aus dem Zusammenbruch doch wenigstens eines gerettet: das Bewußtsein, nur durch äußere Umstände von dem geliebten Jungen getrennt worden zu sein. Nun war's zu spät. Romeo verriet sie. Um Lottes willen verriet er sie. Diese Schlange! Ja, vom ersten Augenblick an hatte Romeo Lotte geliebt. Und sie ihn! Verstellung, nichts als Verstellung – seine kühle, nahezu verletzende Reserve Lotte gegenüber. Keinen anderen seiner Freunde hatte er mitzubringen gewagt als diesen konfusen Steinmetz in Lederhosen und Steirerhütl. Aus Angst, Lotte könnte sonst für ihn selbst verlorengehen. Oh, sie sah nun klar, verzweifelt klar!

Vom ersten Augenblick an, da sie sich von Lotte und Franz Maria Lotter getrennt hatten, war Romeo einsilbig, nahezu geistesabwesend gewesen. Und zwang er sich zeitweise auch zu einer Äußerung, so betraf diese doch immer nur Lotte. »Ich möchte wirklich zuhören wollen, was die beiden sich erzählen!« hatte er mit dem scheinheiligen Versuch, pfiffig zu lächeln, mindestens dreimal ausgerufen. Auch hatte er unentwegt auf die Uhr geblickt. Und als man sich noch kaum drei viertel Wegstunden von den anderen entfernt hatte, murmelte er bereits, nun müsse man bald an den Rückweg denken. Mit zerstreuten Blicken hatte er dann plötzlich den Arm um sie, Yvett, gelegt. Aber da hatte sie, weil sie doch ohnehin schon so lange Zeit mit aller Kraft gegen die aufsteigenden 203 Tränen ankämpfen mußte, seinen Arm von sich geschoben, stumm und sanft. Trotzdem hatte er das sogleich zum Anlaß genommen, um beleidigt nun gänzlich zu verstummen. Zwar war er, als sie sich dem Gasthof näherten, plötzlich wieder auffallend bemüht gewesen, seine unentwegte gedankliche Beschäftigung mit den beiden Abwesenden – was er ja doch nicht zu leugnen vermochte – als ein rein sachliches Interesse hinzustellen, der Verräter. »Wie gesagt, ich mache eben bei allem und jedem stets meine psychologischen Studien«, hatte er betreten gemurmelt. Schon gut! Das mochte er einer anderen einreden, nicht ihr! Sie wußte nun Bescheid, was es mit seinen »psychologischen Studien« auf sich habe. – Trotzdem hatte sie diesen Gedanken nicht ausgesprochen; im Gegenteil, sie hatte Romeos Erklärung nur mit einem feinen wissenden Lächeln quittiert. Aber nun mußte er doch bemerkt haben, daß sie sehr blaß und erregt war, denn plötzlich ließ er betreten auch von diesen Versicherungen seines »rein sachlichen Interesses« ab. Gewiß: sachlich . . . Aber sie wußte auch, was das für eine Sache war, der sein Interesse galt. Und schließlich hatte er, abschließend, im Ton einer starken Gereiztheit nur noch etwas völlig Albernes gebrummt. »Na ja, man überzeugt sich eben auf Schritt und Tritt davon, welch enge Grenzen dem weiblichen Intellekt gezogen sind«, oder so etwas hatte er gebrummt. Schon gut. Sie wußte nun Bescheid. Ach . . .!

*

Lotte und Franz Maria betraten als erste den nahezu leeren Gasthof.

204 Mit beseelt schimmernden Perlmutteraugen betrachtete Lotte den einsamen verkannten Meister, der hastig, mit wildem Appetit, wie es schien, eine Mahlzeit zu sich nahm. Sie selbst aß langsam und wenig. Ein freudiges mütterlich-bewegtes Glück klang aus ihrer Stimme, als sie plötzlich die Hand auf den Arm des Essenden legte und ihm mit feuchten Augen zuflüsterte: »Solche Spaziergänge müßten Sie öfters machen, Meister. Das würde Ihnen immer solch guten Appetit machen und Kraft für Ihr weiteres Schaffen verleihn.«

Franz Maria hielt im Essen inne. Hastig schlang er den Bissen, den er im Mund hatte, hinunter. Den Kopf schief über den Teller geneigt, starrte er Lotte eine Sekunde entsetzt an. Dann glitten Schatten von Trauer über sein Gesicht. »Kann ich denn das, Lotte?« murmelte er. »Ich habe nicht weniger als vier Wohnungen leer stehen!« Unsäglich mutlos klang es. Und hastig, mit schmerzlich herabgezogenen Mundwinkeln wandte er sich von neuem dem Essen zu.

Lotte schloß die Lider. Also selbst drückenden Geldsorgen war der verehrte Meister zu allem noch ausgesetzt! Ewiges Künstlerschicksal. Wie hatte es sie bei der Lektüre von »Beethovens Leben« kürzlich erschüttert, zu Tränen der Wut gegen die fühllose seichte Umwelt erschüttert. Und nun vollzog sich ebensolch düster-trauriges Künstlerlos hart neben ihr, an ihrer Seite. Wie konnte sie selbst da nur ans Essen denken! – Mit einer leidenschaftlichen Bewegung schob sie den Teller von sich; am liebsten hätte sie auch das Stückchen Rostbraten, das sie gerade im 205 Mund hatte, auf den Teller zurückgelegt; fast konnte sie's nicht mehr hinunterwürgen.

Der Meister blickte von der Seite her kurz auf Lottes Teller. »Wie? Sie wollen nicht mehr essen? Essen Sie doch!«

Lotte schüttelte bloß stumm, lächelnd-leidend, den Kopf.

»Aber ist doch Unsinn! Sie können doch noch nicht satt sein? Essen Sie, Lotte!«

Mit schwachem Lächeln schüttelte Lotte verneinend den Kopf.

»Lächerlich!« knurrte Franz Maria. »Dann werd ich es eben essen. Sie wollen wirklich nicht mehr –?«

In Lottes Augen leuchtete ein überirdisches Glücksempfinden auf. Demütig, mit bittender Gebärde schob sie Franz Maria den Teller zu. »Essen Sie, Meister«, hauchte sie mit zärtlich verlöschender Stimme. –

Als Romeo und Yvett die Gaststube betraten, bemühte sich Franz Maria sogleich, eine erzwungene Lustigkeit zur Schau zu tragen. Seine Tragik – die sollte Lotten allein gehören. Lotte verstand es auch richtig und wußte ihm dafür Dank, heißen Dank. Hob sie das Geheimnis dieses heiligen Seelenbunds nicht mit einem Schlag über all die trivialen Lebensniederungen empor, in denen auch Yvetts Liebe zu diesem . . . Romeo lag? Was für ein bedeutungsloser, protzig gescheit tuender Durchschnittsjunge das doch eigentlich war. Das erkannte sie jetzt erst so richtig, wenn sie ihn mit diesem gereiften wunderbaren Menschen und Künstler verglich. Doch nein . . . Sie wollte nicht ungerecht, nicht undankbar sein. War es 206 schließlich nicht Romeo gewesen, der den Meister ihren Lebensweg hatte kreuzen lassen?

*

Zurück in der Stadt, verbrachte Franz Maria mit Romeo noch einige Stunden im »Kakadu«. Romeo sah, daß der Meister merkwürdig aufgeräumt und unruhig war. Lange Zeit sprach er scherzend von nichts anderem als von Lottes Brüstchen. Das berührte Romeo eigentlich unangenehm. Doch mit frivolem Eifer ging er lebemännisch auf das Thema ein; Franz Maria Lotter würde ihn sonst am Ende für einen Mucker gehalten haben. Allmählich verdroß es ihn jedoch, daß Franz Maria mit keinem Wort, keiner Silbe auch auf Yvett zu sprechen kam. War die etwa gar nichts? Und keiner Erwähnung wert? Von ihr mehr als das Leben geliebt zu werden, darauf brauchte man sich am Ende wohl gar nichts einzubilden? Wohingegen Franz Maria Lotter in seiner unerträglichen geheimniskrämerisch-triumphalen Weise nun auch anzudeuten begann, daß zwischen ihm und Lotte sich manches Bewegende ereignet habe. Das war eine Lüge, war ganz gewöhnliche Aufschneiderei von dem bourgeoisen Lüstling! Er log! Nichts, gar nichts, ein Dreck hatte sich zwischen ihm und Lotte ereignet! Die wußte gewiß etwas Besseres, als sich mit einem weißhaarigen Steinmetzkünstler einzulassen!

»So, hm, na also, ich gratuliere«, murmelte Romeo mit einem festgefrorenen Lächeln.

Doch als Franz Maria zum Überfluß nun noch wohlwollend-belehrend feststellte, es sei eine alte Tatsache, ganz junge Mädchen flögen auf reife Männer, da 207 vermochte Romeo nicht länger an sich zu halten. Er lächelte – unsäglich besserwissend, skeptisch lächelte er – und mit möglichst vielsagender diskreter Miene deutete er nun seinerseits an: er kenne Lotte doch schließlich viel länger, und sie sei ihm gegenüber auch alles nur nicht zurückhaltend gewesen, ganz im Gegenteil; aber für ihn käme sie leider nicht recht in Betracht. Denn bei ihm, müsse der Meister wissen, sei in erster Linie das ethische Moment ausschlaggebend. Und in diesem Punkt stehe Yvett nun allerdings häuserhoch über der Lotte. Wenngleich er damit ja nicht gerade zum Ausdruck bringen wolle, daß Lotte sonst nicht ein ganz passables Mädchen sein möge. Aber, wie gesagt, für ihn als Ethiker . . . – nun, der Meister verstehe schon. Übrigens könne der Meister sich in seinem – wie soll man sagen – wohlgeordneten Gefühlsleben, das eben das Gefühlsleben der Vorkriegsgeneration sei, doch in gar keiner Weise mit dem um so vieles komplizierteren, feiner differenzierten Seelen- und Sinnenapparat eines jungen Mannes von heute vergleichen! Offenbar entgehe es dem Meister auch, daß Yvett im Verborgenen gewisse erotische Vorzüge der Lotte voraushabe, von denen zu sprechen sich für ihn, Romeo, als Ehrenmann nur leider vollkommen ausschließe, aber da würde der Meister seine blauen Wunder erleben! Wahrhaft dämonisch sei sie, Yvett, und . . . – na, genug davon, wie gesagt. Aber das wisse eben nur er, Romeo, allein.

Romeo schwieg. Er lächelte nur noch, wie in geheimen verbotenen Nachgenüssen schwelgend, vor sich hin. Mit arger Verstimmung mußte er jedoch 208 feststellen, daß seine Andeutungen ohne den geringsten Eindruck auf den Meister geblieben waren. Der schien ihm überhaupt nicht zugehört zu haben; er lachte mit hochrotem Kopf gerade wollüstig hinter einem vorübergehenden, spärlich bekleideten Animiermädchen her und hielt im übrigen unentwegt nach dem Kellner Ausschau. Als er eines Kellners endlich habhaft wurde, bestellte er händereibend russische Eier mit einem Gläschen Wermut für sich.

Schweigend saßen die beiden einander nun gegenüber, und Romeo blieb nichts zu tun übrig, als finster und heftig an seinem elenden Glase Bier zu saugen, während er den Meister – immer noch mit dem gewissen geheimniskrämerischen Triumph in den Augen – tafeln sah, wobei er ihn zeitweise kurze wollüstige Lachtöne ausstoßen hörte, denen keine Erklärung nachfolgte.

»Na, jetzt könnten wir aber allmählich ans Schlafengehn denken, sind Sie nicht müde?« äußerte Romeo mit etwas belegter Stimme.

»Ja, einen Augenblick noch!« gab Franz Maria kauend zurück.

Er hatte die Mahlzeit beendet, schob den Teller von sich. Er blickte Romeo an. In einer Regung von spontaner warmer Herzlichkeit legte er seine Hand auf Romeos Faust. »Herr Reif«, sagte er mit seltsamem Nachdruck, »es war ein schöner Tag! Wie selten einer in meinem Leben. Ich fühle in mir das Bedürfnis, mit Ihnen du und du zu werden. Würden Sie mir diese Gunst gewähren?«

Romeo war fassungslos. Er hatte noch nie zu einem Mann mit silbern schimmerndem Haar »du« gesagt. 209 Und nun gar zu einem Angehörigen der ältesten angesehensten Parizierfamilie in der Stadt, der noch dazu ein bedeutender Künstler war. Welche Auszeichnung! Und der Meister bezeichnete es sogar als eine Gunst, wenn Romeo fortan ›du‹ zu ihm sagen würde . . . Das war doch zuviel, zuviel. »Aber Meister! Wie können Sie fragen«, stammelte Romeo, »es ist mir natürlich eine Ehre, eine große unverhoffte und unverdiente Ehre!«

»Na also dann: Glück auf, Romeo, heil dir, du –!« lachte der Meister warmherzig und küßte Romeo auf die Wange.

»Heil dir, Franz Maria . . .«, gab Romeo ihm den Kuß zurück, grenzenlos verwirrt.

Der Meister rief den Kellner herbei, er bestellte zwei weitere Gläschen Wermut. »Das müssen wir begießen, Romeo!« rief er aufgelöst. Er vertrug keinen Alkohol.

Romeo war über die Maßen glücklich. Er überhäufte Franz Maria mit Schmeicheleien, wobei er seiner Stimme einen tiefen männlichen Klang zu geben suchte. Und da ihm schließlich nichts anderes mehr einfallen wollte, log er, Lotte habe ihm beim Abschied noch rasch zugeflüstert, jede Minute, die man mit Franz Maria verbringen dürfe, sei ein Gnadengeschenk des Himmels. Überhaupt suchte er sich in jeder erdenklichen Weise Franz Maria angenehm, ja unentbehrlich zu machen; wobei er seine Sätze so anlegte, daß möglichst viele »du« und »lieber Freund« darin vorkamen.

Sie tranken. Mit ineinander verschlungenen Armen.

Ein quälend bitterer Tropfen im Becher der Freude und des Stolzes war für Romeo allein der Umstand, 210 daß er jetzt nicht auf den Tisch schlagen und ausrufen durfte: »Lieber Freund, jetzt wirst du aber mir die Gunst gewähren, zwei Gläschen Malaga zu bestellen! Du!« Seine Barschaft ließ es nicht zu. Fiebrig überlegte er gerade, ob er nicht hinausgehn und dem Zahlkellner seine Uhr als Pfand anbieten könnte, da erhob sich Franz Maria leicht schwankend bereits vom Tische. »Kommen sie . . . äh, was sage ich! Komm, Freund«, murmelte er, »bring den greisen Meister nach Hause.«

In einer heißen Aufwallung von freudiger Genugtuung stand Romeo, als der Meister längst die Stiegen hinaufgetorkelt und auch das Licht im Treppenhaus längst erloschen war, immer noch vor Franz Maria Lotters Patrizierhause am Marktplatz. »Ein neuer wahrer Freund ist ein Gnadengeschenk für den Mann«, hatte der verehrte Meister zum Abschied gesagt, und er hatte Romeo lang und bewegt dabei die Hand gedrückt.

Und auch nachher noch, in seinem Bett, konnte Romeo vor freudiger Erregung keinen Schlaf finden. Kein einziger seiner fiebrigen Gedanken galt Lotte und Yvett. Die Mädchen schienen ihm mit einem Mal unsagbar nebensächlich. Alle seine wachen Gedanken kreisten um den Freund, den Patrizier und Künstler, Franz Maria.

*

In den ersten Morgenstunden wurde Romeo von der Mutter aus dem Schlaf geweckt: Feuer sei ausgebrochen. Auf dem Marienplatz wahrscheinlich. Ob er denn die Signale und den Lärm nicht höre?

211 Unwillig warf sich Romeo auf die andere Seite. Sie solle ihn schlafen lassen, er sei doch kein Feuerwehraspirant. Man werde den Brand auch ohne ihn löschen! – brummte er schlaftrunken.

Spät am Vormittag trat die Mutter mit dem Kaffee ins Zimmer. »Weißt du, wo es gebrannt hat?« rief sie mit weinerlichem Gesicht schon von der Tür. »Bei dem närrischen Lotter.«

»Bei wem?« fuhr Romeo in die Höhe.

»Bei dem Bildhauer Lotter. Es ist aber nicht viel passiert. Nur das Dach mit den beiden Mansardenzimmern ist abgebrannt.«

Romeo fuhr mit beiden Füßen aus dem Bett. »Was?!« stammelte er »Weißt du das sicher?!«

»Na, ich hab's doch gesehn! Ich war doch schon zweimal auf dem Platz. In aller Früh, wie's gebrannt hat, und vorhin wieder. Jetzt raucht es nur noch ein wenig und stinkt. Die Leute sagen, er selbst soll's angezündet haben.«

»Wer?« stammelte Romeo.

»Er selbst! Der närrische Lotter.«

»Ja warum sagst du denn in einem fort der närrische Lotter?!« schrie Romeo die Mutter an.

»Die Leute sagen's. Er soll Petroleum über den Fußboden der Mansardenstuben ausgeschüttet haben. Er stellt es allerdings in Abrede. Aber angeblich war er doch vollkommen angekleidet, als der Brand ausbrach. Folglich kann er um die Zeit noch gar nicht im Bett gewesen sein. Denke nur: um vier Uhr morgens.«

»Entsetzlich!« murmelte Romeo, und in größter Hast fuhr er in die Kleider.

212 »Was ist entsetzlich? Wohin willst du denn, Romeo?« fragte die Mutter bange, mit leicht bebenden Lippen.

»Na ich bitte dich, da sind doch seine ganzen Werke mit verbrannt! In der Mansarde hatte er doch das Atelier!« schrie Romeo.

»Du glaubst, daß er Werke hatte? Er soll doch nie etwas gemacht haben.«

»Schweig mit diesem Altweiberklatsch!« brüllte Romeo, indem er sich mit erregten Fingern die Krawatte band. »Überhaupt verbiete ich dir – hörst du? – von meinem Freund in diesem Ton zu sprechen!«

»Von deinem Freund?« wiederholte die Mutter verständnislos, mit zitternden Lippen. »Er ist . . . dein Freund? Der Franz Lotter?«

In Romeos Augen funkelte gerechte zermalmende Empörung. »Jawohl! Mein Duzfreund! Mein bester Freund!« Er stürzte aus dem Zimmer, schlug die Tür hinter sich zu.

Die Mutter eilte ihm ins Treppenhaus nach. »Wohin Romeo? Was hast du denn?« rief sie weinerlich hinter ihm her. »Komm der Brandstätte ja nicht zu nahe! Es könnte ein Balken herunterfallen!«

»Quatsch«, rief Romeo versöhnlicher und jagte die Treppen hinab.

Atemlos kam er auf dem Marienplatz an. Tatsächlich! Das ganze Dach fehlte an Franz Marias Haus; zwei schwache dünne Rauchsäulchen stiegen noch aus dem Gebälk empor. Sonst bot der Platz kein verändertes Bild. Nur ein paar Leute standen in der Nähe des Hauses debattierend beisammen. Romeo konnte es kaum fassen, daß alle die übrigen 213 Menschen ruhig, als wäre nichts geschehen, ihrer Beschäftigung nachgingen.

Beim Überqueren des Platzes schrak er plötzlich zusammen. Stand dort nicht Lotte –?! Er hielt eine Sekunde inne.

Eilig näherte er sich ihr. »Was sagen Sie, Fräulein Lotte!« rief er ihr aufgeregt entgegen. »Fürchterlich. Der arme Franz Maria.« Er ergriff und preßte ihre Hand.

Lotte war blaß und erregt. »Ich konnte ihn noch nicht sprechen«, sagte sie leise, den Blick am Boden. »Aber ich glaube, seine Werke . . . das Werk seines ganzen Lebens ist vernichtet.« Sie hielt inne, biß sich auf die Lippe. Romeo wandte den Blick nicht von ihren Lippen. Wie beseelt ihr Gesichtchen heute war!

»Wollen Sie mit mir hineingehen?« fragte sie mit leicht belegter Stimme, doch ohne Romeo anzublicken. »Wir wollen versuchen, ihn zu sehen, zu sprechen.«

Vor der Haustür standen ein Schupo und ein Feuerwehrmann. »Was wünschen Sie?« fragte der Schupo, als sie das Haus betreten wollten.

»Herrn Lotter wollen wir sprechen. Wir sind seine nächsten Freunde«, gab Romeo leicht errötend zur Antwort. Der Polizist ließ sie passieren.

Im Hausflur blieben sie stehn, denn sie hatten soeben Franz Marias Stimme vernommen, oben auf der Treppe. Und eine andere männliche Stimme. Die Stimmen näherten sich. Am Fuß der Treppe schienen die beiden Herren stehnzubleiben. Romeo strengte sich an, etwas von dem Gespräch zu erlauschen. »Also, wie gesagt, Herr Lotter«, hörte er 214 den anderen sagen, »wenn Sie keinerlei Ansprüche an die Gesellschaft stellen wollen, in bezug auf die versicherte Summe, dann hoffen wir eine Untersuchung hintanhalten zu können. Um so mehr als der Brand, wie Sie sagen, nur durch Ihre eigene Unvorsichtigkeit entstanden ist – behalten Sie das gut im Gedächtnis – und Sie ganz allein das Haus bewohnen . . . das Dienstpersonal schläft im Nebenhause, nicht wahr? So daß die körperliche Sicherheit keiner Person durch den Brand gefährdet war.«

Nun trat Franz Maria an der Seite eines älteren Herrn auf den Gang heraus. Er war feierlich-dunkel gekleidet, sein Gesicht war ein wenig blässer als sonst, doch ruhig und gefaßt; es hatte einen merkwürdig vergeistigten Ausdruck. Jetzt bemerkte der Meister Lotte und Romeo. Er nickte ihnen kurz, doch nicht unfreundlich zu, geleitete den Herrn bis zu Haustür, verabschiedete sich, kam zurück.

»Franz Maria«, rief ihm Romeo mit stockendem Atem entgegen und preßte mit beiden Händen seine Hand, »mein armer guter Freund! Wie kann ich dich meines innigsten Mitgefühles versichern! Du kannst mir glauben . . .«

Franz Maria erwiderte Romeos Händedruck, entzog ihm die Hand jedoch sogleich, um nun mit beiden Händen Lottes Hand zu umschließen. Lotte hatte Tränen in den Augen. »Fräulein Lotte«, murmelte Franz Maria Lotter, den Blick irgendwo an der Mauer, »ich wußte es, daß Sie kommen würden. Schicksal, Fräulein Lotte, kein Zufall! Sehen Sie: jetzt, da kein Werk mehr von mir existiert und auch keines mehr existieren wird, jetzt kann ich es aussprechen, was 215 ich gestern, und niemals überhaupt, auszusprechen vermochte. Heute, um vier Uhr morgens, schlug der Welt eine Schicksalsstunde. Ich weiß es nicht, doch ich ahne dunkel, daß das Werk des größten bildenden Künstlers . . . vielleicht des Jahrhunderts . . . heute um vier Uhr morgens für immer und unwiederbringlich verlorenging. Kein Sterblicher – außer dem einen, der es geschaffen – hat je es erblickt. Eine unbekannte höhere Macht muß es so gewollt haben. Ich beuge mich ihrem Willen. Mögen nun auch meine Zeitgenossen sich dieser Vorsehung fügen.« Noch einmal preßte er Lottes Hand, während er ihr durch die scharfgeschliffenen Zeißgläser tief in die Augen blickte. Seine Augen hatten – sonderbar – einen beinahe triumphalen, freudig erleichterten Ausdruck. Dann nickte er auch Romeo noch einmal flüchtig zu und stürzte davon, die Treppe hinauf.

Aus Lottes Kehle drang ein verhaltenes Schluchzen. Langsam, mit unsicheren Schritten ging sie zur Tür.

Romeo folgte ihr in einem seltsamen Gemisch von Ergriffenheit und Gereiztheit. Franz Maria bedauerte es wohl, mit ihm du und du geworden zu sein? Hatte der Meister nicht mit Absicht jedes Gespräch mit ihm vermieden, nur damit er ihm vor Lotte nicht »du« zu sagen brauchte –?

»Ich kann mir nur das eine nicht erklären . . .«, wollte Romeo draußen, auf dem Platz, eben zu sprechen beginnen, da sah er, daß Lotte gepeinigt zusammenzuckte. Na, na! War ihr seine Stimme etwa unangenehm? Auch recht! Flüchtig berührte sie mit 216 den Fingerspitzen seine Hand, flüsterte etwas, wie »jetzt allein sein«, und entfernte sich wankend, in der Haltung einer innerlich Ringenden.

Über Romeos Stirn flüchtete eine dunkle Röte. Er blickte ihr nach. »Na, na! Diese Gemütstiefe –! Klimbim, abgeschmackter!« murmelte er ingrimmig vor sich hin und stürzte in entgegengesetzter Richtung davon.

*

Am nächsten Tag sprach man in der Stadt von nichts anderem als von dem Artikel über den Brand im Hause Franz Maria Lotters, den die »Umschau« am Morgen in großer Aufmachung auf der zweiten Seite veröffentlicht hatte. Die »Umschau« erschien nur einmal in der Woche und wurde von einem übel beleumundeten Menschen redigiert, den man sogar gewisser Bestechungs- und Erpressungsaffären verdächtigte. Obwohl dieses Blatt – zu dessen Mitarbeitern übrigens nur die peripheren Unzufriedenen Mißgünstigen zählten und in welchem sogar einmal ein Angriff auf die Person des Doktors Freißler als Volksbildner erschienen war – obwohl dieses Blatt nur wenig verbreitet war, hatte die Kenntnis von dem Artikel sich in den Vormittagsstunden doch wie ein Lauffeuer in der Stadt verbreitet. Überall, auf der Straße, auf dem Markt, in den Geschäften, Gaststätten und Friseurläden und daheim in den Familien, wurde der Artikel heftig erörtert und auf die verschiedenste Art kommentiert. »Ein unersetzlicher Verlust für die Kunstwelt« lautete in fetten Riesenlettern die Schlagzeile. Und: Das 217 Lebenswerk des heimischen Bildhauers Franz Maria Lotter durch Brand vernichtet«, der Untertitel. In zwei ganzseitigen Spalten wurde sodann die Bedeutung des Bildhauers F. M. Lotter gewürdigt. »Jeder, der sich in dieser amusisch-materialistischen Zeit noch Sinn und Herz für die Bedeutung der Kunst bewahrt hat«, begann der Artikel, »ist sich klar darüber, daß gestern, um 4 Uhr morgens, der Welt eine Schicksalsstunde schlug. Heute, da eine unbekannte höhere Macht, deren Willen und Vorsehung wir Zeitgenossen uns beugen müssen, es gewollt hat, daß von den Werken F. M. Lotters, dieses weltabgewandten begnadeten Menschen und Künstlers, kein einziges mehr existiert und wohl auch nie mehr eines existieren wird – heute können wir es von dieser Stelle aus offen aussprechen: durch diesen Unglücksfall ist das Werk des größten bildenden Künstlers vielleicht des Jahrhunderts für immer und unwiederbringlich verlorengegangen. Ein Verlust, der nicht allein unsere engere Heimat, vielmehr die gesamte Kulturwelt aufs schmerzlichste trifft. Wohl nur ganz wenige eingeweihte Kunstkenner hat F. M. Lotter, der gemeinhin Verkannte, der hohen Auszeichnung gewürdigt, seiner Werke ansichtig zu werden; doch diese wenigen Kundigen wissen dafür um so besser, welch unschätzbare Werte da in Verlust geraten sind.« Und in diesem Ton ging es weiter. – Was für ein neuer Fischzug im Trüben des Herrn Redakteurs der »Umschau« mochte wohl dahinterstecken? – Die Meinungen darüber waren geteilt. Zwar gab es nun bereits viele, die ihre Stimme erhoben und laut erklärten, die Stadt habe sich an dem größten 218 heimischen Künstler schwer versündigt, und die kritiklos überhaupt all das nachschwatzten, was in dem geschwollenen Artikel darinstand; aber die überwiegende Mehrzahl bewahrte trotzdem ruhiges Blut und bezeichnete das ganze als einen Trick, der Franz Maria Lotter wahrscheinlich ein nettes Sümmchen gekostet haben mochte.

Unruhig begannen die verständigeren besonneneren Elemente erst am darauffolgenden Morgen zu werden, als auch der überall gelesene »Rietheimer Stadt- und Land-Anzeiger« einen Artikel brachte, der, wiewohl in weniger geschwollenen Ausdrücken, ungefähr doch das gleiche sagte. »Der in eingeweihten Kunstkreisen überaus geschätzte heimische Bildhauer . . .«, und so ging es weiter. War also am Ende doch etwas an Franz Maria gewesen? Man hatte es doch schon immer gesagt. Nur die anderen hatten's nicht glauben wollen. – Der Stimmen, die noch immer energisch das Gegenteil behaupteten, gab es nun schon bedeutend weniger. Selbst die Angehörigen des Meisters gingen aufgeregt und einigermaßen betreten umher.

Vollends nervös wurde man jedoch am übernächsten Morgen, als die Rietheimer Abonnenten einer Tageszeitung der Hauptstadt aufgeregt die Nachricht verbreiteten, auch in ihrem Blatt stehe eine Notiz: »Das Lebenswerk eines Rietheimer Bildhauers durch Brand vernichtet.« So war Franz Maria Lotter also wirklich ein Bildhauer gewesen – ein bedeutender noch dazu? Wenn sogar schon ein hauptstädtisches Blatt die Nachricht brachte –!

Franz Maria Lotter hatte tagelang nun nichts anderes zu tun, als Beileidsschreiben zu lesen und 219 Beileidsbesuche zu empfangen. Gegen alle, die sich jetzt in Tönen aufrichtiger Kulturreue an ihn herandrängten, war er indes von der gleichen warmherzigen, ein wenig leidenden, sonst aber durchaus gefaßten Zuvorkommenheit. Keinem Menschen ließ dieses edle Künstlergemüt es fühlen, daß die Stadt an ihm doch ein nie wieder gut zu machendes Verbrechen begangen hat, dadurch, daß sie ihren und vielleicht Europas größten lebenden Sohn und Bildhauer eigentlich stets verkannt und bespöttelt hatte. Ja sekundenweise schien F. M. Lotter sogar restlos froh darüber zu sein, daß alles sich so glücklich gefügt hatte. Wenngleich er unmittelbar nachher, jäh zusammenzuckend, sich der Katastrophe neu zu entsinnen schien und wieder seinen leidenden Ausdruck annahm.

Ein Postsekretär und Radiobastler, der abends im Gasthaus ganz laut zu behaupten wagte, das ganze sei ein aufgelegter Schwindel: Skulpturen könnten nicht verbrennen, mindestens aber hätte man bei den Aufräumearbeiten abgesprungene Ton- oder sonstige Materialstücke finden müssen – dieser mißgünstige Lästerer mußte vom Wirt eiligst durch die Hinterstube hinausgeschafft werden, sonst hätten die maßlos aufgebrachten Stammgäste wohl Hand an ihn gelegt.


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