Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

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19.

Unten sagt ihm der Portier, daß auch Herr Ring sein Zimmer heute noch nicht verlassen hat. Anasthase lacht belustigt auf. Gleich darauf aber befremdet ihn die Auskunft doch einigermaßen. Er steigt die Treppen wieder hinauf, um selbst nachzusehen. Und unwillkürlich wird sein Gang hastiger, je höher er steigt.

Auf sein wiederholtes, schließlich stürmisches Klopfen – keine Antwort.

Er muß sich zu Gleichmut zwingen, einen furchtbaren Gedanken, der ihn sinnlos bestürmt, gewaltsam ausschalten, damit seine Füße ihn nur die Stiegen wieder hinuntertragen.

»Sie müssen sich doch geirrt haben, Portier! Das Zimmer ist versperrt und niemand meldet sich, wie?«

»Ausgeschlossen, mein Herr! Herr Ring hat sein Zimmer heute noch nicht verlassen.«

Anasthase will ganz gelassen bleiben: »Also sehen Sie bitte selbst nochmals nach, Sie haben doch einen Nachschlüssel! Und – ja, und sagen Sie Herrn Ring, ich warte hier unten auf ihn!«

Der Portier geht hinauf.

In bleierner Müdigkeit läßt sich Anasthase in einen Korbsessel fallen. Wartet. –

»Vielleicht schläft er noch wie ein Murmeltier!« sagt 138 er sich vor. Und sucht zu lächeln. Aber er ist maßlos erregt.

Jetzt – er kann nicht hinsehen und muß es doch: – Mühsam kommt der Portier – es ist ein sehr alter Kleinstadtportier – die Treppe herab. Sein Gesicht hat die Farbe der Mauer, Entsetzen stiert blöde aus seinen Augen. Gespenstisch pfahlbürgerlicher Unheilverkünder – seine zittrige Hand streichelt das Treppengeländer, er öffnet den Mund, wie um denen unten etwas zuzurufen – entringt es sich endlich – es schnürt Anasthase die Kehle zusammen, doch dabei ist ihm, als wüßte er's schon Jahre –

»Der Herr oben – liegt tot . . .« – – –

 

Kirche. Menschen mit Gemmengesichtern . . . Sitzen, in Reihen, auf einem Balkon . . . War's eine Kirche? Zuviel Licht fast flutet in dem hallenden Raum. Nein – ein Saal ist es! Konzertsaal – Paris –: die Heimstatt so vieler Sonntagnachmittage, die traurig waren vor Verlassenheit und dem Klang von großem Orchester, früher immer . . . Dieses Mal rauscht Orgel im Saale auf, aber von weit, weit her . . .

». . . Selbstmord! Um die dritte Morgenstunde verübt! . . .«

»Selbstmord, um die dritte Morgenstunde verübt . . .« Einige Male spricht Anasthase diese Worte einer forschen Beamtenstimme nach, halblaut, bis er mit schmerzender Anstrengung einen Augenblick lang auch ihren Sinn erfaßt und einiges Tatsächliche seiner aufgeschreckt wirbelnden Umwelt erkennt: Den Arzt, die Polizei . . . Man richtet Fragen an ihn. Er weiß nicht, ob er, wie er Antwort darauf gibt. Verstört, erstarrt hockt er 139 in seinem Korbsessel. Von Traumbildern gebannt, die blitzartig aufleuchten und wieder zerfließen. Er kann von ihnen nicht loskommen, er sucht sich ihrer deutlicher zu entsinnen, die entgleitenden festzuhalten. Denn irgendeine dunkle Macht zwingt ihn, die grauenhafte Wirklichkeit des Geschehens von seinem Bewußtsein fernzuhalten . . . Nun lauert diese Wirklichkeit um seinen Geist herum, bereit, ihn mit voller Schlagkraft anzuspringen, sobald er zu ihrer Bedeutung erwacht. Erwacht – wie aus einem Traum . . . Hatte er nicht geträumt? Ja, aber das war kein Traum von jetzt! Das ist ein längst geträumter, böser, furchtgehetzter . . . Ja, Gott, die Stimmung, in der er heute am Morgen erwachte! Und die erst von ihm gewichen war, als er dann die Vorhänge zurückgeschlagen hatte. Da war mit dem Sonnenlicht auch befreiend die Erinnerung an die helle glückerfüllte Wirklichkeit seiner Liebe ins Zimmer geflutet. – Vorher aber, was war es nur gewesen, das er geträumt hatte?

– Unendlich mühsam nur, doch schlafwandlerisch unentwegt, dringt sein Geist in die Wirrnis seines Traumes zurück. Dringen vereinzelt auch Äußerungen von außen zu ihm, nichts kann ihn länger als für Sekunden von der Verfolgung der Traumspuren ablenken. –

. . . Das Traumbild der Kirche oder des Saales – mit dem Orgelrauschen darin, ja, das stand unendlich deutlich vor ihm. Dann aber – dann? . . . Ein anderes . . .

». . . nichts Schriftliches hinterlassen!«

. . . Viele nebeneinander liegende Zimmer. Hospital. Oder Hotel . . . Er schleicht durch einen Gang. Die Türen der Zimmer stehen alle offen, im Innern sind – Särge . . . Eine alte Frau – wie eine Klosettfrau ist sie – hält ihn an. Sie spricht ihn an. »Gehen Sie doch mal auf 140 Nummer 34 schauen, dort wird jetzt gleich der Saul Ring liegen!« – der Saul Ring, genau so sagt sie. Da wird ihm, als schritte er über ein Eisfeld . . . Das Eis birst – er stürzt in eine tötend kalte Feuchtnis hinab. Aber immer noch steht die Klosettfrau vor ihm, forscht in seinem Gesicht nach einer Antwort. Bis er ihr sagt . . . Was sagt er ihr? – »Ja!« schreit er sie an. »Ich habe ja nichts dagegen! Aber sagen Sie es mir doch nicht so heimtückisch, sagen Sie es mir ehrlich!« Sie hebt das Bein . . .

». . . Anschrift seiner nächsten Anverwandten? – Hören Sie denn nicht?«

– Anasthase schrickt in die Wirklichkeit auf. Ein Mann in Uniform steht vor ihm. Er will die Adresse von Saul Rings Familie wissen. Hatte der eigentlich eine Familie? – Anasthase weiß es nicht.

Und von neuem reißen die Traumerlebnisse seine Erinnerung auf. –

Etwas war dann nachgefolgt, etwas fiebrig Brennendes . . . Eine fliehende Menschenmenge oder so, an ihm vorbei . . . Ein Herr mit einer Brille ruft ihm zu: »Bleiben Sie nicht hier! Wir sind von den Ohrenläufern verfolgt!!« Er steht ratlos und sucht, wo er sich verbergen könnte – da glühen neben ihm Kirchenfenster auf. In der Kirche werden Menschen von wilden Tieren zerrissen . . . Jetzt tritt aus ihrem Portal ein Paar heraus, Mann und Weib. Beide ungeheuer groß und in den Gewändern einer uralten Sagenzeit . . . Das Weib winkt ihm, daß er mit ihnen gehe. Schon will er zu ihnen treten, da fühlt er, daß der Mann ihm nicht wohlwill, erkennt, daß es bereits einer von den Ohrenläufern ist . . . Da flieht er, flieht gehetzt zwischen Kolonnen von Pickelhauben hin, die alle die Gewehre auf ihn anlegen. Er muß gebückt 141 laufen, um nicht getroffen zu werden – In grünlicher Ferne sieht er einen Mann stehen in einem zerfallenen Soldatenmantel. Aus seiner Erscheinung strömt nur Gutes zu ihm – mit ungeheuerer Freude erkennt er den Vater! Will aufjauchzend zu ihm, sich weinend in seine Arme werfen, da sieht er, daß der Vater ihm Zeichen gibt – seltsam mutlose Zeichen –, daß er weiter fliehe. Und nur die Stimme des Vaters erreicht ihn. »Anasthase, hüte dich vor den Deutschen! Sie sind Nibelungen und wollen dir schaden!« Diese gute, treue Stimme! Noch lange klingt sie weiter, in seine Flucht hinein, erfüllt ihn mit unsagbarer Trauer . . . Ganz am Horizont ein Hügel – ein Wald von ungeheueren, strahlenden, glitzernden Weihnachtsbäumen. In ihm muß Rettung sein, Friede! – Aber der Weg zu dem Zauberwald ist zerklüftet. Oft bricht Anasthase in sich zusammen, reißt sich blutig auf, ehe er toderschöpft oben anlangt. Aufatmend läßt er sich unter den Zweigen eines Baumes auf die feucht aufgewühlte Erde niederfallen, schließt die Augen. Aber es ist ein böser verderblicher Weihnachtsbaum, der da über ihm – das beginnt er durch die geschlossenen Lider allmählich mit Grauen zu erkennen. Lichterloh brennen die großen Kirchenkerzen auf den Zweigen – Der ganze Wald prasselt in trocken höllischer Hitze – Zuckende Schlangenleiber sind über den Kerzenflammen aufgehängt. Giftig versengend tropft ihr bläuliches Fett auf Anasthase herab. Er hat vor Grauen den Mund weit geöffnet, er kann ihn nicht mehr schließen, er kann sich nicht mehr bewegen, er liegt . . . Liegt und wartet gelähmt, bis ein verkohlter Schlangenkörper ihm in den Mund hineinfallen wird . . . Da – da muß er wohl erwacht sein. – –

142 Der Portier steht vor ihm. Er hält ein Glas Wasser in Händen. Anasthase trinkt es gierig leer, wischt sich den Angstschweiß aus dem Gesicht. Wie gut, wie aufrichtig blicken die müden alten Augen dieses Portiers!

Und jetzt erst steht das wirklich Geschehene vor Anasthase auf und findet – Tränen. Er bewegt die Lippen. Halblaut spricht er, wie zu sich selbst: »Armer, armer Saul Ring! Ich verstehe ja ungefähr deine Tat . . . Du warst reif, dich dem Leben zu entziehen – ohne daß du's wußtest . . . So, wie ich reif zur Liebe war . . . Aber – warum denn gerade jetzt diese stinkende Bombe Tod!!«

 

Ein Polizeibeamter meldet ihm, daß von der Polizeidirektion München telephonisch soeben die Auskunft eingelangt sei, Herrn Saul Rings Mutter sei am Leben, wohnhaft in München, Schwanthalerstraße 378, Türe VIII. – Ob Anasthase beabsichtige, die Frau von dem Todesfall selbst in Kenntnis zu setzen? Ob er weiters wegen aller zu treffenden Verfügungen, bezüglich Übergabe beziehungsweise Überführung der Leiche nämlich – in letzterem Falle wäre Kaution zu erlegen – etwelche Sonderwünsche vorzubringen habe? Und so fort –

An Frau Mathilde daheim in Paris muß Anasthase jetzt denken – und er fühlt ein tiefes Mitleid mit der unbekannten alten Frau dort in München wo, mit der Mutter Saul Rings. Die rohe amtliche Nachricht müßte sie – – Nein, er selbst will sie benachrichtigen, will noch diesen Abend nach München fahren. Und die Leiche . . . Wieviel betrage denn die Kaution? . . . Ja, also dann könnte die Leiche in seinem Zuge mitgehen? – –

143 Qual ist es Anasthase und bis in die Abendstunden hinein hält es ihn fest. Eine Unzahl Formulare muß er ausfüllen, unterfertigen. Mit Trägern der verschiedensten Uniformen langwierig und entnervend verhandeln. Bis einer Überführung der Leiche mit dem Nachtschnellzuge nach München endlich nichts mehr im Wege ist. Aber er fühlt sich dem kaum gekannten toten Freunde zu dem allen verpflichtet. Ja, weit mehr noch würde er tun, um nur den Leichnam dieses im Leben so scheuen Menschen nicht so ganz fremden rohen Händen zu überlassen. – Wenn nur dieser wahnsinnige dumpfe Schmerz in seinem Kopf ein wenig nachlassen wollte!

Oft, während der schleichenden Stunden dieser Unterhandlungen, hatte es Anasthase zum Telephon hingezogen; daß er das Hotel anrufe, in welchem sie wohnt, die arme Kleine – In welche Verwirrung mußte sein Nichterscheinen sie bereits geworfen haben! Doch stets hatte im letzten Augenblick ihn das Gefühl einer Scham davon abgehalten; ein Gefühl, als verriete er den Toten, würde er mit ihr sprechen, deren Leib ihm so unmäßige Lust gespendet hat – vielleicht gerade in jener Sekunde, als der Freund einsam im kahlen Hotelzimmer seinen letzten Kampf gegen das Grauen des unbekannten Todes kämpfte –, spräche er mit ihr, solange über dem Leichnam noch die Drohung schwebt, an fremde niedrige Hände ausgeliefert zu werden. Wie sehr aber sehnte Anasthase sich gerade in diesen Stunden danach, seinen Kopf wie nachts in ihren Schoß betten und weinen zu können!

Jetzt war es schon einhalb sieben Uhr geworden; um sechs Uhr hatte das Theater begonnen. Wenn sie am Ende doch ohne ihn hingegangen wäre? Dann würde er 144 sie vor Abgang des Zuges am Ende gar nicht mehr sehen, ihr nichts mehr aufklären können!

Nun ist alles soweit geordnet. Anasthase hat ein schonungsvoll vorbereitendes Telegramm an Saul Rings Mutter aufgesetzt, einen Betrag hinterlegt – fast alles, was er besaß – und für sich selbst ein Abteil zweiter Klasse des Nachtschnellzuges reservieren lassen; denn er fühlt sich gänzlich außerstande, die traurige Reise in Gesellschaft geräuschvoller Fremder zurückzulegen. Mithin wäre alles geordnet . . .

Und doch hält ein vages Gefühl unerfüllter Verpflichtung ihn immer noch zurück. – Da entschließt er sich endlich, das Unglückszimmer zu betreten. In Begleitung des Amtsarztes. –

Ein Blick aber in die totgedunsene Fratze, die aus einem kleinen braunen Fleck an der Schläfe zynisch-verzweifelt starrt – und er flieht wie verfolgt . . .

Stürzt hilfesuchend zum Hotel der Freundin.

Auf dem Wege überfällt ihn mit solcher Bangigkeit plötzlich der Gedanke, er werde sie im Hotel nicht mehr antreffen, daß er stehenbleiben, sich einige Sekunden an einem Laternenpfahl anhalten muß, um einer lähmenden Schwäche Herr zu werden.

Sein Herzschlag stockt, wie er jetzt an den Portier die Frage nach ihr richtet und von dessen Lippen sein Urteil erwartet: sie sei zur Vorstellung ins Festspielhaus gegangen . . .

 

»Ach, das gnädige Fräulein ist doch aber heute morgen bereits abgereist!«

»Was – sagen Sie?! – Abgereist? – Ganz, aus Bayreuth?!«

145 »Aher natürlich doch! Tja, wurde in aller Frühe schon von einem Herrn – – vermutlich der Herr Vatter – abgeholt, und die Herrschaften haben den Zuch, . . . Warten Sie, ich kann's Ihnen genau sagen . . . haben den Zuch . . . den Zuch – na? –: um elf Uhr sechsundvierzig, Schnellzuch nach Eger, genommen. Natürlich!«

»Und – sie hat – das Fräulein hat – nichts – für mich – hinterlassen?«

»Nichts, bitte sehr.«

 

Von Frost geschüttelt, überwacht Anasthase auf dem Perron des Bahnhofs die Einwaggonierung der Leiche. Ihr Behälter erinnert ihn an eine etruskische Vase –

 

Lautlos, langsam gleitet der Zug aus der Halle.

Anasthase steht im Gang seines Wagens, die fieberglühende Stirn an die Fensterscheibe gepreßt –

Im Rhythmus des ausfahrenden Zuges fühlt er ein hoffnungsloses, doch unentwegtes Schreiten bluten . . . Ein Schreiten, das aus dem Dämmerland des Allvergessens eine Melodie heraufbeschwört – eine Melodie Gustav Mahlers – –

Bayreuth versinkt im Mondlicht . . .


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