Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

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17.

Fern, doch um so traumhafter, entweicht aus dem Innern Musik zu ihnen heraus.

Anasthase lehnt sein Ohr an die Türspalte. Nach einer Weile tritt auch die junge Dame näher hinzu. Voll zarter Rücksicht bietet Anasthase ihr Platz. Hart an seiner 126 Seite. So daß er den Geruch ihres Haares spürt, das fast an seiner Schläfe liegt. Sie lauschen . . .

Die tragischen Akzente des Vorspiels – –

Ganz im Zuhören umfaßt Anasthases Blick doch die Gestalt des jungen Mädchens an seiner Seite: Ein zierlich-üppiger Körper . . .

– Die Bässe saugen sich fest in tiefen Grundtönen. Halten sie mit Orgelklang. Voll schmerzendem Wohllaut steigt über ihnen eine Melodie auf, aus leiddunklen Gebieten in klare Höhen – –

. . . In einem geträumten Stilkleidchen, das kleine, etwas spitze Brüste geltend macht; Brüstchen, wie sie in solcher Vollendung nur Malerhirne träumen mögen . . .

– Jetzt klagt die wehmütige Stimme der Oboe – – . . .

Das Köpfchen aber – als wenn es nicht zu diesem Körper gehörte: Ein tief gebräuntes trotzig-wildes Gesicht ist es, von fast derben, slawischen Zügen. Finsteres strähniges Bubenhaar, finstere dunkle Augen. Und düster starrt sie auch zu Boden . . .

– Wieder rühren die Streicher die Tiefe auf, aus der sie sich in den Himmel hinaufsingen. Schmerzlich schwelgen Geigen hoch über dem dunklen Orgelpunkt der Ewigkeiten – –

. . . doch völlig teilnahmslos ist sie an seiner Person . . .

– Vielstimmig verschweben überirdische Geigen . . . Schalmei . . .

 

Anasthase fühlt, daß seine Augen feucht werden. Auch sieht er, daß der strahlende Tag von Dämmerung umhüllt wird und daß der Türschließer unwillig nur ihretwegen weiter auf seinem Posten verharrt.

127 – Die Stimme des todwunden Tristan, seltsam vergeistigt durch ihre Fernheit und die Atonie der Stunde . . .

Das Mädchen schauert leicht zusammen. Es scheint unter der Kühle der Abendluft zu frösteln.

Da befällt Anasthase Furcht. Aber er muß einige Sekunden in seinen Gedanken forschen, eh ihm klar wird, welcher Art dieses Furchtgefühl ist.

Eigenartig, wie sehr die ferne Musik Sehnsucht ist, die um das Mädchen kreist, und das nahe Mädchen Verheißung ist, die wieder Musik wird; wie Musik und Mädchen gleichsam ineinanderströmen! –

Die bloße Annahme, das Mädchen könnte sich jetzt zum Fortgehen entschließen und er stünde dann allein mit all seiner bodenlosen Traurigkeit hier, an der Tür dieses geheimnisvollen Tempels, in dessen Innern gerade so Bewegendes in Tönen geschieht, dieser bloße Gedanke macht ihn verzagt. Nur jetzt nicht allein bleiben! Sie zurückhalten, oder fortgehen – mit ihr zusammen!

– Er selbst ist starr über seinen Mut: Ob er ihr nicht rasch die Garderobe holen dürfte? – hat er sie eben angesprochen. Sie mißt ihn abweisend, die Tränen in seinen Augen scheinen sie jedoch zu entwaffnen. In leichter Verlegenheit senkt sie den Kopf. Um in ihrem Täschchen nach der Nummer zu suchen? –

Anasthase kommt mit ihrem Mantel zurück, hüllt sie ein. Dabei streift er mit den Lippen ihren Nacken. Alles mit Tränen in den Augen. Da weiß sie wieder nichts zu sagen. Um so mehr, da sie jetzt sieht, daß er sehr jung ist und beseelte Züge hat. –

Sie winkt einem Taxi.

»Könnten wir den Wagen nicht zusammen nehmen?« 128 bittet Anasthase. Mit der Entschlossenheit eines, der nichts zu verlieren hat. –

 

Im Wagen sitzen sie eine Weile schweigsam. Erst als von beiden Seiten die blaß gegen den scheidenden Tag ankämpfenden Lichter der Stadt durch die Scheiben fallen, fragt Anasthase, ob Gnädigste wirklich schon heimgehen wolle. Der Abend sei voll Wunder . . .

 

Anasthase beugt sich aus dem Wagenfenster, ruft dem Chauffeur zu, daß er sie zur Eremitage hinausfahre. Er war nie dort gewesen, aber von Saul Ring weiß er, daß es ein verträumtes Rokokoschlößchen sei. In einem großen alten Park.

 

Er muß eine Banknote opfern, damit ihnen ein Seitentürchen des Parks aufgesperrt wird. Wie gern opfert er sie! –

 

Sie wandeln, noch immer schweigsam, unter Baumwundern im Mondlicht. Verstohlen betrachtet Anasthase seine Begleiterin von der Seite: Auch im Mantel kommt das Gefesselt-Schwellende des Mädchenkörpers berückend zur Geltung. Doch von neuem ist er überrascht, wie wenig das wilde, dunkle Gesichtchen diesem Körper anzugehören scheint. In ihren Augen aber sieht er jetzt einen zärtlichen Glanz . . .

Seine Stimme ist anfangs unsicher und belegt: »Mein Fräulein«, beginnt er. »Wir wissen einer vom andern nicht, wer er ist.« Er muß sich räuspern. – »In einer solchen Nacht und mit diesen Klängen in den Sinnen sind unsere Namen, unsere Lebensumstände aber auch 129 wirklich wesenlos!« Pause. »Sagen Sie mir bitte nur Ihren Vornamen, damit ich Sie nennen kann! Ich heiße Pelléas.«

Sie zögert einen Augenblick, sieht ihn prüfend an. Dann flüchtet ein Lächeln über ihren Mund. »Und ich – Mélisande«, entgegnet sie schließlich, mit einem selbst Anasthase merklichen fremden Akzent. Anasthase bhckt nicht vom Boden auf. Er flüstert nur: »Dank, Melisande!«

Da stehen sie schon entzückt vor dem Schlößchen, das kokett im Mondlicht schlummert. Für die beiden mit Tristanakkorden durchtränkten jungen Menschen hat der zierliche Bau mit den vielen kleinen Säulen inmitten der uralten Baumriesen etwas unsagbar Rührendes, Kindliches.

Sie lassen sich dem Schlößchen gegenüber auf einer Bank nieder.

»Was für eine verspielte Jahrhundert!« sagt das Mädchen. Sehr leise.

Anasthase nickt nur heftig, das Weinen sitzt ihm in der Kehle.

Erregtes Schweigen. –

»Sehen Sie, Mélisande«, bricht Anasthase es endlich. Und seine Stimme klingt ein wenig wie die Oktaven con sordino der Primgeige im langsamen Satze von Debussys Streichquartett: Melancholie eines Winterabends – Dunkel – Schnupfen – Kaminfeuer – und die fahle Erinnerung an eine liebesverschleierte Stunde einmal . . . »Sehen Sie, Mélisande – unser Sein, was ist es mehr als das Wunder eines Weihnachtsbaumes in unserer Kindheit, in ihm aber schon alles Romantische vorgeahnt der späteren Jahre – Ein Vater, den wir nicht kennen, der 130 auch nicht mehr ist – Einige Wirrnis des intellektuellen Lebens, die Kunst in ihrer entmutigenden Mannigfaltigkeit – Ein Freund, den wir unter tausend Gleichgültigen spontan erwählen, dessen Wesen uns aber in immer dichtere Unverständlichkeit entflieht – Musik endlich, die unsere Seele mit dem Traum einer ganz großen Liebe erfüllt – In ihrem Garten ahnen wir bereits ihr letztes Hinüberfluten ins ›weite Reich der Weltennacht‹, ins Dämmerland des Unbegreifhchen, und wir kommen um den Liebestod, da zufällig statt einer Mark fünfundsechzig bloß eine Mark zehn zur Stelle ist –«

»Bitte –?« sucht das Mädchen sich zaghaft zurechtzufinden.

Anasthase lächelt wehmütig. »Ach, etwas so Belangloses wie eben alle großen Zufälligkeiten, die unserm Dasein die Richtung geben. – Und endlich: Zwei junge bewegte Menschen, ausgesperrt, hungernd an der Türe des Tempels, in welchem der Liebestod geschieht – müssen sie ihre Not nicht zusammenwerfen? Ein Park nimmt sie auf mit mächtigen uralten, vereinsamten Bäumen. Ruinen sind zwischen die Bäume gestreut, um des gleich uralten Gedankens willen, wie flüchtig die Sekunde der Zeit ist, die wir leben. Doch spielerisch heiter, leicht und sorglos ein verflossenes Schlößchen inmitten . . . Ich habe, Mélisande, noch niemals ein Weib berührt . . . Auch jetzt bin ich zu bewegt – in meinen Gedanken, um groß zu wünschen – Und doch ahne ich die reife Stunde – ganz nahe – an mir . . .«

Mit brüderlicher Bewegung legt Anasthase seinen Arm auf die Banklehne im Rücken der fremden Gefährtin, blickt voll und ohne alle Unrast in ihr Gesicht. Sie neigt sich im Zwiespalt etwas vor; um seinem Arm zu 131 entgehen? um ihr Gesicht vor ihm zu verbergen? – Aber zu spät vollführte sie diese Geste der Rettung, als daß Anasthase in ihren fremden Augen nicht noch sein zärtliches Schicksal hätte erglänzen sehen. – Da überkommt ihn Bangigkeit. Er schämt sich dieser unmännlichen Furcht, hofft sie durch Spott zu verscheuchen:

»Finden Sie nicht auch, Mélisande, wie wagnerisch unsere Situation eigentlich ist?« Grinsend sagt er es. Der Ton liegt ihm schlecht, das fühlt er gleich danach freilich selbst. Und er wollte, er hätte es nicht gesagt!

Das Mädchen hat sich bei dieser Bemerkung befremdet aufgerichtet, blickt ihn erst verschreckt, dann vorwurfsvoll an: »Warum mußten Sie dieses jetzt sagen?« – Ihre düsteren Züge sind im Mondlicht schimmernd weich, zärtlich aufgelöst – oder ist's ein inneres Mondlicht? Aber Anasthase sieht nur noch die schwelgerischen Linien ihrer Brust. Der Mantel! – denkt er. Sie müßte in hauchdünner Seide hier liegen! Und verwirrt sucht er die Wirkung der vorangegangenen Bemerkung zu verwischen: »Ich meinte nur –: Wie im Garten des zweiten Aktes sind wir hier!« Plötzlich aber ruft er in leidenschaftlicher Durchdrungenheit aus: »Mélisande – glauben Sie wirklich, daß ich spotten könnte?« Ein Gefühl der Schwüle, das süß erregt auf ihm lastet, hemmt seine Brust am Atmen. Trocken dringt es in seine Kehle. Es ist, als müßte er über dem jungen Weib an seiner Seite zusammenbrechen . . .

Ihr Leib ist in einer Bewegung der Flucht hingebogen. »Bleiben Sie ruhig . . . Wie Tristan!« flüstert sie angstvoll.

Aber in den Augen Anasthases entzündet sich das Gegenteil, entzündet sich Haß, verbrennt sie: »Ja – wie Tristan – !! –« stößt er hervor, so leise, daß sie fast nur aus dem leidenschaftlichen Klang den Sinn der Worte zu erraten vermag. »Wie Tristan –! Da, ebenda ist die ungeheure Lüge dieser Musik, die erregend in unsern Adern strömt, daß ich dich jetzt haben will und daß du mich haben willst!! Tristan hingegen sitzt bewegungslos träumend neben der maßlos Geliebten und – singt. Ich kann nicht singen und will nicht singen, ich will dich haben, du – Mélisande!! Und das ist das Wahrhafte – das andere ist Verlogenheit und Schein! Ich Isolde, Tristan du, oder Mélisande ich, Anasthase du, oder was immer – ich will nicht mehr denken, ich will – dich!!«

Sie kämpft mit sich. Will aufspringen, fliehen. Er kriegt sie um die Hüfte zu fassen, hält sie fest –, entfesselt. Und drohend ruft er: »Du! Unter hunderten Menschen hat kein blinder Zufall uns beide – gerade uns – vom dritten Akt ferngehalten! Bestimmung, hörst du? In zwei ungeheuren Akten haben wir Wagners Sehnsucht, Wagners Erwartung, Wagners Träume geteilt; den dritten Akt – den dichten wir uns jetzt selbst, hörst du? Wahrhafter als er! Unsern Liebestod – den leben wir!!«

»Nein!« schreit sie leise, wie verwundet, auf. Gleich darauf erstarrt sie in der Umklammerung Anasthases zu erschauernder Bewegungslosigkeit. Der Widerstand ihrer angespannten Muskeln ermattet, sie lehnt willenlos an seiner Brust. Da löst er, von ihrem Nein entmutigt, langsam seinen Arm von ihrer Hüfte. Er glaubt, nun dürfe er nicht, oder er müßte Gewalt brauchen. – Und ganz im Schmerz über diese grausame Weigerung löst sich auch all die unentwegte Spannung der letzten Tage – der letzten Stunden vor allem –, die Spannung seiner 133 gequälten Sinne löst sich jetzt in einem hilflosen, verzagten Schluchzen; er birgt seinen Kopf in ihrem Schoß und gibt sich haltlos der erlösenden Wonne dieses Weinens hin.

Sie streichelt ihm selig das Haar . . .

Anasthase wird es unsagbar wohl. Nie war er so ganz – Kind gewesen, und nie hatte er so beglückend süße Geborgenheit gekostet, eine so traumhaft verklärte Wonne getrunken als im Streichen jetzt ihrer Finger über sein Haar . . . Ewigkeiten möchte er so verharren! Aller Schmerz schwindet, alle Qual und Hilflosigkeit . . . Schuldbewußt und abbittend entsinnt er sich da Richard Wagners als eines priesterlichen Vaters, der um solche Seligkeit immer wußte, unverstanden und verleumdet von ihm: Sie allein, die Heilkundige, kann die Wunde schließen . . .

Genießerischer und aufschmeichelnder werden die Liebkosungen ihrer verwirrten Hände in seinem Haar, wird sein Kopf in die geheimnislockende Mulde ihrer erschauernden Schenkel gepreßt. Vor dem Himmel dieser Berührung streben sie auseinander. Bis ein Zittern süßbangen Erschreckens sie hastig wieder eng aneinander schließt. Wollust birgt dieses Erschrecken, Wollust, die zuckend auf ihn übergreift. Nebel einer sinnverzehrenden Lusttrunkenheit fließen über seinem Geist zusammen. Und auch im Nebel eines selbsttätigen Triebes beginnt er zwei himmlische Brüstchen zu liebkosen, die hoch über ihm locken. Er spürt, wie deren winzige Spitzen sich aufrichten, wie der Atem des Mädchens ersterbend seufzt, ihre Schenkel sich gierig bewegen. Pfeil, von einer maßlosen Treibkraft abgeschnellt, fährt er da in die Höhe, reißt sie über seinen Schoß, schiebt 134 den Ausschnitt des Kleidchens unter ihre Brust – zwei steile Mondlichtwunder – die er küßt . . . Wie die reizende Bestie sich da windet, wehe Laute einer fremden Sprache stammelt und brechende Augen in den Himmel richtet! Das Weib – ah! Ihr Mund!! Ins Gras . . .

 

Erst im Lichten des Morgens verlassen sie zärtlich umschlungen den alten Park. Ihre Augen strahlen in der Dankerfülltheit unermeßlichen und unerhofften Besitzes ineinander.


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