Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

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13.

Wie ein Mensch, der in letzter Sekunde vom Ersticken gerettet, weder Dankbarkeit empfindet noch an das Furchtbare zurückdenkt, dem er gerade entronnen, sondern nur gierig die kühle reine Luft einsaugt, so ähnlich ging es Anasthase: Er gab sich einzig dem befreienden Bewußtsein hin, daß dieses Hotelzimmer ihn von Tante und Onkel und dem Kerl aus dem Saargebiet, von dem ganzen höllischen Alp der letzten Stunden abschließe. Er legte sich aufs Sofa, schloß die Augen, dachte nichts, wünschte nichts. Erschöpft, doch maßlos erleichtert. Ruhe. – – Und zwischen diesen vier Wänden herrschte einzig sein Wille! Kein anderer konnte hier drinnen . . .

Der erste praktische Gedanke, den er nach einiger 77 Zeit zu fassen vermochte: München, Deutschland überhaupt schleunigst zu verlassen! Und einen Augenblick lang stand lockend ein Bild vor ihm: Fischerdorf. Bretagne vielleicht oder Normandie irgendwo. Kalte strenge Meeresluft. Es riecht nach verfaultem Holz. Einige Wochen dort – Tier sein! Wo es so beseligend nach feuchtem Holz roch und wo der Name Wagner so wenig als irgendein anderer der zahllosen Zivilisationsbegriffe, mit denen er sich herumquälte, jemals ausgesprochen war. Begriffe, an welche geschmiedet sein Leben – ein Gedankenleben! – blutlos verrann . . . Herrgott, wie wohl täten ihm einige Wochen dieser herrlichen starken primitiven Welt! Denn war sein Zustand der letzten Stunden anderes gewesen als ein nervöser Zusammenbruch? Bedenklich genug – bei seiner Jugend! Ja, heraus aus diesen papierenen Sorgen und Zweifeln! Den Leib von Meeresfluten umspülen lassen, ihn auf Küstenfelsen nackt der Abendsonne darbieten! Zu lange war dieserLeib bloße Hülle gewesen – Hülle eines Musikreferenten! Dessen Lebensgefühl sich bestenfalls eben an Papierenem erwärmt hatte. Und der darüber sträflich vergessen, daß er ein Menschlein war, nichts anderes, ein Menschlein mit einem hungernden Körper!

In der Seligkeit dieses Sichbesinnens schlummerte Anasthase ein wenig ein – wie ausgequetscht von den vorangegangenen Exzessen und Spannungen. – –

 

Kaum wieder erwacht, wusch er sich, eilte auf den Bahnhof. Dort aber – er wußte nicht recht, was er zunächst eigentlich unternehmen müßte – schlenderte er dann, Hände in den Taschen, durch das dichteste Gewühl von Menschen. Die es alle höchst eilig hatten. Ihm 78 hingegen genügte es für den Augenblick durchaus, zu wissen, daß er mit dem nächsten passenden Zug München verlassen werde, und daß er sich zu diesem Zwecke bereits am ganz richtigen Orte befinde: auf dem Bahnhof. Und in dieser Gewißheit legte er, noch provozierender, in seine Haltung den Ausdruck, daß er Zeit habe.

Aus einer der riesigen Tabellen mit Ankunfts- und Abfahrtszeiten, welche die Bahnhofswände vergeistigten, seinen Zug selbstmännisch herauszufinden, versuchte er erst gar nicht; Fahrpläne hatten ihm seit jeher Furcht eingeflößt. Wenn er überhaupt nach irgend etwas fahndete, dann lediglich nach einem Schalter mit der Aufschrift »Auskünfte« . . .

Und ganz in dem Gefühl, daß er Zeit habe, blieb er schließlich stehen, um besser eine Gruppe zu beobachten, die sein Interesse wachgerufen hatte und die ihn belustigte:

Zwei ungeschlachte triefäugige Barbaren schleppten einen langen, mumienhaft verpackten Gegenstand auf den Schultern, bahnten sich mit heiseren Warnungsrufen einen Weg durch die Menge. Ein älterer Herr – offenbar der Besitzer der Last –, groß und auch landesüblich beleibt, dessen Gesicht hingegen einem orientalischen Gelehrten angehören konnte, lief in größter Aufregung zwischen den beiden mit Elefantenruhe stapfenden Trägern hin und her, ermahnte sie mit beschwörenden Gesten zu größerer Behutsamkeit. Zwischendurch betastete er an verschiedenen Stellen ängstlich den vermummten Gegenstand und schien maßlos erleichtert, wenn er sich überzeugte, daß nichts gebrochen war. Jetzt stand er einen Augenblick still, wischte mit dem Taschentuch über die feuchte Stirn und starrte dabei mit den Augen 79 eines erschreckten Kindes – sonderbar, die Augen in dem so reifen, müden, klugen Gesicht! – auf die groben roten Tatzen der Lastschlepper; so, als würde er sie auf ihre Vernichtungskraft hin abschätzen. Dann wieder lief er nervös voran, um den Weg freizuhalten, schrie leise auf, wenn einer der unachtsam Vorbeieilenden trotzdem an den teueren Gegenstand anzustoßen drohte, kurz, er bot in seinem ganzen Gehaben ein pathologisches, doch vielleicht eben darum rührendes Bild. – Aus seinen etwas schwammigen Zügen las Anasthase zudem eine gewisse uralte Kultiviertheit heraus; und unwillkürlich schloß er aus diesem Umstande, daß auch der rätselhafte Gegenstand kein gewöhnlicher sein könne, daß seine Natur dieses Maß an Fürsorge vielmehr irgendwie rechtfertigen müsse. Und seine Neugierde war so stark gereizt, daß er auf seine eigenen Angelegenheiten völlig vergaß und weiter beobachtend neben der Gruppe herging.

Diese war inzwischen in einen weniger belebten Teil des Bahnhofsgebäudes vorgedrungen, und im Gesicht des seltsamen Fremden hatte die qualvolle Spannung etwas nachgelassen. Mit einem Male jedoch – die Träger hielten vor einer auf die Straße gehenden selbstschließenden Flügeltür – rief er aus, mit erneuter Ängstlichkeit: »Warten Sie, warten Sie! Jetzt nur Vorsicht, ich bitte Sie!!« Stürzte an die Türe, hielt einen Flügel weit offen, maß mit verzweifelten Augen die Öffnung, konnte sich aber nicht entschließen, das Zeichen zum Durchschreiten zu geben.

»I freili«, grunzte schließlich in unerschütterlichem Gleichmut der vordere Träger, »dös geht freili!«

»Nein!! Es geht nicht!« schrie, schon nahezu im Diskant, der Fremde zurück.

80 »Nacher lossmas!« entschied mit beginnender Gereiztheit der hintere Träger.

Hilflos und unschlüssig stand der Fremde. Da ergriff in einer jähen Regung von Gefälligkeit Anasthase den zweiten Türflügel, hielt ihn offen. Durch die so verdoppelte Öffnung konnte die Last nun ohne alle Gefahr hindurchgetragen werden; Anasthase erntete einen unsäglich dankbaren Blick. – In diesem Augenblick aber prallte der vordere Träger mit einem von der Straße hereinstürzenden Hoteldiener zusammen, der zwei riesige Koffer trug. Anasthase selbst erschrak heftig; und voll Teilnahme forschte er in den Zügen des Fremden. Der hatte einen jammernden Ton ausgestoßen und griff nun mit beiden Händen nach der Last, als könnte er damit die Erschütterung ungeschehen machen; dabei hielt er mit der Hüfte immer noch die Tür – sein Körper war wie in einem rechten Winkel gebrochen. Und mit schmerzlich verzerrtem Gesicht schrie er den vorderen Träger an: »Sehen Sie!! Sie tragen sie nicht gut! Sie Kuli!!« Der »Kuli« hatte gerade mit dem Hoteldiener einen Austausch der wüstesten Beschimpfungen eröffnet; auf diese eklatant ungerechte Beschuldigung hinauf aber wandte sich seine und seines Kollegen Gereiztheit – (sie hatten doch redlich geschuftet!) – sofort einmütig gegen den Herrn. »Nocher müassn's ös Eahna scho sölba tragn, Sö – – !« rief tiefverletzt der vordere, und der hintere Träger fügte voll tragischen Hohnes hinzu: »O mei – gib eahm a Marrrk, doss ea net greint!« Damit setzten sie die Last ohne alle Zartheit auf den Boden und trollten sich in feindseliger Haltung.

Erst hatte der Fremde eine Bewegung vollführt, als wollte er ihnen nacheilen, sie. beschwichtigen, gleich 81 darauf schien er sich anders zu besinnen; er stellte sich schützend vor den Gegenstand. Sein Blick fiel in peinlichster Ratlosigkeit auf Anasthase, und schließlich wandte er sich geradewegs an ihn: »Aber – um Gottes willen – sie kann doch nicht hier, mitten in der Türe, stehnbleiben, da wird sie doch beschädigt!« – Anasthase empfand die Nöte des Fremden bereits ohne allen Spott mit, aber auch er wußte keinen Rat. Der Hoteldiener – auf einmal hatte er es nicht mehr eilig –, von den Trägern beschimpft und daher gallig gegen sie, schien den Ehrgeiz zu haben, sich von diesen »Saubatsis«, wie er die längst Fernen bezeichnete, vorteilhaft zu unterscheiden; er machte sich erbötig, dem Herrn beim Tragen behilflich zu sein. Aber der Fremde musterte mit einem mutlosen Blick die roten kraftstrotzenden Hände des Diensteifrigen und dankte verlegen. Statt dessen wandte er sich neuerdings an Anasthase: »Würden Sie nicht die große Güte haben? Ich wohne gleich um die Ecke.« Damit lud er aber auch schon den Vorderteil der Last behutsam auf seine Schulter. Anasthase machte es ihm mit dem anderen Ende genau nach – er fand nichts Absonderliches daran –, der Hoteldiener hielt den Türflügel offen, und gleich darauf standen sie ohne weiteren Zwischenfall auf der Straße. Sie bogen um den Bahnhof herum, übersetzten hastig die Straße, traten in ein Haus. Zu ebener Erde öffnete der Fremde eine Tür. In einem mit Altertümern vollgepfropften Vorraum setzten sie den Gegenstand ab. Der Fremde murmelte einige Male: »Vielen, vielen Dank!« Aber er schien zerstreut und blickte Anasthase nicht an. Hingegen trocknete er seine Stirn und betastete von allen Seiten das rätselhafte Ding, von dessen Natur Anasthase beim Tragen nur das eine festgestellt hatte, 82 daß unter den Holzleisten etwas Rundliches, Kühles verborgen war. Endlich schien der Fremde vom Ergebnis seiner Unternehmung erleichtert. »Nun – es scheint doch alles gut abgelaufen zu sein«, sagte er. Und jetzt erst blickte er Anasthase voll und mit freundlichem Lächeln ins Gesicht; bot ihm die Hand: »Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen, mein Herr. Die Kulis hätten sie mir schändlich hergerichtet!«

Anasthase befand sich durch den ganzen Vorfall, durch die starke Sympathie auch, die er für den Fremden empfand, in einer seltsam gehobenen Stimmung. »Ich tat es doch sehr gerne!« erwiderte er mit größter Zuvorkommenheit. »Nur bin ich jetzt fürchterlich neugierig, muß ich gestehen. Was ist es denn eigentlich für eine Kostbarkeit?«

»Sie sind Franzose, nicht wahr? – ach, das ist doch nicht zu verkennen! – Aber natürlich – – Sie können ja nicht wissen: Eine etruskische Vase aus dem Jahre 821 vor Christus ist es.«

Nach dieser Auskunft schien er allerdings keine weiteren Berührungspunkte zu Anasthase mehr abzusehen; er stand in verlegen höflichem Schweigen, den Blick irgendwo seitwärts, und mit nervösen Fingern streichelte er die vermummte etruskische Vase. Anasthase sah wohl, daß es für ihn jetzt an der Zeit wäre, sich zu verabschieden; aber er konnte sich dazu nicht entschließen. Er war verliebt in den interessanten und zweifellos sehr klugen Menschen, und er stellte es sich allzu reizvoll vor, mit ihm noch einige Zeit beisammen zu bleiben. Statt nun im wenig heimlichen Menschengewühl des Bahnhofes von neuem nach dem Schalter »Auskünfte« zu suchen, dann ins Hotel zurückzukehren, den Abend dort zu 83 beschließen, oder im günstigsten Falle eben noch diesen Abend die Rückfahrt nach Paris anzutreten; die Nacht und fast den ganzen nächsten Tag allein und bedrückt von den unfreundlichen Gedanken an die Schmach seines Münchner Aufenthaltes! – Je länger Anasthase aber zögerte, die Abschiedsformel zu sprechen, desto unfähiger fühlte er sich, den Fremden und die Heimlichkeit, die von ihm ausging, zu verlassen. Wo er zu allem noch den unbestimmten Eindruck hatte, hier müßte all seine Not schwinden . . .

Endlich hatte Anasthase etwas gefunden. »Sie scheinen da überhaupt eine wundervolle Sammlung zu besitzen, mein Herr«, bemerkte er. Und mutlos zitterte in seiner Stimme dabei der Ton einer elegischenWerbung. »Dürfte ich mir die Sachen nicht ein wenig ansehen?«

Den Fremden schien dieser Wunsch in noch größere Verlegenheit zu versetzen; er blickte scheu und erschreckt. Ein sichtbarer Drang, dem netten jungen Franzosen Zuvorkommenheit zu beweisen, und furchtsame Abwehr huschten im Kampf über seine Züge. »Ja – recht gern – nur – – Es ist bestimmt nichts Sehenswertes!« entgegnete er unsicher, und eine nervöse Röte trat auf seine Stirn.

Da, mit einem Male, glaubte Anasthase den Ursprung des Gefühls, das ihn so seltsam zu dem Unbekannten hinzog, gefunden zu haben: Das scheue zarte Wesen dieses Mannes mußte ihn irgendwie an den Vater erinnern . . . Und Anasthase, selbst doch alles eher als draufgängerisch, gewann an Sicherheit, da er den Vaterhaften in noch größerer Verwirrung sah. »Ich sehe, daß ich Ihnen aufdringlich erscheinen muß«, sagte er und schnitt alle höflichen Versicherungen des Fremden mit einer sehr 84 bestimmten Handbewegung ab. »Ich bin völlig fremd in München, fahre morgen nach Paris zurück. Ein Zufall, der vielleicht nur mit Unrecht als solcher bezeichnet wird, hat mir Ihre Bekanntschaft vermittelt. Unter so unverbindlichen Umständen, daß ich längst keinen offensichtlichen Grund mehr habe, noch weiter hier zu stehen. Als wenn ich auf ein Trinkgeld wartete. Das heißt – ich will offen sein – vielleicht warte ich tatsächlich auf etwas Ähnliches . . . nein, um Gottes willen, verstehen Sie mich nicht falsch, haha! Um es Ihnen kurz zu sagen: Ich hätte – ich weiß selbst nicht, wie ich dazu komme – aber ich habe den sehnlichsten Wunsch, den Abend irgendwie mit Ihnen zu verbringen!«

Der Unbekannte lächelte – schmerzlich, wie es Anasthase vorkam –, doch er beeilte sich, etwas Zustimmendes zu antworten. Und unwillkürlich öffnete er auch die Tür zu einem angrenzenden Raum. Womit er Anasthase zum Eintreten einlud. Im gleichen Augenblick aber schien er sich scheu wieder anders zu besinnen. Ob es bei diesem warmen Abend nicht am Ende doch angenehmer wäre, ins Freie hinauszugehen, fragte er. Diese Lösung brachte auch Anasthase fühlbare Erleichterung. – Sie gingen. Nicht ohne daß der Unbekannte vorher noch mit einem Blick leisen Verzichts die etruskische Vase umfangen hätte; als wäre es ihm doch ungleich lieber gewesen, den Abend mit ihr zu verbringen. – Während er nun sorgfältig die Eingangstür verschloß, las Anasthase auf einem Messingschildchen »Saul Ring, Antiquitäten«. Da besann er sich auf gute Manieren: »Ach, verzeihen Sie vielmals,« bemerkte er mit Verbeugung, »daß ich bisher unterlassen habe . . . Mein Name ist Alfaric, ich bin Referent der ›Nouvelle Ere Musicale‹ in Paris.«

85 »Ring«, gab der Andere mit einer unfreien Verbeugung zurück. Indes – war es Anasthases Beruf, der ihm so sehr zusagte, oder war er froh, daß es ihm gelungen, wenigstens sein Haus hinter sich und dem Eindringling zu verschließen – er war von diesem Augenblick an ein Anderer: Befreit mit einem Schlage von aller Scheu, lebhaft und sicher im Gespräch, sprühend von Laune und Witz. So, daß Anasthase, der sich vor Erstaunen über die jähe Veränderung nicht zu fassen vermochte, Mühe hatte, diesem blitzenden Geist auf seinen oft versteckten, immer raschen Wendungen nachfolgen zu können. Wie wenig glich der Mann, der jetzt voll Sarkasmus, ja voll Zynismus das Gespräch führte, dem hilflosen Hausherrn von vorhin! Und wie wenig erinnerte er noch an den Vater! Das Umfassende seiner Betrachtungsweise und die großen Kenntnisse, die er – scheinbar ganz gegen seine Absicht – dennoch verriet, verwunderten Anasthase hingegen gar nicht; das alles hatte er vorausgesetzt.

Noch interessanter wurde er Anasthase durch einen Vorfall, herzlich unbedeutend an sich:

Auf ihrem Wege kamen sie an einem großen, strahlenden Café vorbei. Anasthase machte – weiß Gott warum – den Vorschlag, einzutreten. Und Saul Ring – hier dürfte nicht einmal Gott wissen, warum – stimmte nach einigem Zögern bei. Anasthase ging voran. Durch die Drehtüre. Und wartete im Lokal. Aber Saul Ring kam nicht nach. Sollte er etwa – –?! Von jäher Bitterkeit erfüllt – so beiläufig, als hätte die Geliebte ihn treulos verlassen – stürzte Anasthase durch die Drehtür wieder auf die Straße hinaus. Nein! Da stand er noch immer. Und lachte, als er Anasthases bestürzte Miene gewahrte. 86 Die sich nun freilich wieder aufhellte. »Ja, stellen Sie sich das nicht so einfach vor, Verehrtester!« rief er ihm entgegen, ein wenig fettig, aber voll bezwingender Heiterkeit. »Es ist nur fünfzehn Jahre her, seit ich ein solches Bollwerk der Behaglichkeit zum letztenmal betreten habe. Die Kultur hingegen schreitet schnell und – sagen Sie, was ist denn das für ein diabolischer Mechanismus jetzt, der mich immer wieder auf die Straße hinausschleudert, während er Sie anstandslos durchließ? Ist das etwa ein Strafautomat, haha, der nur auf Zivilisationsverächter wie mich einschnappt?!«

»Ach – die Drehtür!!« lachte Anasthase verstehend mit; gerührt und von warmer Herzlichkeit für seinen weltfremden Begleiter durchdrungen. »Sie sind jedenfalls auf der falschen Seite eingedrungen. Das läßt die Vorrichtung sich natürlich nicht bieten! Bitte halten Sie sich diesmal genau hinter mir!«

In diesem Augenblick spie die Drehtür einen älteren Herrn vom belanglosen Aussehen eines Konfektionsgeschäftsinhabers auf die Straße. Auf seinem feisten, glattrasierten Gesicht malte sich ein ungeheueres Staunen, da er Saul Ring erblickte. »Komplement, Herr Ring«, überschlug er sich. »Ja – Sie?! So was! Wie geht's Ihnen bittsi? Wie lang ham wir uns bittsi schon nicht gesehn?! Eine Ewigkeit mindestens!«

Saul Ring gab den Gruß zunächst überhaupt nicht zurück. Erst, während er sich hinter Anasthase durch die Drehtür hindurcharbeitete, lachte er dem verdutzten Bekannten über die Schulter hinweg zu: »Allerdings! Bei der Assentierung, glaube ich, zum letztenmal!« rief er und nickte verabschiedend.

Wo war dieser Mensch denn all die Jahre hindurch, 87 so unsichtbar? Und wie lebt er? – dachte Anasthase, der den Antiquitätenhändler schon nahezu geheimnisvoll fand.

Im Café, eingekeilt zwischen geräuschvoll geschwätzige Tölpel, rückte Saul Ring mit großem Unbehagen auf seinem Sessel hin und her, schwitzte stark. Er war auch in kein nennenswertes Gespräch mehr zu ziehen. Da bemächtigte sich Anasthases Besorgnis, der unerfreuliche Aufenthalt hier könnte den scheuen Menschen für den Rest des Abends abschrecken – eine wahrhaft quälende Befürchtung! Denn seit er an dem sonst so unterrichteten Manne die Zeichen solch krasser Weltunberührtheit wahrgenommen hatte, warb er erst recht angelegentlich um seine Gesellschaft. Er zahlte daher in Eile und drängte selber zum Aufbruch.

Sie gingen, die Luft war lau, in den Englischen Garten. Stunde um Stunde verplauderten sie dort auf Wegen und Bänken. Saul Ring sichtlich sehr angeregt. Mit nie ermüdender Anteilnahme ließ er sich von Anasthase über das heutige Frankreich berichten. Bald hatte er herausgefunden, daß der junge Mann Urteil allein in künstlerischen Fragen besaß, ja daß er außerhalb dieser Dinge fast von nichts wußte. So beschränkte er das Gespräch denn auf Kunst, endlich ausschließlich auf Musik. Anasthase war es recht: hier konnte er in Erstaunen setzen. – Er seinerseits hatte nicht lange gebraucht, um festzustellen, daß sein Inquisitor auf den verschiedensten Wissensgebieten und in verblüffendem Ausmaß unterrichtet war, und daß er dort, wo Anasthase besser beschlagen war – in Fragen der jüngsten Musik zum Beispiel –, mit einer geradezu gespenstischen Hellhörigkeit herausfand, was in seinen Ansichten nicht zu Ende 88 durchdacht war. War er Anasthase aber einmal auf eine Flunkerei draufgekommen, dann sparte er auch nicht mit Berichtigungen voll bösartiger Ironie. Was Anasthase in keiner Weise verletzte. Im Gegenteil; er nahm alles mit zufriedenem Auflachen hin . . . Ihm genügte es – und das war in seinem Leben gewiß zum ersten Male der Fall – einfach zu plaudern; es lag ihm in keiner Weise daran, irgendeine Erkenntnis aus dieser Unterhaltung davonzutragen. Er fand nur ungewöhnlich viel Vergnügen daran, vor diesem Saul Ring, der wie kein anderer zuzuhören verstand, gerade vor ihm sein ganzes musikalisches Wissen einmal auszubreiten. Er redete, redete so schwungvoll und eifrig, als ginge es um sein Leben. Und die tiefe Befriedigung, wenn er einen Autor oder ein Werk nannte, das der Andere nicht kannte! – Bis er endlich den Eindruck hatte, er habe sich nun genügend als Geistesmensch legitimiert. Da freilich hätte er es gerne gesehen, wenn nun Saul Ring seinerseits mehr aus sich herausgegangen wäre.

Nur einmal bisher hatte dieser sich plötzlich am Problem entzündet und mit großer Schlagkraft einen Standpunkt vertreten, den gegenteiligen: Als nämlich Anasthase Mozart, und mit ihm die Musik des Rokoko überhaupt, als gedankenlos und darum wertlos bezeichnete.

So durchdrungen Anasthase von dieser Überzeugung immer gewesen war und so verzweifelt er sich auch jetzt wieder wehrte: er mußte seinen Standpunkt schon nach kurzem aufgeben. Denn Saul Ring erwies sich als ein so tiefer und feiner Kenner des Rokoko, daß in seiner Darstellung sogar der (Anasthase grundzuwidere) Begriff von der »Anmut der Empfindungen« plötzlich Sinn 89 gewann und beinahe Reiz; ja daß er sich auf einmal sogar eine »anmutige Tragik« vorstellen konnte. –

Mancher hatte schon versucht, Mozart gegen seine wütenden Angriffe zu verteidigen. Vergeblich. Anasthase konnte diese Musik einfach nicht ausstehen. Ein Mozartverehrer, maßlos gereizt, hatte ihn am Ende einer hitzigen Debatte sogar einmal Scheißkerl genannt. Vergeblich. Und jetzt auf einmal dieser Saul Ring! Einige Worte – und Anasthase verstand staunend das Rokoko, verstand Mozart. Freilich nicht ohne bitteren Geschmack auf der Zunge. –

Als er noch staunte, hörte er Saul Ring hinzufügen: »Übrigens – Sie nannten da vorhin Darius Milhaud als einen der Ihrigen. Das ist doch wieder Mozart! Schwelgerisches, sorgloses, unproblematisches Drauflosmusizieren – ausgesprochen mozartisch! Oder nicht?«

Das saß. »Nnnnnnn–un: ja!« konnte Anasthase nicht anders. »Bestimmt. In der Art, im Stil. Nur – –: Indem die Form – bei Milhaud von völlig neuartiger Harmonik erfüllt – vergessen gemacht und vergeistigt wird, ist es doch wieder etwas wesentlich Anderes . . .«

Da blickte Saul Ring ihn von der Seite spöttisch an: »Bequem! Die eineinhalb Jahrhunderte, die dazwischen liegen, bei der Beurteilung einfach fortzulassen. Sie werden zugeben, daß – –«

»Ja. Ich gebe zu!« rief Anasthase. Denn er fühlte selbst nur zu deutlich, wie er da entgleist war. Nach einigen Minuten Schweigens, in welches Saul Ring leise hineinlachte, setzte er dann in bekümmertem Ton hinzu: »Ach – was gewinne ich aus dem allem wieder anderes als die Überzeugung, wie schwer, wie unmöglich beinahe es eben ist, in Kunstfragen eine Formel zu finden – eine 90 Formel nämlich, die auf jedes Beispiel anwendbar wäre! Wenn ich schon bei der Beurteilung Mozarts stolpere, zu dem wir Heutigen doch fraglos schon Distanz gewonnen haben, was denn erst . . . –! Teufel, seit Jahren – seit Jahren, Herr!! vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht ohnmächtig wütend erkennen müßte, wie ich, statt ihr näherzukommen, mich ständig weiter von einer Lösung der Frage Wagner . . .«

Betroffen vergaß Anasthase den Satz zu vollenden.

»Nun? Was ist es mit Wagner?« beharrte Saul Ring.

Anasthase schwieg. – Sollte dieser Saul Ring ihm vom Zufall nicht zugeführt worden sein, damit er ihm zu der ersehnten Klarheit verhelfe: zu einer sachlich befestigten Einschätzung Richard Wagners? Ein Mensch, dem es gelungen war, ihm den Geist der Mozartschen Musik in kurzem so nahezubringen, vermochte vielleicht sogar . . . Wagner . . .?!

Und mit dem Ungestüm eines Verzweifelten, dem sich plötzlich doch ein unerwarteter Hoffnungsstrahl zeigt, begann Anasthase die jahrelange Qual seines Schwankens zu schildern; wie er, überzeugt von der Verlogenheit und Übertriebenheit der Kunst Wagners, von ihrem Feueratem doch immer wieder hingerissen wurde. Wie dieser Zwiespalt aber nicht lange auf die Frage Wagner beschränkt blieb, sondern bald verhängnisvoll an die Kernfrage rührte, rühren mußte: Gibt es eine moderne Musik – und was ist ihr Wesen? – Daß er, immer, wenn er Antwort auf diese Frage geben sollte, von Scham ergriffen wurde, wenn er, der die neue Richtung gerade durch das Unfeierliche und Unpathetische gekennzeichnet sah, sich da auf seine eigene fatale Wagnerbegeisterung besann. Die seine gesamte Kritik in Frage stellte. 91 Denn eines war ihm nur zu klar: Fand man wirklich und wahrhaftig Geschmack an der neuen Kunst, dann mußte, mußte man Wagner abscheulich finden. Oder umgekehrt. Aber doch jedenfalls eines von beiden! Bei ihm aber war es so, daß er, der im Modernsten, ja im Extremsten wurzelte, natürlich auch eine einleuchtende Begründung fand, warum Wagner heute abzulehnen war; daß er in seinem Empfinden sich aber doch nie der zwingenden Wirkung verschließen konnte, die das teuflische Blendwerk dieser Kunst auf ihn ausübte. War er also minderwertig, kritiklos? Dann hatte er seinen Beruf verfehlt! Oder neigte er gar nicht zur Moderne, sondern eben zu der Art Wagners hin? Beziehungsweise umgekehrt? Und wenn – ob so oder so –, inklinierte er mit oder ohne Berechtigung? Oder ließe sich am Ende doch beides irgendwie in Einklang bringen? Nein! Gewiß nicht! – Oder doch? Herrgott, wo war da ein Ausweg!??!

Saul Ring hatte anfangs, als er sah, daß Anasthase Miene machte, sich länger über Wagner auszulassen, ein starkes Unlustgefühl verspürt. Für ihn hatte es da niemals Zweifel gegeben. Ein zu klarer Fall, der »Fall Wagner«, um sonderlich interessant zu sein! Jetzt aber, da er aus Anasthases Darstellung herauszufühlen begann, daß es sich bei ihm um mehr als um ein gewöhnliches Problem handelte, daß es vielmehr fast ein Schicksal war, das der junge Franzose vor ihm aufrollte – da hörte er aufmerksamer hin. Und schließlich riß ihn Anasthases Hitze so weit mit, daß er selbst fast mit Leidenschaft von der Frage ergriffen wurde.

Nur fehlte der Diskussion von Anfang an die gemeinsame Basis. Saul Ring, fähig, sich unverirrbar in die 92 geistige und künstlerische Betätigung jedes Zeitabschnittes historisch einzufühlen, beurteilte somit auch Wagners Kunst ganz aus der Gedanken- und Empfindungswelt ihrer Zeit heraus. Wohingegen die Argumente Anasthases bald völlig vom Geiste des »Heute« bestimmt waren. Dadurch wurde Anasthase auch immer hitziger zum Angreifer, und Saul Ring, im Bestreben, den Boden einer kühlen Sachlichkeit doch nicht ganz zu verlieren, allmählich in die Verteidigung Wagners gedrängt. Wenn es ihm zeitweilig zu Bewußtsein kam, daß er hier den Anwalt Richard Wagners spielte, konnte er freilich nur mit Mühe den Ernst bewahren. Denn seine Geistigkeit war stets in unbeeinflußbarer Weite entfernt von der Welt Wagners gelegen. – Erst nach einigen Stunden Aneinander-vorbei-Redens, während welcher Anasthase, im Bestreben, einzelne Melodien und Motive möglichst klangfarbengetreu zu zitieren, durch ein Aufgebot an höchst grotesken Stimmeffekten mehrere in den Parkanlagen nächtigende Liebespaare und Bezechte aufgeschreckt hatte, gelang es ihnen endlich festzustellen, daß man auf diese Weise zu keinen bestandfähigen Ergebnissen gelangen könnte.

Als sie, schließlich doch ermüdet, im Morgendämmern heimgingen, entdeckte Anasthase am Maximiliansplatz irgendwo angeschlagen:

BAYREUTHER WAGNERFESTSPIELE.

Darunter das Bild einer Brünhilde in jägerisch vorgeneigter Haltung. Bei diesem Anblick blieb Anasthase stehen, verzerrte leicht selbstparodistisch das Gesicht und schüttelte drohend die Faust gegen das Plakat. Sehr zur Belustigung Saul Rings. Plötzlich wieder ernst, 93 erklärte Anasthase, eigentlich müßte er Wagner einmal in Bayreuth gehört haben. Vielleicht käme er gerade dort von dem »verhaßten Charmeur« los. Denn bei den sonstigen unzulänglichen Durchschnittsaufführungen sei er stets geneigt, alle Mängel weniger auf das Werk als auf die unvollkommene Wiedergabe zurückzuführen. In Bayreuth aber fiele das weg, er könnte also einmal streng und mitleidlos die Mängel des Werkes feststellen und – hoffentlich! – Wagners endgültiges Todesurteil in sich bilden.

Sobald Anasthase diese Idee gekommen war, ließ er auch nicht mehr nach, in Saul Ring zu dringen, daß er ihn auf dieser »Pilgerfahrt« begleite. Der erschrak und lehnte ab. Aber Anasthase bat mit so düsterer Glut, daß einige Vorbeigehende erstaunt stehenblieben und in Unkenntnis der Sachlage eher zu vermuten schienen, ein Korse bewege da einen schwäbischen Landgeistlichen orientalischer Physiognomie, daß er ihm bei der Vollstreckung einer Blutrache an die Hand gehe. –

Und vielleicht hatte die geplante Reise für Anasthase tatsächlich einen ähnlichen Charakter. Seit Jahren setzte er nun ungeheuerliche Anstrengungen daran, als beglückt überzeugter Verfechter der neuesten Kunstrichtung von Wagner endlich auch innerlich abzurücken, gegen den Reiz seiner Visionen kühl unempfänglich zu werden und seinen Traum zu verwirklichen: nämlich selbst in der glanzvollsten Götterdämmerung nur noch mit feinem Lächeln, die Beine übereinandergeschlagen und mit der Schuhspitze leicht taktierend, im Rezensentenfauteuil zu liegen und im Wohlgefühl dekadenter Verfeinerung – ähnlich wie im Zirkus – den Eindruck zu haben: hier wird jetzt, in einem Käfig, ein 94 schillerndes und feuerspeiendes monströses Vieh vorgeführt. – Bisher war alles vergeblich gewesen. Jetzt wolle er ein Letztes unternehmen, von dem er sich Heilung verspreche, so paradox es auch scheine: – Bayreuth!

»Sagen Sie, Herr Alfaric –«, sprach Saul Ring den Entrückten an. »Wenn Sie, statt solche Wunschträume zu spinnen, zum Beispiel die gleiche Leidenschaft daran setzten, Wagner etwas mehr als Historiker zu erfassen, schiene Ihnen das nicht am Ende doch zweckmäßiger?«

Anasthase starrte ihn an, etwas aus der Fassung. Freudig durchfuhr ihn dabei ein Erschrecken: Halt! dachte er, Wagner einfach historisch nehmen! War damit der ersehnte Ausweg nicht bereits gefunden? Aber natürlich! Das Wagnersche Gesamtkunstwerk als historische Zeiterscheinung betrachtet – wie die Oper Glucks etwa, zweifellos genial also, wenn man nur den Geist einer längst verflossenen Epoche darin zu erkennen sucht, doch im höchsten Maße unaktuell, unverdaulich und unfaßbar dem heutigen Menschen – – das barg dann keine Zweifel mehr und keinen Zwiespalt zwischen Überzeugung und Empfinden! Wie war er nur auf diese ureinfache und einleuchtende Lösung nicht schon längst gekommen?!

So dachte Anasthase. Aber so freudig dieser Gedanke ihn auch berührte, er ließ nichts davon laut werden. Merkwürdigerweise. Und er tat gut daran. Denn Saul Ring hätte gewiß einen naheliegenden Einwand erhoben, der auch Anasthases Zuversicht rasch wieder vernichtet hätte. Vielleicht war Anasthase im Innern aber selbst nicht so sehr überzeugt. Denn was er endlich antwortete:

»Wie dem auch sei, jedenfalls auf nach Bayreuth!«

Und das sagte er nicht ohne Pathos. –

95 Saul Ring begann schallend zu lachen: »Da haben Sie nun eben im Ton, in dem Sie das sagten, eine der Ihnen so unangenehmen Aktschlußsteigerungen vollführt. Schämen Sie sich, Sie Wagnerianer! Haha!«


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