Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

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16.

Zart quillt aus dem Orchester Nachtstimmung. Ein Bach murmelt. Bange Sehnsucht zittert in weicher Luft. – Der Vorhang rauscht auseinander: Die Terrasse der Burg König Markes, der Park – in Nacht getaucht. Jagdhörner des Königs und seines Gefolges, immer ferner . . . Sie haben nichts vom kecken, werbenden Klang ihrer Art an sich. Weich und traurig verschwebt ihr Ton . . . Zwei Frauengestalten, blaß und dämmerhaft . . . Ungeduldig lauscht Isolde den Hörnern nach. Schwül und lockend ist die Musik, die sie voll Todesahnungen umschmeichelt. Doch gierig gibt sie sich ihr hin. Die Dienerin steigt auf den Söller der Burg, um zu wachen. Entschlossen gibt Isolde dem Geliebten das Zeichen. Und in maßloser Erregung fiebert sie seinem Kommen entgegen. – Hemmungslos vorwärtsstürmend die Musik der 118 Erwartung. Drohend mischen unheimliche Bläserstimmen sich in das Allegro, aber die Geigen, die unaufhaltsam einem Ziel zutaumeln, stürmen gleichsam über sie hinweg. – Anasthase berauscht sich am Rhythmus dieser Stelle – sie war ihm sonst stets höchst gemacht vorgekommen. – Tristan erscheint. Grelles Dur-Fortissimo. Strahlend verschmilzt seine Stimme mit der Isoldes: trunkene Liebesworte. In der Umarmung aber schwindet ihre Unrast, beglückender Friede hüllt die todgeweihten Herzen ein. – Da muß Anasthase an Saul Rings Wort denken vom Inhalt der Großartigkeit. Ist hier Inhalt? Immer verläuft es bei Wagner gleich: Die maßlos gesteigerte Leidenschaft der Erwartung und dann – die überquellende, doch ziel- und wunschlose Ruhe der Erfüllung. Aber – erfüllt sich denn hier jener jagende fiebrige Wunsch, der die Erwartung durchglühte? Geschieht denn etwas? – – Sanft läßt Tristan die Geliebte an seiner Seite auf eine Bank niedergleiten. Ein Sang voll Innigkeit und Todessehnen macht beide in Träumen hinsterben. Leidvoll schwelgt eine trübe harmonische Wendung. Brangänens ferne Stimme kündet den Morgen. Einige uneingestandene Traurigkeit mischt sich in die erdentrückte Verklärtheit der Liebenden . . . Ein häßlicher Ton. Kurwenal und Brangäne stürzen herbei – zu spät. Von Tristans Widersacher, Melot, geführt, steht König Marke bereits vernichtet vor der unfaßbaren Tatsache: Tristan ein Verräter! – Tristan erhebt sich mit schmerzerfüllter Ruhe. Er sieht den Freund, den Vater leiden und leidet mit ihm. Sterbensmüde findet er aber nicht mehr die Kraft, zu verstehen und zu erklären. Will Isolde ihm in ein fernes Dämmerland folgen, das er selber nur ahnt? Melot will in dieser 119 Aufforderung nur einen neuen Schimpf des Königs und der sittlichen Weltordnung erblicken. Niedrig macht er sich Tristans Entrücktheit zunutze, dringt auf ihn ein. Tristan wehrt sich schlecht, fällt . . .

Mit ihm der Vorhang. Applaus, etwas zaghaft im Massengefühl einer Verpflichtung zu Andacht und Weihestimmung. (Kirche oder Arena? – das ist hier die Frage.) Keiner der Darsteller erscheint, um für den Beifall zu danken, das heißt: ihn anzuspornen. (Also doch: Kirche!) Das Klatschen verebbt.

Mit einer jähen Bewegung preßt Anasthase eine Hand an die Augen, dann verläßt er benommen das Haus. Er blickt weg von dem Freund, der draußen an seine Seite tritt. Faßt nur nach seiner Hand: »Adieu, Herr Ring. Ich muß jetzt allein sein.« Saul Ring erwidert den Händedruck in eigener Weise. Da erst sieht Anasthase ihn an. Er schrickt leicht zusammen, denn er blickt in ein fast unbekanntes Gesicht: Sterbensmüde, glanzlose Augen, verfallene Wangen, Schatten überall. Der zynisch-verzweifelte Ausdruck um den Mund ist verschwunden; ein tiefer, fast heiterer Ernst verschönt das kranke, fahle Antlitz. Nur eine Sekunde lang hat Anasthase den Schein dieses neuen Gesichtes – er will den Freund zurückrufen – da ist er bereits durch eine Menschenmauer von ihm getrennt. Eine unerklärliche Bangigkeit durchdringt ihn . . .

»Warum sie nur heuer nich'n Tannhäuser jeben?« schlägt eine kernige Männerstimme an sein Ohr.

Blind, täppisch schwankt Anasthase durch das Menschengewühl. Lange kann er sich von seinen Gedanken nicht frei machen, die schmerzlich um Saul Ring kreisen. Im Restaurationsgarten läßt er sich endlich an einem 120 Tisch nieder, bestellt ein Getränk. Sein Hirn läutet Sturm. »Wie guter Dinge war dieser Saul Ring, waren wir beide noch am Vormittag! Ah, diese Musik vergiftet! Die unheimliche Veränderung in seinem Gesicht, in seinem ganzen Wesen kann doch nur – mittelbar oder unmittelbar – durch die Musik hervorgerufen sein! Freilich – er ist unmusikalisch. Da mußte es ihn umwerfen! Da mußte es ihn umwerfen . . . Mich selbst aber – was soll ich es leugnen? – – hat niemals ein Werk so im Innersten aufgewühlt als dieser ›Tristan‹ heute! Liegt also wirklich ein so ungeheuer wahrer Wert auf dem Grund dieses Werkes, daß immer, wenn es erklingt, alle Einwände, alle Zweifel vor seiner zwingenden Größe ins Nichts verfließen? Oder ist es gerade allerniedrigstes Blendwerk? Mein Gott! Wie sich da noch zurechtfinden? Ist es nicht Blendwerk, dann war mein Glaube an die neue Kunst also Irrglaube! War Irrglaube – gewesen . . . Mein Geschmack ein perverser! Oder alles war – noch schlimmer – Snobismus . . . Ich aber muß wohl endlich Klarheit finden, muß mich endgültig entscheiden! Klarheit finden und mich endgültig entscheiden . . . Ich kann mein modernes Kunstideal doch nicht aufrechterhalten, wenn ich so empfänglich für diese Musik bin! So empfänglich . . . Bei mir geht es immerhin um mehr als bei Saul Ring: es rührt an meine Existenz. Himmel, aber kann es denn möglich sein, daß in der Kunst wirklich nur das Seriöse und Idealisierte Bestand und Wert hätte, das Zurechtgeschminkte? – warum sollte ich es nicht so nennen?! Und das Verfeinerte, Nuancenreiche, im Ausdruck Schlichte, leicht Spöttische oder so köstlich Lethargische der Kunst unserer Tage, das gerade die unerforschten Saiten unseres Wesens ins Schwingen versetzt, 121 dies wäre wirklich nichts anderes als Spielerei, Geistreichelei?! – Vereinen läßt sich beides entschieden nicht. Anerkennt man das eine, verwirft man gezwungenermaßen das andere. Ich muß mich aber zu einer Überzeugung durchringen, ich muß, zum Teufel! Mein Gott! Warum hast du mich auch gerade mit Wagner heimgesucht? Warum nicht lieber mit einem Primitiven – einem Musikdramatiker des vierten Jahrtausends vor Christus meinetwegen –, das wäre so leicht zu vereinen gewesen! – Historisch nehmen, haha – eine Kunst, die heute noch so unmittelbar wirkt, daß sie aus einem gesunden frohen Historiker einen kranken verzweifelten macht? Armer, dummer Saul Ring! – Halt! Vielleicht ist da noch ein Ausweg: Gerade der ›Tristan‹, aber nur dieser, ist Wagners zeitloses Meisterwerk; ich hatte doch immer schon den Eindruck, daß es dem modernen Empfinden weitaus am nächsten kommt. Deswegen könnte man den übrigen Wagner immerhin ablehnen, nicht? Jawohl – noch hab ich keine Ursache zu verzweifeln: ich bleibe hier! Und höre mir den ganzen ›Ring‹ an!« – Anasthase richtet sich auf und blickt mit einer Grimasse, etwas stier, in die Luft. »Und wenn erst das Wagalaweia und das Hojotoho und Hoiho losgeht, dann werde ich vielleicht doch noch Distanz zu den geistigen Ablagerungen dieses Schurken mit dem Barett und dem gelben Atlasfutter finden! Wenn endlich auch das nicht hilft – meiner Seele – dann bleibe ich noch zum ›Parsifal‹!!«

Der Kellner, der die bestellte Limonade bringt, blickt leicht befremdet auf Anasthase: »Ist Ihnen schlecht, mein Herr?« Da kommt Anasthase für einen Augenblick zu sich. Wütend entgegnet er: »Wundert Sie das vielleicht? 122 Wenn ein denkfähigeres und gewissenhafteres Publikum hierher käme, müßten Sie an diese Erscheinung bereits gewöhnt sein!«

Der Kellner entweicht kopfschüttelnd vor Anasthases entmenschtem Blick.

Nach diesem Ausbruch gewinnen in Anasthase von neuem die Melodien aus dem nächtlichen Garten der traurigen Tristanliebe schmerzvoll süße Gewalt. Er stützt den Kopf in die Hände und träumt ihnen nach.

Jemand in seiner Nähe flüstert: »Die Erda!« Anasthase schaut mit unwilliger Bewegung auf. Eine große, faszinierende Frau tritt gerade an den Nebentisch, begrüßt Freunde. Sie trägt ein Märchen von einem rotvioletten Kleid, das am Rücken tief ausgeschnitten ist und die Arme freiläßt. Die Haut ist mattes Braun mit Perlmutterglanz. In der Mitte des bildhaften Rückens läuft eine dunkle wollüstige Gerade nach unten. Die hohe Gestalt wirkt imperatorisch, soweit ihre gefesselt-üppigen Formen diesen Eindruck nicht niederziehen in die schattenhaften Bereiche vergangener Sexualträume. Die Füße sind von dünnen, geschmeidigen Satinschuhen der gleichen rotvioletten Farbe umflossen. Anasthase vervollständigt das Bild durch die Vorstellung einer tiefen, traumhaften Altstimme. Und läßt keinen Blick mehr von der Erscheinung. Seine vibrierenden Sinne beschwören Traumland herauf.

Die Erda vor ihm wird zu einem erregten liebesdurstigen Weib, das in der Trunkenheit der Erwartung durch einen sommernächtlichen Park taumelt. Anasthase wirft sich schauernd in ihre Arme – er ist ebenso herrlich, so mächtig als sie. Mit tiefem Klang stammelt sie Liebesworte, nennt ihn: Pelleas. Ihre Brust fiebert an der 123 seinen. Er versenkt seine Hand in den Rückenausschnitt ihres rotvioletten Kleides – da berührt er den Schmuck. Und wie er nun seine Lippen leidenschaftlich auf ihren Hals preßt, löst er das kalte Geschmeide, läßt es zu Boden fallen. Jetzt kann er mit zitternden Fingern ungehindert und schwelgerisch die köstliche Furche ihres Rückens entlang abwärts gleiten und die Schauer fühlen, die diesen Rücken durchjagen. In der Mitte des Parks winkt im Mondlicht ein steinerner Brunnen. Dorthin führt er die verlorene Frau, läßt sie auf den Stein nieder. Und streift das leuchtende Kleid von ihr. Den grandios-anmutigen Leib durchrinnt eine bange Bewegung der Scham. Im Anblick dieses Körperwunders versunken, klingt unaufhörlich in seinen Sinnen die trübe harmonische Wendung einer Debussy-Musik. – Zitternd neigt er sich über die in mattem Perlmutterglanz lockende Nacktheit, umf aßt sie – samtweicher Marmor überall – Schwellen – Lippen – . . .

Brutal ruft der Blechchor zum dritten Akt.

Anasthase schrickt zusammen. Dann lacht er gezwungen auf: »In diesem Bayreuth stört doch lediglich der Wagner!« Er erhebt sich und geht langsam auf das Festspielhaus zu. Vor ihm die »Erda« mit ihren Freunden. Siegfried Wagner kreuzt geschäftig ihren Weg: »Du träkst ja dein'n Schmugg am Puckel!« ruft er ihr zu.

Aber herrlich ist sie und herrlich schreitet sie, diese Erda! Ein Überweib!

Da legt sich von rückwärts eine Hand auf Anasthases Schulter. Saul Ring –?! Nein – der Kellner –? – »Der Herr haben vergessen, die Naturlimonade zu bezahlen!« ruft er in mühsam verhaltener Erregung. (Fürwahr ein gutgeschulter Kellner, der weiß, was sich 124 gehört: Selbst Zechprellern gegenüber: »Der Herr haben!«) Dieser Anasthase aber weiß das nicht zu schätzen. »Ich möchte das halt noch lauter herumschreien, Sie –!« faucht er den Betretenen an. Der Gedanke, daß es die »Erda« hätte hören können, ist ihm ungemein peinlich. Zudem ist es schon hohe Zeit, wenn er vor Beginn des Aktes noch seinen Sitz erreichen will. Hastig durchwühlt er seine Hosentaschen nach kleiner Münze. »Wieviel?« –

»Eine Mark fünfundsechzig, bitte sehr!« –

Verflucht! alles was Anasthase ans Licht fördert ist: eine Mark zehn. Und in der Brieftasche, dessen erinnert er sich jetzt dunkel, hat er bloß noch Hundertmarkscheine – er mußte sich vorhin schon von Saul Ring . . . Aber dem unverschämten Lackel, der ihn vielleicht für einen Zechpreller gehalten hatte, jetzt schuldig bleiben – unmöglich! Mit nervösen Fingern durchsucht er alle Fächer seiner Brieftasche: Tatsächlich, nur Hundertmarkscheine! Und die wenigen Leute, die außer ihm noch im Freien verspätet sind, laufen alle schon auf die Eingangstüren zu! Hastig zückt er – es nützt nichts – eine Hundertmarknote: »Da! Rechnen Sie fünf Mark, aber rasch!!«

»Hat der Herr nicht vielleicht Kleingeld?«

»Nein, zum Teufel!! Sonst hätte ich es Ihnen ja gegeben! Rasch!! Sie sehen doch –!«

»Einen Augenblick, bitte!« Und der Kellner, von Anasthases blinder Nervosität angesteckt, stürzt mit der Note verwirrt in den Restaurationsgarten zurück, verhandelt dort mit einem anderen Kellner.

Anasthase blickt gequält um sich: Niemand mehr vor dem Theater! Er läuft dem Kellner nach. »Ich komme 125 nach der Vorstellung zurück!« ruft er ihm zu, macht kehrt und jagt zu seinem Eingang (Nr. 12). Atemlos kommt er an. Die Türe ist geschlossen und wird von einem finsteren Diener bewacht. »Kann ich noch –?« stammelt er keuchend.

»Bedauere«, ist die lakonische Antwort.

Erregt, ratlos steht Anasthase. Noch jemand harrt vor der Türe: eine festlich gekleidete junge Dame; offenbar ist sie also vom gleichen Mißgeschick betroffen. Sie jedoch scheint sich bereits darein ergeben zu haben. Nicht so Anasthase. Immer noch überlegt er fieberhaft, wie er dem Türschließer beikommen könnte. Vielleicht Geld? . . . Aber, mit einer Mark zehn – unmöglich! – Innen, im Raum, erlischt eben das Licht. »Könnten wir nicht wenigstens eintreten und innen an der Tür stehen?« flüstert er bettelnd dem Diener zu. Unwillkürlich verficht er das Interesse der fremden jungen Dame mit.

»Ausgeschlossen. Strenge Vorschrift!«

Etwas wie erneuter Deutschenhaß regt sich bei dieser Entscheidung in Anasthases Brust. Vielleicht war hier sogar der Türschließer ein verbissener Wagnerianer, der ihm damit etwas beweisen wollte. –


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