Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

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10.

In dieser mentalen Bedrängnis wurde Anasthase die Wohltat einer Reise zuteil. –

Herr Bloume stattete ihn nämlich mit einem üppigen Scheck aus und entsandte ihn als Berichterstatter nach 53 Frankfurt auf das Internationale Musikfest. Nach Schluß der Ausstellung sollte Anasthase einige Wochen in Deutschland irgendwo noch seiner Erholung leben. Denn es war Sommer, und Herr Bloume – er glaubte blind an das Genie seines Schützlings, ja er erblickte in ihm den künftigen Musikkritiker von Paris – Herr Bloume hatte festgestellt, daß die Nerven des jungen Mannes durch die Überarbeitung bedenklich geschwächt waren. Anasthase, nachdem er seine anfängliche Scheu vor der Reise und dem Aufenthalt in der Fremde überwunden hatte, freute sich, Deutschland und die Deutschen einmal aus nächster Nähe kennenzulernen. Fast noch mehr aber bestrickte ihn die Aussicht, endlich eines jener gewaltigen Orchester zu hören, von deren Vollkommenheit ihm schon vieles berichtet worden war.

Fröhlich nahm er auf dem Bahnsteig Abschied von Frau Mathilde. –

In dem Blick, mit dem sie ihn umfing, verschwammen, etwas feucht, Stolz und einige Traurigkeit – ein Ausdruck, so warm und lieb, wie er nur aus den Augen der Mutter strahlen kann; Traurigkeit, nach deren Ursache sie gar nicht forschte, und Stolz, weil der interessante junge Mann, der hochgewachsen und in vornehmer Blässe vor ihr stand und der in einer so bedeutenden Mission – zweiter Klasse! – ins Ausland reiste, gerade ihr Sohn war. Vielleicht war es aber weniger der Gedanke an die damit verbundene Auszeichnung als vielmehr ein anderes: Natürlich hatte sie nur zu genau beobachtet, mit wie unverkennbarem Interesse das elegante junge Mädchen dort am Fenster des Nebenabteils Anasthase vorhin angeblickt, und wie enttäuscht ihre Miene geworden, als Anasthase dann das andere Coupé gewählt 54 hatte. Nun ja, er sah aber auch vornehm aus, in Reisekappe und Handschuhen! – Anasthase wieder bemerkte, daß die Mutter mehrmals Anlauf nahm, etwas zu sagen, schließlich aber wie in leichter Verlegenheit schwieg. Vielleicht hatte sie noch irgendeinen Wunsch – wie gerne hätte er ihr alles versprochen! Er drang in sie. »Gewiß soll ich dir einen geschmackvollen Hut aus Deutschland mitbringen, kleine Mama«, scherzte er.

»En voiture!« gellte es da. Und Anasthase – ohne ihre Antwort abzuwarten – stürzte das Trittbrett hinauf, mit der komischen Hast des reiseungewohnten Menschen.

Aber er war plötzlich bekümmert, und aus dem Fenster des Abteils gebeugt, forschte er noch in ihren Zügen: »Bedrückt dich etwas, Mama?«

»Nein, nein – im Gegenteil«, beeilte sie sich zu versichern, »das heißt: grüß Deutschland von mir!« Und da er ihr das, sofort erleichtert, in bester Laune versprach, errötete sie . . .

»Adieu, petite maman!«

»Adieu, mon fils, adieu! Et – sois sage!«

– Tränen? –

 

Frankfurt gefiel Anasthase ungemein. Er hatte auch keinen Augenblick die Empfindung, daß er sich in einem fremden Land befinde; das Bild der deutschen Stadt umfing ihn vertraut und längst gewohnt. So, als wäre es in Träumen schon oft vor ihm gestanden. Mit großem Interesse hörte er den Gesprächen der Leute zu – er verstand natürlich genügend Deutsch, um selbst dialektischen Sprachwendungen mühelos folgen zu können – und er freute sich kindlich, wenn er dabei Unterschiede 55 in Temperament, Denkweise und Lebensgewohnheiten der Deutschen zu jenen der Franzosen festzustellen glaubte. Besonderes Vergnügen bereitete ihm eine gewisse behäbige Würde, eine Durchdrungenheit von der eigenen Wichtigkeit, die aus Reden und Gebärden Einzelner drang, deren imposante Welt sichtbar in ihrem wacker gerundeten Bauche Platz fand.

Ein wesentlich anderes Deutschland lernte er allerdings in der gesamten Organisation, im kulturellen Gepräge der Ausstellung und in der Erstklassigkeit ihrer musikalischen Aufführungen kennen. Da war ihm, als hätte er niemals vorher ein philharmonisches Orchester gehört. Und er konnte nicht genug staunen, wie das eine oder das andere Werk, das in Paris ohne stärkeren Eindruck an ihm vorbeigerauscht war, in der Vergeistigung durch große Dirigenten hier geradezu Vision wurde.

Als offizieller Vertreter einer führenden französischen Revue war er überdies Gegenstand allgemeinster Zuvorkommenheit, und er hatte Gelegenheit, mit den bedeutendsten Gästen des Festivals persönliche Fühlung zu nehmen. Er merkte, daß im ersten Augenblick alle von seiner Jugend verblüfft waren. Deshalb war er auch doppelt besorgt, keine Blöße zu verraten. Nur: es trieb ihn, alle diese mitten in der Moderne stehenden Künstler über Wagner auszuholen, ihnen womöglich den eigenen qualvollen Zwiespalt zu entdecken. Aber, lenkte er das Gespräch auch noch so beiläufig auf diesen Punkt hin, immer begegnete er da Mienen, aus welchen eine höflich verhüllte Befremdung sprach, daß er sich nicht entblöde, ein Thema anzuschlagen, worüber in Fachkreisen längst nur noch eine Meinung bestand; Befremdung herrschte, geradeso, als hätte er etwa Beethoven diskutieren wollen. 56 Da gab er es natürlich sofort auf. Verbarg seine Beschämung, indem er, tauchte der Schemen Wagner bloß auf, fortan einfach wissend mit den Augendeckeln zwinkerte, oder neutral lächelte, oder auch zu hüsteln begann. Damit er, statt sich äußern zu müssen, nur eine Karamelle in den Mund zu stecken brauchte . . . Aber er hätte Unendliches darum gegeben, wenn er wenigstens das eine hätte erfahren können: ob nämlich all diese wissenden Prominenten Wagner eigentlich noch gelten ließen oder ob sie ihn ablehnten. Doch untröstlich über seinen »Defekt« – ja, das war Anasthase . . .

Gegen Ende der Ausstellung bestimmte man ihn noch zu einer Reihe von Vorträgen über zeitgenössische Musik in Frankreich. Er sprach aus dem Stegreif, erhitzte sich am Thema und brachte eine solche Fülle von Daten und von grunddurchdacht scheinenden Urteilen, daß in den meisten deutschen und ausländischen Blättern seine Vorträge zu den interessantesten des Musikfestes gezählt wurden. Herr Bloume sandte ihm in einem höchst befriedigt klingenden Schreiben einen weiteren Scheck und ermahnte ihn von neuem, jetzt aber einige Wochen einzig seiner Zerstreuung zu leben. Noch größere Freude bereitete Anasthase jedoch ein seliger Brief der Mutter; ihr hatte er natürlich in erster Linie alle von seinen Vorträgen handelnden Zeitungsausschnitte geschickt. Und soviel Lebensdrang war mit einem Male in ihm, daß er schon auf dem Punkte war, sich zu fragen, ob im Grunde überhaupt eine Notwendigkeit bestünde, daß er sich mit diesem albernen Problem Wagner weiter so fruchtlos auseinandersetze und alle Gemütsruhe daransprenge. Wo es doch anscheinend völlig ausreichte, einfach mit den Augendeckeln zu klappen oder indifferent zu lächeln! 57 Gerade hier hätte man solch »wissendes« Schweigen von seiner Seite überdies als eine Art internationale Höflichkeit aufgefaßt, etwa: Aha, der junge Franzose da hat die quatschige Stelle in unserer Musikgeschichte wohl erkannt, aber er schweigt höflich, weil es schließlich doch um einen repräsentativen deutschen Künstler geht! – –

Schade, daß er für diesen Standpunkt auf die Dauer zu seriös war!

Einstweilen beschloß Anasthase, da er sein Studium der bildenden Künste gegenüber jenem der Musik und selbst dem der Literatur von jeher vernachlässigt hatte, beschloß der ekelhafte Mucker, einen Teil seines Erholungsurlaubes in München zu verbringen, um die berühmten Bildersammlungen zu besichtigen. Allerdings nahm er sich fest vor, sich daneben (daneben!) auch etwas zu zerstreuen.


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