Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

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7.

Ein Abend, der im Ausschnitt des Waggonfensters über rußigen Feldern dunkelt – Fabriken – entgegendonnernde Züge – Lichter: rot, grün . . . Schall, dumpf in der Bahnhofshalle gefangen – Bremsen kreischen – Dampf zischt – ein Ruck: Rufe – Gedränge – Schieben, Stoßen, Fragen, Erregung . . . Endlich sind Anasthase und seine Mutter im Taxi, zwischen Gepäckstücken mühsam verstaut. Und schon geht es weiter. Am halbblinden Wagenfenster ziehen Vorstadtstraßen vorbei, wimmelnd von Menschen und Fahrzeugen . . . Doch immer noch dichter wird der Verkehr. Häufig steht der Wagen und wartet, eingekeilt in einer endlosen Kette von Fahrzeugen. Straßen sind es jetzt, so breit wie zu Hause der Hauptplatz – hell durchdringen Fluten weißen Lichts den milchigen Nebel – zucken farbige Lichtströme quer über die Boulevards und hoch auf den Dächern von Palästen – fein stäubender Regen spiegelt auf dem Asphalt . . . Ungeheuer weite Plätze, grandiose Gebäude – die Monumente jahrhundertelanger 36 Königtumsherrlichkeit – und maßlose Größe voll Eleganz überall –: Paris! – Allmählich wieder spärlichere Beleuchtung – frech vernachlässigte Straßen dann – Gassen endlich nur noch, über denen Gefangensein lastet . . . Der Wagen steht. Vor einem schmutzigen vielstöckigen Zinshause. –

Anasthase ist an der Schwelle seiner Zukunft.

 

Nach einigen Tagen dumpfer Verwunderung sah Anasthase von der Großstadt aber nichts anderes mehr als Konzert- und Theaterprogramme, in Auslagen zur Schau gestellte Musikalien, Bücher. Und in seinem Empfinden unterschieden sich die Dinge hier von denen im Städtchen an der Saône bald nur noch darin, daß die Menschen mehr störendes Gedränge verursachten, die Straßen und Plätze von Tosen, die Nächte von grellem Licht erfüllt waren, und daß die Tage, zerrissen von den Riesenentfernungen, die Anasthase zurücklegen mußte, jämmerlich kurz waren . . . Einmal freilich – es war ganz in den ersten Wochen – hätte er aufschreien mögen, als er, plötzlich wie aus einer Narkose erwachend, erkannte, wie kalt, ärmlich und unfreundlich die enge Vorstadtwohnung war, die er jetzt mit der Mutter bewohnte. Und da fühlte er auch wieder, wie sehr er im Innersten mit den lieben, vertrauten Räumen seiner Kindheit, mit dem geringsten ihrer alten Einrichtungsstücke verbunden gewesen . . . Voll schmerzlicher Sehnsucht mußte er da auch an den trostlos gelblichen, doch so ruhigen allabendlichen Schein der Gaslaterne zurückdenken vor seinem Fenster in der kleinen Stadt. – Er schrie aber nicht auf. Sondern er suchte dieses Gefühl, vor sich selbst sogar, zu unterdrücken, zu 37 verbergen. Und sehr bald hatte er auch wieder daran vergessen. Er merkte nicht einmal mehr, wie niedergedrückt Frau Mathilde war, wie unzureichend die Kost, die sie ihm bereiten konnte.

Er schien vollends gegen die äußere Welt hin erblindet zu sein.

Aber gierig stürzte er sich in den Rummel des künstlerischen Lebens der Hauptstadt. Symphonien, die er nur aus Klavierauszügen gekannt hatte, jetzt von Riesenorchestern gespielt; Bühnenwerke, die nun festumrissene Gestalt gewannen; Kammermusik, die ihm nie geahnte Klangschönheiten vorschwelgte – ein Strudel faszinierender Eindrücke! Manches wieder, das in seiner Phantasie noch großartiger geklungen, enttäuschte ihn freilich in der Verwirklichung. Doch positive wie negative Eindrücke waren ihm gleich willkommen. Denn alles war Nahrung, auf die er sich heißhungrig stürzte.

Und einmal wieder hatte er im Wuste dieses Gedanklichen auch eine menschliche Regung: Als er, lange vor Beginn, auf einem Wandelgang hoch oben der Großen Oper stand und den Prunk der Wände und Decken betrachtete, die glitzernden Farbflecke Menschen, die zwischen goldtressenglänzenden Dienern die Marmortreppen hinanstiegen. – Da hatte er mit einem Male, deutlich und ein wenig schmerzlich, den Eindruck, wie wenig er selbst darin mit all seinem Erkenntnisdrang bedeute. Daß es doch schön sein müßte – dachte er – so sicher und beachtet im Leben zu stehen, wie zweifellos dieser oder jener da unten! Aber gleich mit den ersten Tönen der Oper schwand all seine Bedrücktheit, und gefesselt gab er sich dem Eindruck hin. Wie immanenter Moder stieg etwas aus dem Orchester, aus den trottelhaft 38 stereotypen Gesten der Solisten und des Chores, aus dem Papiermaché-Prunk der Dekorationen, aus diesem ganzen gigantischen Kunstmausoleum Meyerbeers zu ihm empor . . .

Immerhin legte er fortan, ganz unwillkürlich, etwas Sorgfalt an seine Kleidung. –

Er jagte in Konzerte. Plünderte die Musikalien-Leihanstalten und Bibliotheken. Und jetzt waren es nicht mehr allein musikalische Fachwerke, die er las: Alles Geschriebene, was aus dem weiten Gebiete des Allgemein-Künstlerischen ihm irgendwie erreichbar war, verschlang er gierig. Ungeordnet, halbverdaut, planlos. Aber ganz von selbst ordnete dieser Wust des Gelesenen und Gehörten, den Anasthase seit langem in die Speicher seines unerhörten Gedächtnisses verstaute, sich allmählich zu einer Kunstanschauung, deren Kampfbereitschaft besonders im Musikalischen sich auf eine schwer zu besiegende Armee von zweifelerprobten und darum feststehenden Kenntnissen stützte.

Dort, wo persönlicher Umgang ihm eine Bereicherung dieses Wissens versprach, wich jetzt auch die Menschenscheu von ihm. Bald besaß er sogar wahre Geschicklichkeit darin, sich an gewisse Leute heranzumachen. Einige Prominente waren ihrerseits so verblüfft von der Menge seiner Notierungen und von dem Temperament, mit welchem er seine oft neuen Anschauungen vertrat, daß sie deren Bedeutung sogar weit überschätzten und Anasthase ihrem Kreise als ein Phänomen vorstellten. So war Anasthase bald daheim in den Zirkeln der lebenden Schaffenden, der Jüngsten vor allem; in der Gesellschaft der geistig Fruchtbaren und jener bloß intellektuell Teilnehmenden, die fast jeder Schöpfer in seiner 39 Umgebung hat. Er war dort, hochaufgeschossen, etwas vornübergebeugt in einer Ecke lehnend und bis zur Starrheit bewegungslos im Zuhören, um sich bei aller Sachlichkeit später um so leidenschaftlicher am Widerstreite der Meinungen zu beteiligen. Vielfach ein Fanatiker unter Snobs. Er kam in die Ateliers von Malern, an die Caféhaustische giftgrüner Literaten – –

Frau Mathilde verbarg oft nur mühsam ihre Befremdung darüber, mit wie einsichtslosem Gleichmut er die dazu nötigen kleinen, aber für sie doch sehr ins Gewicht fallenden Geldbeträge von ihr forderte.

Aber ein Zufall – (denn nur Zufälle tun das) – führte ihn schließlich auch mit dem Manne zusammen, dessen Hilfe es ihm fortan ermöglichte, nicht nur Konzerte und Theater unter angenehmeren Umständen zu genießen – auf Sitzplätzen nämlich und ein ausgiebigeres Nachtmahl verdauend –, sondern auch in den kümmerlichen Haushalt seiner Mutter einige Sorglosigkeit hineinzutragen.

Herr Bloume – Hochfinanz – Hauptaktionär herrschender Zeitungsunternehmungen und geheimer kommerzieller Staatsrat, Herr Bloume bedarf wie alle seriös in Zahlen arbeitenden Leute auch eines geistigen Steckenpferdes. Bei Herrn Bloume ist's die atonale Musik. Ja es scheint ihm, als würde er nur durch irgendein unverdient hartes und geheimnisvolles Geschick gezwungen, täglich am Telephon, im Jahre schließlich Millionen zu Millionen zu häufen, doch als wäre er seiner wahren Bestimmung nach vielmehr dazu in die Welt gestellt, die neueste Musik tatkräftig zu propagieren. Anasthase lernte ihn in einem Salon kennen, in welchem gerade das Quintett eines in Paris lebenden Russen für Flöte, tiefe 40 Frauenstimme, Cello, Saxophon und deutsche Oster-Ratsche uraufgeführt wurde. Die temperamentvolle Beredsamkeit und die Unerschrockenheit, mit welcher Anasthase nachher in die Diskussion über das Werk griff, blendeten Herrn Bloume. Und schon am nächsten Tage verpflichtete er Anasthase zu einer dauernden, unverhältnismäßig gut gezahlten Mitarbeit an einem seiner Blätter.

Neben einer bedeutenden wirtschaftlichen Erleichterung waren für Anasthase mit dieser Beschäftigung auch andere namhafte Vorteile verbunden. Die Legitimation eines Referenten der »Nouvelle Ere Musicale«, nicht zuletzt aber das langsam durchsickernde Gerücht, er sei ein Liebling des gewaltigen Bloume, sicherte ihm überall, wohin sein Interesse ihn trieb, Zutritt, eine gewisse autoritative Machtstellung sogar und – was ihm vorläufig noch am wertvollsten dünkte – die uneingeschränkte Benützung alles erdenklichen Studienmaterials. So brauchte er gar nicht lange, um mit der Schärfe seines kritischen Denkens allmählich auch in die dunkle Wirrnis einzudringen, in welcher die verschiedenen Strömungen der Moderne sich ihm darboten.

Er fühlte modern.

Denn der Notschrei nach einer neuen, starken Kunst klang auch in seiner eigenen Seele wider. Und in seinen eigenen hungernden Sinnen fühlte er, daß es die Sinne des neuen Menschen waren, die nach neuen Reizen verlangten, und daß diesen Hunger die alte Kunst nicht mehr zu stillen vermochte; denn was in ihr idealste Schönheit gewesen, das wirkte nun welk, dürftig, stilbefangen, wenn nicht geradezu unschön, unecht. Dort aber, wo die Ausdrucksmittel dieser alten Kunst wesenlos wurden vor der wahren Größe ihres Gehaltes – Inhalt, 41 so seherisch inspiriert oder so herzblutvoll gefühlt, daß das Werk sich wahrhaft zeitlos offenbarte –, dort erforderte sie von dem müdgehetzten und abgestumpften neuen Menschen ein so angestrengtes Sichversenken, daß das Genießen sich in eine sehr ernste, sehr wertvolle, doch eben darum letzten Endes trockene Pflichtschulstunde wandelte. Oder in eine Art Maiandacht manchmal. Überdies – und dagegen war nicht mehr anzukämpfen – selbst Standardwerke des Alten wie Beethovens Neunte: Anasthase kam nicht recht zu ihrem Genuß, so peinlich vermißte sein klangfülle-verwöhntes Ohr die Tuba darin, die Flügelhörner – –

In den Werken der neuen Richtung hingegen fanden die Sinne soviel reizvoll Überraschendes, der Geist einen so unmittelbar starken Anreiz – behaglichere Gemüter aber wenigstens soviel Kurzweil, daß die Frage sich einstweilen gar nicht aufdrängte, ob hier der Inhalt sich wohl auf der Höhe des Ausdruckes halten mochte.

Und die Verkünder des Neuen?

Urquell, aus dem alle Inspirationen strömten, war freilich nicht das Genie einzelner Menschen, waren vielmehr Geist und Wesen des Zeitalters selbst.

Denn die Menschen, die nun Anasthases ausschließlichen Umgang bildeten: Künstler, die schaffenden unter ihnen besonders, sie waren alle in irgendeiner Richtung vom Pulsschlag des Jahrhunderts bewegt. Und nicht müde, dekadente Ästheten waren es – wie Anasthase sich diesen oder jenen von ihnen früher vorgestellt hatte – nein: hochaktiv, vielseitig interessiert, frisch und kampflüstern waren die meisten dieser amerikanisch aussehenden Zwanzig- und Dreißigjährigen. – Was konnte Anasthase schließlich schon am Grade der 42 Aufrichtigkeit gelegen sein, mit der all diese so verschieden gearteten Existenzen ihre Begeisterungen und Empörungen auch tatsächlich fühlen mochten? Bewegung herrschte hier jedenfalls, Bewegung in seinem Fahrwasser, und Erwartung fieberte, die glühend auf das Neue gerichtet war.

Was Anasthases junges Herz stets mit einer besonderen Wonne schwellte: die jung-siegfriedhafte Respektlosigkeit, mit der die morsche Kunstgötterwelt des Höchst-Anerkannten und Längst-Gültigen hier in Trümmer geschlagen wurde; eine Respektlosigkeit, die niemals bübisch frech wirkte, die vielmehr zur Aureole einer fanatischen Kunstreligion wurde – – fröhliche Nihilisten, die vorgaben, erst auf den Trümmern der alten die neue, herrliche Welt zu errichten . . .

Und Anasthase hätte die Denkweise eines Oberlehrers erkannt, würde er sich da gefragt haben, was diese Zerstörer denn einmal an die Stelle des Zerstörten setzen wollten, ja ob ihre Kräfte überhaupt zum Aufbauen reichen würden. In jedem Falle war das bislang Herrschende reif zum Untergehen – darüber bestand für Anasthase, in der Musik wenigstens, auch nicht der Schatten eines Zweifels –: Beethoven war unwiderruflich Vollendung und Ende der gewaltigen Welt Klassik gewesen, die Neuromantik ein blutroter Schein bloß noch auf ihrem scheidenden Himmel . . . War aber der Impressionismus Debussys, dessen Geist heute noch so stark zu spüren war, war's schon Frührot der neuen Zeit oder gleichfalls nur Abglanz – ein anders, feiner getönter – von den Flammen dieses großen Untergehens? – –

Hier entglitt Anasthase die Frage in graue 43 Ungewißheit. Die großen Lebenden endlich? Vielleicht kam ihnen wirklich nur die Bedeutung von Vorläufern zu; doch berechtigten sie dann nicht gerade zu bestimmterer Hoffnung? Denn – hosianna – dann mußte er doch kommen, der Ganz-Große, der Messias, das neuerrungene Sinnenreich der Töne mit dem Blute seines großleidenden Herzens zu erfüllen! Vielleicht wandelte er sogar schon in ihrer Mitte, ein Unbekannter oder ein Spottbedeckter; oder er war hinter einer jener amerikanischen Masken verborgen? – –

Nein! Anasthase, wenn er an diesen atonalen Heiland dachte, dann erwartete er ihn irgendwie vom Osten . . . Ein Russe – –

Ein stürmisch zuversichtlicher, ein jubelnder Glaube an das Neue und skeptische Mutlosigkeit wieder wechselten ziemlich jäh in Anasthases Empfinden ab. Ja, gerade wenn die Schlagkraft des Gegenwärtigen sich ihm aus einem neuartigen Werke besonders zündend mitgeteilt hatte, gerade dann neigte seine Stimmung dazu, war der Klangrausch einmal gewichen, in ein Gefühl von Schalheit und Leere umzuschlagen. Aus welchem Gefühl dann recht schwarzseherische Gedanken emporwuchsen. Diese Neutöner, schien es ihm da, bewegten sich alle doch recht ferne von jener Sphäre letzter Innerlichkeit, die wohl allein zu den einsamen Gipfeln der Erfüllung führt: zu einer überirdisch erhabenen, weltfern eisigen Kunst. Und wie höllenentstiegene Hohngeister kamen die Lebenden ihm dann vor, Hohngeister, die auf den noch rauchenden Trümmern einer vormals unermeßlichen Kathedrale der Reinheit sich zu Maschinenrhythmen jetzt in einem Grotesktanze schänderisch verbanden, Inhalt und Gestalt des Heiligsten auflösend 44 verzerrten und mit den Giften schwelgerischer Müdigkeiten und der Paroxismen durchsetzten, verjazzten . . .

Nein, sie waren für das Reich eines Neuen Heilands noch zu wild oder – zu skeptisch; zu fiebrig war auch die Erregtheit ihrer Jagd nach dem Neuen. Wie sie dem spärlichen Neugefundenen im nächsten Augenblick schon wieder Neuestes abzuringen suchten, rastlos, einer möglichst vor dem andern, so daß keiner je zu sich selbst und zur Besinnung kam!

Und doch liebte Anasthase diese Zeit und ihre wirre Kunst, liebte sie glühend. Ihre skrupellose Verworfenheit sogar, ihre Freude an halsbrecherischer Artistik, ihre höhnische Abkehr vom Erhabenen, vom Allzutiefen, den frechen Stolz ihrer kleinen Ideen – alles das liebte er an ihr und vielleicht gerade um dieser Züge willen stand sie seinem Herzen so nahe. Daß er in überschwänglichen Augenblicken sogar etwas wie Dankbarkeit empfand, Zeitgenosse sein zu dürfen bei soviel Geschehen.

Bewegte seine Stimmung sich aber einmal weniger im Extremen, dann wandte er seine ganze Aufmerksamkeit jenen zu – das waren in der Regel die wenig Erfolgreichen –, die ganz in der Stille ihrer eigenen Seele und unbekümmert um Losungswörter des Tages zu schaffen schienen; Werke, die auch Neues an sich hatten, weniger verblüffend zwar, doch dafür mit jener inneren Selbstverständlichkeit des Fast-Absoluten; Werke, die nicht aus Unrast, sondern aus einem selbstquellenden Drang heraus geboren klangen. Doch auch ihrer, war der Bann des unmittelbaren Eindrucks einmal gewichen, erinnerte Anasthase sich bestenfalls als Stimmen in der Wüste. Die Wüste selbst hingegen – die breitete sich 45 darum nur weiter um ihn aus, verführerisch . . . Denn – sonderbar – sie barg alles in allem mehr Lockungen für Anasthase, als die Stimmen dieser Rufer in der Wüste Überzeugungskraft hatten. –

Keine Hauptströmung, schon gar kein fester Boden aber war im Strudel dieses Kunstgetriebes einstweilen noch abzusehen. Und was für ein trostloses Bild des Gescheitertseins boten heute die Reste jener großen Schulmeisterfamilie von inzuchterschöpften Talenten, die sich vormals zusammengeschlossen hatten, um aus diesem Strudel die Elemente der alten Musik zu retten.

Felsenfest glaubte Anasthase jedoch an die Berechtigung einer Empfindung; an die Berechtigung der tiefen Verstimmung nämlich und der mitleidlosen Verachtung, die alle jene Kunst der Jetztzeit ihm einflößte, in der wohl ein starkes Können zu spüren war, deren Schöpfer sich aber feige nicht entschließen konnten, die so bequeme und erprobte alte Form jemals weiter zu verlassen, als daß sie beim ersten Warnungssignal sich nicht jederzeit hätten zu ihr zurückflüchten können. Die Halb- und Dreiviertelmodernen also, die waren Anasthase erst in der Seele zuwider.

Was bewies ihm aber diese tief im Gefühl verankerte Abneigung? Daß die Zeit – zweifellos eine der entscheidendsten Übergangsepochen der Kunst aller Jahrhunderte – Lauheit und Halbheit nicht vertrug, so auch nicht im Genießen, sondern daß sie zu radikaler Entschlossenheit drängte. Das Extremste, auch wenn es die Narrenkappe frechster Übertreibung trug, war darum zu begrüßen; es konnte Wege weisen! Verderben aber, dreimal Verderben allem Flauen und Nachempfundenen!! Damit schon nichts mehr das Hereinbrechen eines 46 jüngsten Kunstgerichtes aufhalte! Strengste, mitleidloseste Auslese dann im Bestehenden! Und fort – in die Seminarien der Tüftler und Historiker – mit allem, das nicht anderes ist als eben: altehrwürdiger Bodenkram!!

 

Glücklicherweise fand Anasthase fast in all dem, was er an richtunggebenden neuen Werken zu beurteilen hatte, auch nach strengster Prüfung ein so erstaunlich hohes Können vor, Ideenreichtum, oder doch wenigstens soviel schmissige Originalität, daß er es niemals als Zwang empfand, dies alles in Schrift und Wort anerkennen und verteidigen zu müssen. Denn daß man dem Referenten einer betont extrem eingestellten Zeitschrift im Verwerfen gegebenenfalls weniger Freiheit lassen würde, darüber konnte er sich keiner Selbsttäuschung hingeben. – Jedenfalls erfüllte seine Tätigkeit ihn mit einer nie sinkenden Spannung, seine Mutter, wieder frohen Wesens geworden, umgab ihn mit einer drolligen, fast scheuen Verehrung, an allen Orten, wo man ihn und seinen Beruf kannte, begegnete er Achtung und Interesse für seine Person – kurz, er hätte sich restlos zufrieden fühlen können – –


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