Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

11.

Als er in München den Bahnhof verließ, lachte jener tief hellblaue Bierhimmel über der Stadt, der den Fremden sofort in frohe und sorglose Stimmung versetzt. Anasthase sah sich geradezu unternehmungslustig durch die Straßen bummeln. Und vollends übermütig wurde seine Laune, als er in der Mitte einer sehr verkehrsreichen Straße zwei Betrunkene entdeckte; sie trugen eine phantastische Tracht: Auf schiefsitzenden grünen Hüten schwankten, genau wie ihre Besitzer, irgendwelche tierbartartige Gebilde; Knie nackt, die Schenkel hingegen durch eigentümliche dicke Lederpanzer mehr als geschützt. Die beiden, offenbar Vater und Sohn, stützten 58 einander treu, dudelten mit selig verpickten Augen ein Liedchen, ohne sich in dieser Lust durch den atemraubenden Verkehr beeinträchtigen zu lassen. Was aber fast noch erstaunlicher war: Autos, Radfahrer, Tramways, die ganz großen Autocars sogar, beschrieben, ihnen auszuweichen, haarscharfe, fast respektvolle Kurven. Und ohne daß die Wagenlenker den leisesten Unmut über die Verkehrsstörung gezeigt hätten. Selbst der nicht ungefährlich blickende Verkehrspolizist ließ die beiden völlig unbehelligt. Als wäre diese Erscheinung hier eine ganz alltägliche, oder vielmehr eine heilig unantastbare. – Anasthase stand lachend am Rande des Gehsteigs, schien das Bild förmlich in sich zu saugen. Die Vorübergehenden aber, nachdem sie der Richtung seines Blickes gefolgt waren, lächelten dem unverkennbaren Ausländer zu, verständnisinnig und leicht geschmeichelt. – Mit einemmal stand Anasthase auch vor dem sagenhaften Hofbräu. Neugierig trat er ein. Der Gestank des Massenbetriebes, die dicke Luft, die seine Augen beizte, der Zusammenklang von hunderten rohen Stimmen, alles war ihm zuwider, daß er schon auf dem Punkte war, umzukehren. Da fiel sein Blick auf einzelne Typen, die ihn so sehr belustigten, daß er schließlich doch an einem Ecktischchen Platz nahm; sie eine Weile zu beobachten, wie er sich einredete. – Eine unförmige Kellnerin mit rot übermüdeten Augen stellte, ohne eine Bestellung abzuwarten, doch unter einem gutmütigen Segenswunsch ein Tongefäß vor Anasthase hin, dessen Höhe und Fassungsraum er mit einem kurzen Auflachen begrüßte. »Saufen« – ging ihm dabei ein Wort durch den Kopf; und er berauschte sich vorerst an dessen Klang. – In dem Gefäß drohte eine dunkle Flüssigkeit – jedenfalls 59 das berühmte Bier! Unwillkürlich schloß Anasthase die Augen, als er den Topf neugierig an die Lippen führte – vielmehr: stemmte. Aber da . . .! Die Flüssigkeit war wunderbar kühl, schmeckte fast süß und floß wie Öl durch die Kehle. Schon nach kurzem trank Anasthase abermals davon. Dann noch einmal. Und einige Male noch . . .

Über den Saal mit den starken lärmenden Menschen an ebenso festen Tischen senkten sich Nebelschwaden herab . . .

»Saufen« – dachte Anasthase zufrieden, diesmal laut vor sich hin.

»Jawoi, Herr Nachboa!« röchelte der Stumpf einer Männerstimme neben ihm; zustimmend. Erschrocken fuhr Anasthase herum und blickte in ein groteskes, zum Platzen rundes rotviolettes Gesicht mit winzigen Äuglein, aber dem Maul eines Tintenfisches. Er hatte gar nicht bemerkt, daß inzwischen jemand sich an seinen Tisch gesetzt hatte. Obwohl Anasthase etwas wie Furcht empfand, mußte er diesem Gesicht ins Gesicht lachen. Da lachte auch das Gesicht, blöde und röchelnd, um gleich darauf schlafend auf die Tischplatte zu sinken. Darüber hatte Anasthase ein Triumphgefühl – gleichsam als wäre er jetzt Sieger am Tische – und schneidig trank er seinen Kübel leer . . .

Er verspürte Hunger. Gestand es der Kellnerin. Gleich darauf setzte diese eine Speise auf den Tisch, sagte etwas wie »Schweinshaxn« zu Anasthase und »zum Wohl!« Darauf aber raffte sie seinen Biertopf vom Tisch auf, trug ihn davon. Anasthase blickte dem Zauberkübel nach – nicht ohne einiges Bedauern. Bald darauf aber – ha, man meinte es hier doch gut mit ihm! – stand der 60 Sauftopf neuerdings vor ihm. Weiße Gischt wollte über den Rand hinausquellen . . . Da trank Anasthase die Gischt schnell ab. Er fühlte dabei angenehm, wie ihm warm ums Herz wurde, wie er über sich selbst, über alles Bedrückende hinauswuchs – und er lachte selig. Plötzlich besann er sich doch wieder auf seinen Peiniger Richard Wagner. Aber er war durchaus versöhnlich gestimmt; selbst für ihn empfand er jetzt nur Kollegialität. »Ja, ja, alter Schuft«, dachte er, »wirst halt auch immer dagesessen sein, da, vor den Töpfen, und dann hast die miserablen Opern geschrieben. Was? Musikdramen? Gar nichts: Opern sind das! Verstehst? O–pern . . .!! Jawoi, jetzt bin halt ich da, und dir auf der Spur, du alter Spitzbub, was? Wart nur, wart nur: Jetzt – upp – komm ich!!«

Und tatsächlich erhob er sich, machte einige schwankende Schritte in die Mitte des Lokals, erkundigte sich nach dem Pissoir. Stieß an einen Mann an, blickte ihm tief ins Auge, murmelte entschuldigend: »Saufen – –«, taumelte schließlich hinaus. Draußen, auf dem Abtritt, war ihm so wohl wie noch nie. Er hätte alle Welt umarmen wollen. Einstweilen verbrüderte er sich – wahrscheinlich in diesem Drange – mit einem besoffenen Märtyrer aus dem Saargebiet, der eben wie eine Hyäne erbrochen hatte. Mit ihm kehrte er in den Saal zurück. Wo beide sich bis zum Abend zutranken und in einer Dunstwolke wechselseitiger Entzücktheit freundschaftstrunken über allen Niederungen schwebten, wo chauvinistische Verleumdungen die Völker voneinander fernhalten . . . »Seid umschlungen, Millionen!« – –

Bis plötzlich ein weher Reiz in Anasthases Tränendrüsen fuhr: Es überkam ihn, daß der liebe gute Onkel 61 Schünemann doch auch in München lebe. Vielleicht sogar unweit der Stätte, an welcher sein herzloser Neffe – oder Enkel? er wußte es nicht mehr – ach was: wo sein ungeratener Sohn sich zügellosen Ausschweifungen hingab. Statt den guten alten Onkel aufzusuchen, der schon so lange sehnlichst nach ihm rief! Und dem er auf der Astralebene doch angeblich so nahestand!

Und Anasthase begann vor Elend zu schluchzen. Er bezahlte für sich und den Freund, wollte fort. Aber der Märtyrer aus dem Saargebiet – er hatte mit gläsernem Blick die Banknoten in Anasthases Brieftasche gesichtet – der Märtyrer suchte ihn zurückzuhalten. Anasthase war jedoch nicht mehr zu halten. Noch immer schüttelte ihn Rülpsen und Schluchzen. Trieb ihn aus dem häßlichen, stinkenden Saal, den Onkel Schünemann suchen. Der Märtyrer hatte sich ebenfalls erhoben, schwankte hinter ihm drein, wie um ihn einzuholen. Fiel plötzlich der Länge nach auf die Erde. Anasthase hörte noch, wie der falsche Hund ihm über das ganze Lokal hinweg nachschrie: »Sie sind doch nur ne richt'che welsche Kanallje!« und dann die anderen aufzuhetzen trachtete, indem er ihnen sagte, Anasthase hätte die deutsche Nation und das Hofbräu geschmäht! Da stand er bereits auf der Straße. An der Luft. Eine ganz fremde wüste Stadt kreiste um ihn, voll Feindseligkeit. Anasthase warf sich mit verstärkter Bitterkeit vor, daß er so wenig Familiensinn gezeigt und daß er, statt mit dem falschen Hund aus dem Saargebiet da herumzusaufen, nicht sofort den armen alten Onkel aufgesucht habe. Vielleicht hatte der es sogar schon erfahren, daß sein unwürdiges Enkelkind den ganzen Tag bereits in München weilte, und saß jetzt einsam in seinem Stübchen, der alte Mann, 62 bitterlich weinend . . . Zudem spürte Anaathase, wie es ihm schmerzhaft die Nieren zusammenzog; er ging ganz gekrümmt. Da sehnte er sich um so stärker nach Geborgenheit im Schoße der Familie. Und er wandte sich an einen Polizisten, ob er nicht wisse, wo der General Schünemann wohnt. Der Polizist wies ihn damit an die ganz nahe Polizeidirektion. – Tatsächlich hatte man dort auch in wenigen Minuten die Wohnung des Generals ermittelt. Anasthase dankte überschwenglich und machte sich auf den Weg. Bereits auf der Straße, erinnerte er sich aber plötzlich an den gemeinen Verrat seines Freundes aus dem Saargebiet; Empörung stieg ihm heiß in den Kopf hinauf. Er ging zurück. Auf die Polizeidirektion. Meldete, daß ihn ein Kerl aus dem besetzten Gebiet, ein Lümmel, für den er noch dazu gezahlt hatte, »welsche Canaille« genannt habe und daß die anderen ihn daraufhin hatten verprügeln wollen. Daß dieser Vorfall, drohte er, wenn er ihn der französischen Regierung anzeige, einen neuen Kriegsgrund darstelle. Überhaupt würde er an der richtigen Stelle zu veranlassen wissen, daß im Hofbräu künftig zum Schutze französischer Staatsangehöriger eine Kanone aufgestellt werde. Jawohl, eine Kanone! – Daraufhin versicherte ihm der Beamte, mit sehr höflichem Lächeln, daß er sofort ein Polizeiaufgebot ins Hofbräu kommandieren und den Kerl standrechtlich erschießen lassen werde. »Um einem neuen Krieg vorzubeugen«, wie er sagte. »Selbstverständlich.« – Da versicherte auch Anasthase ihm wiederholt und überschwenglich, daß er gegen ihn persönlich nichts habe, wie für die deutsche Beamtenschaft überhaupt – alle Achtung! – erkundigte sich nochmals nach der Adresse seines Onkels und machte sich, in etwas gehobener 63 Stimmung, neuerdings auf den Weg. Als er an zahlreiche Leute angestoßen war, besann er sich dumpf, daß er so angetrunken doch nicht gut bei den Verwandten erscheinen könne, und er trat in ein Kaffeehaus. Dort trank er dreimal schwarzen Kaffee. Als er fühlte, daß der Nebel in seinem Kopf sich einigermaßen zerteilte, wusch er sich in der Toilette hartnäckig den Mund aus, erschrak vor seinem verwüsteten Spiegelbild und beschloß, doch lieber in sein Hotel zurückzugehen. Sich dort niederzulegen. – Wieder auf der Straße, fühlte er sich aber grenzenlos einsam, die Sehnsucht nach Familie überwand alle Bedenken. Und mit einemmal stand er an der Türe des Generals. Läutete.


 << zurück weiter >>