Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

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3.

Anasthase war acht Jahre alt geworden.

Eines Abends standen Männer und Frauen in Haufen auf der Straße und stritten erregt. Einige Frauen weinten. Die Mutter kam aus dem Hause – sie sah aus, als wäre sie auf dem Gang vor einem Geist erschrocken – und trat zu den Nachbarn. Einige von ihnen kehrten ihr absichtlich den Rücken. Da ging sie zu einer anderen Gruppe.

Burschen zogen vorbei. Sie hatten rote Gesichter und schrien immer wieder: »Vive la France! A bas les sales boches!« Anasthase merkte, daß er wieder einmal nachdenklich in der Nase gebohrt hatte, erinnerte sich, daß sich das nicht gehöre, und wischte beschämt den Finger an der Bluse ab. Von allen Seiten hörte er nur: »C'est la guerre!« Und ein Herr, der aussah als könnte man ihn wie eine Kugel rollen, rief noch lauter als die anderen: »C'est la guerre mondiale!!« Anasthase hätte geme gewußt, was das bedeute. Aber die Leute schienen alle so beschäftigt, daß er niemand zu fragen wagte.

Zu Hause setzte sich dann die Mutter zu ihm. Sie sah noch immer ganz blaß aus. Er fragte, wo denn heute der Vater bleibe. Da sagte auch sie, daß Krieg sein werde. Und daß der Vater mit vielen anderen vor dem Telegraphenamt auf die Nachricht warte.

Dann lehnten sie beide am Fenster, blickten auf die 14 Straße hinaus und warteten. Es wurde dunkel, die Lichter entzündeten sich, die Menschen sprachen durcheinander. Es klang wie Brodeln von siedendem Wasser im Topf.

Da kam der Vater über die Straße. Er ging nicht rasch wie sonst und sah auf den Boden nieder. Als er sie endlich am Fenster erblickte, nickte er der Mutter zu – aber mit einem ganz ernsten Gesicht – trat ins Haus.

Anasthase sah, daß es die Mutter fröstelte, und brachte ihr das Tuch.

Der Vater trat ins Zimmer und sagte: »Ja, es ist Krieg.« Anasthase fühlte, daß jetzt irgendwie außergewöhnliche Zeiten kämen, und freute sich. Aber er sagte es nicht, denn die Mutter sah so krank aus. Sie ging auf den Vater zu und sagte mit einer ganz fremden Stimme: »Da mußt du auch –?!« Doch der Vater antwortete nichts, er machte ihr ein Zeichen, still zu sein, und blickte traurig (oder verlegen) auf Anasthase. Dann wurde Anasthase schlafen geschickt. Diesmal kam auch der Vater, um ihn im Bett noch zu umarmen. Anasthase wollte, daß die Eltern wieder lachten und erzählte ihnen, daß der dicke Marcel vom Bäcker Juret heute vom Fahrrad gefallen sei. Aber sie lachten überhaupt nicht.

In den nächsten Tagen wurde es lustig in der Stadt. Nichts als Uniformen! Mehrmals im Tage begleitete Anasthase Züge von Soldaten, die unter Marschklängen zum Bahnhof zogen. Alle Leute waren an den Fenstern, schrien und winkten mit Tüchern. Es gab unendlich viel zu sehen: Blumengeschmückte Kanonen, Fahrküchen, weinende Mädchen, Reiter . . . Und wenn Anasthase am Abend schon längst im Bett lag, klang von der Straße noch immer Gesang zu ihm. Da konnte er es gar nicht erwarten, bis es Morgen wurde und er wieder auf 15 die Straße hinaus durfte. – Daß die Mutter sich für das alles so wenig interessierte, konnte er gar nicht begreifen. Sie sprach auch nicht mehr viel und hatte immerzu verweinte Augen.

Auch in der Schule ging es gegen die Deutschen her. Sie hätten den Krieg begonnen, schrie der Lehrer, und sie schießen, sagte er, mit ihren Kanonen in die Kirchen hinein. Und den Kindern hackten sie die Hände ab.

Da wurden die Kinder Partei, und begeistert sangen sie nach seiner Rede die Marseillaise, gelobten nicht minder gerne, das Vaterland bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen und gegen den Feind, den Kinderschlächter, zu kämpfen.

Nur für Anasthase war der Lehrer ein Lügner. Und oft Gehörtes brach schließlich aus ihm aus: Jedes Volk habe etwas Schönes, die Deutschen zum Beispiel den Weihnachtsbaum! Und genau wie es ihm durch den Kopf ging, sagte er, seine Mutter sei doch auch eine Deutsche und liebe die Franzosen!

Der Junge, vor dem er das alles laut dachte, schrie aber nur etwas und alle stürzten auf Anasthase und prügelten ihn.

Was er aber noch weniger verstand: Als er zur Mutter flüchtete und alles erzählte, schien es ihm, als ob sie fast dem Tun der anderen recht gäbe. Denn sie gebot ihm nachdrücklich, zu schweigen, in allem so zu tun wie die anderen, und nicht sich, ihr und dem Vater Unannehmlichkeiten zu bereiten. Es sei jetzt eben Krieg! –

Bald darauf wurde zum Glück der Unterricht überhaupt eingestellt. Denn das Schulgebäude wurde Lazarett.

Anasthase sah mitunter auf dem Bahnhof die Verwundetenzüge ankommen. Das war ihm ein neues 16 Erlebnis der ereignisvollen Zeit. Er sah, aufgeregt wie die anderen Zuschauer, die schmerzverzerrten Gesichter der auf Bahren vorbeigetragenen Verwundeten, er hörte sie wimmern und stöhnen; manche lagen wie Wachspuppen, reglos.

Auch bei ihm spielte dann die Phantasie das Gesehene weiter. Er sah sich selbst mit einer großen Wunde einsam auf dem Schlachtfelde liegen; in einer Mondnacht, wie er das auf einem Werbeblatt für die Kriegsanleihe gesehen hatte. Und er sah seine Mutter zur gleichen Zeit daheim beim Tisch sitzen und weinen, daß sie nicht zu ihm könne, um ihn zu pflegen.

Und so hatte er von einer allgemeinen Rührung sein Teil; auch er begann zu schluchzen . . . Und in solchen Augenblicken wünschte er das Ende dieses Krieges herbei, so abwechslungsreich er ihm auch immer noch erschien.

Überall hieß es, an all dem Leid seien die Deutschen schuld. Anasthase fragte die Mutter, ob das wahr sei, sie wäre doch selbst eine Deutsche! Erst schwieg sie eine Weile, dann antwortete sie, es seien nicht die Deutschen allein, sondern die Völker fügten sich gegenseitig namenloses Leid zu.

Trotz dieser Erklärung bemächtigte sich auch Anasthases ein steigender Groll gegen den Feind. Freilich, dachte er, die Mutter ist gewiß keine richtige Deutsche! Denn sie ist gut wie der Vater.

Als eines Tages auch der Vater in Uniform das Zimmer betrat, jubelte Anasthase; er war stolz. Daß die Mutter anders zu empfinden schien, störte ihn nicht – offenbar verstehen Frauen nichts vom Vaterland! Aber warum sah sie so krank aus? Merkwürdig kam ihm auch 17 vor, daß der Vater einmal zu ihr sagte: »Verstehst du den Jungen, Mathilde? Er ist seit Kriegsausbruch ganz verändert! So heiter ist er geworden, nicht? Und richtig jungenhaft!« Er merkte doch keine Veränderung an sich und wollte wissen, worin sie bestehe; aber beide Eltern, auch die Mutter, lächelten nur und sagten, es sei gut so.

Vieles, das ihm ganz unverständlich war, hätte er so gern gewußt. Aber auf alle Fragen bekam er so unklare Antworten, die ihn nicht befriedigen konnten. Warum? – Die Mutter spielte ihm auch gar nicht mehr am Klavier vor!

Dann hörte sie tagelang mit dem Weinen nicht mehr auf. Der Vater kam. Er trug einen Tornister am Rücken und ein Gewehr. Das Gewehr lehnte er in eine Ecke, umarmte Anasthase – so fest, daß es ihm fast wehtat – und sagte mit einer Stimme, als wäre er verkühlt: »Du bist mein lieber, braver Sohn und wirst mir immer nur Freude machen, nicht wahr? Und sollte deine engelsgute Mama einmal vielleicht nur dich haben, dann wirst du ihr eine Stütze sein, ja?« Dann wollte der Vater lächeln, aber er war ganz verlegen und Tränen rannen ihm die Wangen herab. Da fühlte Anasthase, daß er jetzt etwas ebenso Schönes erwidern müßte, aber es fiel ihm gerade nichts ein. Als er die Mutter dann an Vaters Brust so furchtbar schluchzen sah, wurde ihm ganz heiß um die Brust und in den Augen; er mußte selbst weinen. Der Vater wollte schon immer fort, aber dann kam er doch wieder zurück, um die Mutter und ihn noch einmal an sich zu pressen. Schließlich stand er schon in der offenen Türe, blickte noch traurig auf die Mutter und auf ihn – lange starrte er so. Als ob er sie gar nie mehr sehen könnte! – dann lief er plötzlich hinaus. Die Mutter 18 lehnte, ganz weiß im Gesicht, am Schrank und rührte sich nicht. Anasthase wurde es unheimlich. Er wollte, daß sie schon etwas sage, und fragte: »Geht der Vater jetzt auch in den Weltkrieg?« Aber die Mutter antwortete nicht. Sie steckte sich nur ein ganz zusammengedrücktes Taschentuch in den Mund, verdrehte die Augen nach oben, daß er Furcht empfand, und bekam keine Luft – –

 

Es war wieder Schule. In einem Gebäude, das gar keine Schule war. Der Lehrer sagte, es sei ein heiliger Krieg. Groß und klein müßte alles opfern, damit das Vaterland ihn gewinne und die Barbaren ausrotte.

Jeden Morgen, bevor er zur Schule ging, holte Anasthase der Mutter die Zeitung. Fast immer stand darin von einem großen Sieg der Franzosen über die Deutschen. Es erfüllte Anasthase mit Freude, daß das Vaterland gewinne, und mit Stolz, daß der Vater dann einer der Sieger sein werde. Er mochte die Deutschen schon überhaupt nicht mehr leiden! Die Mutter schien sich zwar über die Siege nicht sehr zu freuen, gewiß aber freute sie sich im Stillen doch.

Einmal mußte er sich sehr über die Mutter kränken. Sie war gar nicht mehr lieb zu ihm! Wo doch groß und klein gerade jetzt so zusammenhalten sollte! – Es war so: In einem Schrank hielt der Vater, das wußte Anasthase, ganz alte Bücher mit wunderschönen Bildern verschlossen. Aber niemals hatte der Vater ihm erlaubt, sie anzusehen. Erst bis er einmal älter wäre, würde er sie ihm zeigen. Anasthase hätte sie aber zu gerne jetzt schon gesehen. In einer so ernsten Zeit mußte man ihn doch nicht als kleines Kind behandeln! – Er bat also die 19 Mutter, daß sie ihm die Bücher zeige, denn der Vater könnte es jetzt doch nicht sehen. Aber sie nannte es herzlos und schlecht, daß er sich die Abwesenheit des Vaters zunutze machen wollte, des armen Vaters, der so an den Büchern hänge und draußen im Feld Not und Entbehrungen ertrage! Anasthase fand, daß die Mutter ihn hart und ungerecht behandle; er hätte doch gewiß furchtbar gut aufgepaßt, daß er keinen Fleck in die Bücher hineinmache!

Vor dem Einschlafen weinte er, denn er kam sich ganz verlassen vor.

Am nächsten Morgen hatte er dafür eine große Freude. Der Briefträger, dem er auf der Stiege begegnete, sah ihn durch die Brillengläser prüfend an und fragte, ob er der Herr Anasthase Alfaric sei. Dann gab er ihm eine Feldpostkarte. Vom Vater. »Herrn Anasthase Alfaric, Schüler . . .« stand darauf. In der Schule zeigte er die Karte herum und wurde von allen Kameraden beneidet.

Kurz darauf war in der Zeitung auch ein Bild gedruckt, eine Photographie, darunter stand zu lesen: »Die Heldensöhne unserer Stadt im Gebet vor einem Gefallenengrab.« Ganz vorne auf dem Bildchen erkannte man deutlich den Vater. Er stand mit entblößtem Kopf, im Gesicht mager, und schaute sehr ernst auf das Grab nieder. Aber Anasthase war doch sehr stolz, daß der Vater in der Zeitung als »Heldensohn unserer Stadt« abgebildet war, und daß alle Kameraden es auch sehen würden. –

Sonst war vom Vater fast täglich eine Feldpostkarte an die Mutter gekommen. Jetzt schon über eine Woche nichts mehr. Die Mutter ängstigte sich furchtbar deswegen. Sie hörte auch gar nicht mehr zu, wenn er ihr 20 etwas erzählte, weinte nur die ganze Zeit und aß nichts. Er sollte ihr doch eine Stütze sein, hatte der Vater gesagt; aber wenn er sie auch zehnmal zum Essen ermahnte, so aß sie ja doch nicht und sah schon ganz schlecht aus! Dabei brauchte sie sich aber gar nicht zu ängstigen! Denn die Frau Tronchon, deren Mann auch im Feld stand, hatte der Mutter gesagt, daß das nichts zu bedeuten hätte. Frau Tronchon selbst hätte wiederholt eine ganze Woche keine Nachricht von ihrem Mann bekommen und dann wieder einen ganzen Stoß Karten auf einmal. Weil auch auf der Post jetzt Verwirrung herrscht. –

Und wirklich brachte am nächsten Morgen – Anasthase schlief jetzt im Zimmer der Mutter und sie lagen noch beide in den Betten – die Léontine die Post herein. Die Mutter riß sie ihr gleich aus der Hand, lief damit ans Fenster und rief freudig aus, daß es Karten vom Vater seien – eine, zwei, drei Karten vom Vater! Die Léontine stand noch im Zimmer und freute sich auch. Auf einmal ließ die Mutter alles fallen. Nur einen gedruckten Brief hielt sie in der Hand. »Um Gottes willen, Léontine, vom Regiment!!« schrie sie auf. Die Léontine stürzte hinzu, öffnete den Brief und begann laut zu lesen: »In Ausübung einer traurigen Pflicht . . .« Weiter nichts, denn dann fing auch sie zu schreien an. Die Mutter hielt sich mit der Hand an dem Fensterhaken an, bekam ganz große Augen und stieß immer wieder einen Ton aus, wie der arme kleine Hund, dem unlängst ein Auto vor dem Hause die Pfote überfahren hatte. Anasthase fürchtete sich. Er schlüpfte aus dem Bett und lief zur Mutter hin. »Mein Kleiner –!« stöhnte sie, starrte dabei aber zur Decke hinauf und rührte sich nicht. Die 21 Léontine lief hinaus und kam dann mit der Frau aus dem zweiten Stock zurück. Die beiden trugen die Mutter ins Bett. Sie sah jetzt wie eine ganz fremde Frau aus. »Tot –?« jammerte sie plötzlich und steckte sich die Hand in den Mund, »ganz tot?!« Und fing wieder wie der kleine Hund zu winseln an. »Aber, liebe gute Frau Alfaric, das ist vielleicht bloß eine Verwechslung beim Kommando. Solche Fälle waren schon häufig da!« sagte die Frau aus dem zweiten Stock, die auch weinte. Endlich konnte Anasthase die Léontine, die fortwährend im Zimmer herumrannte, bei der Hand festhalten: »Mein Vater – ist tot, Léontine?« – »Mein armer Junge!« schluchzte sie und wollte ihn abküssen. Aber Anasthase ekelte sich vor den dicken Tränen, die in ihrem Gesicht klebten, und schlug um sich. Dann hielten die beiden Frauen die Mutter bei den Armen fest. Er stand in der Mitte des Zimmers ganz allein – er hatte nur das Hemd an, ihn fror – und dachte nach. Es kam ihm vor, als wenn viele Gedanken zugleich durch seinen Kopf liefen. Aber keiner blieb lange genug, daß er hätte etwas Richtiges wissen können. Plötzlich verstand er aber doch, daß der Vater nun in einem Grab liegen werde und daß er ihn nie mehr wird sehen können. Da hörte er, wie er laut schluchzte. Ganz zugleich fiel ihm ein, daß er nun ungehindert die Bücher des Vaters werde lesen können, weil die Mutter doch jetzt auf nichts Obacht geben wird! Über diesen Gedanken erschrak er furchtbar, denn er fühlte gleich danach, daß das sehr schlecht von ihm war. Er suchte sich das Gesicht des armen lieben Vaters tot vorzustellen. Und es tat ihm furchtbar leid, daß er statt dessen nur an die Bücher gedacht hatte. Und dann merkte er, daß er sich mit beiden Fäusten ins Gesicht 22 schlug. Er hielt inne, weil die Mutter aufschrie: »Das Kind!!« und die Léontine wieder auf ihn zugestürzt kam. Da war ihm aber auf einmal wieder ganz leicht und frei ums Herz, so, als wäre gar nichts Böses geschehen, als könnte er jetzt einfach zur Artilleriekaserne schauen gehen – – Schließlich begann er herzhaft zu weinen und hatte dabei ein Gefühl von Glück, daß er weinte . . .


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