Walter Seidl
Anasthase und das Untier Richard Wagner
Walter Seidl

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8.

– Und auch sein Lebenslauf ginge in gerade Linie weiter; für Anasthase selbst vielleicht erfreulich, dem Leser jedoch uninteressant und für den Erzähler leer . . .

Wenn eines nicht gewesen wäre, das längst bedrohlich wucherte . . .

47 Der Fall Anasthase Alfaric ist freilich kein Kriminalfall, ist nicht Konflikt mit der Rechtsordnung: er stellt zutiefst einen Konflikt des ästhetischen Gewissens dar. Konflikte dieser Art haben ja nichts gerade Ungewöhnliches an sich, aber sie kommen selten genug vor. Denn sie sind nur im Empfinden von Menschen denkbar, deren Lebensgefühl sich zu so geringem Teil in der Welt des Sinnlich-Unmittelbaren, so ausschließlich hingegen in der Welt alles Geistigen zu erhitzen vermag. Der Jüngling Anasthase braucht nicht mehr viel – und die Musik wird ihm zur »tönenden Weltidee«, zur Weltidee überhaupt; Kunstfragen werden ihm zu Lebensfragen. Folglich kann auch der Konflikt wieder mir in seiner Kunstanschauung aufleben. Was diesen Konflikt anfachte und in welchem Maße er brennend wurde, das werden die kommenden Ereignisse klar machen. Daß aber eine Natur wie die Anasthases über diesen Konflikt stumpf hinwegleben konnte, ist undenkbar.

Es geht um Anasthases kritisches Verhältnis zu Wagner. Zu Richard Wagner.

Zeitgenossen umgeben jetzt unsern Helden, für die Wagner nicht anders existiert denn als ein Faktum der Geistes- und Musikgeschichte, das seinen Platz behauptet. Für Anasthase war Wagner niemals eine erledigte Angelegenheit aus der historischen Rumpelkammer. Warum gerade für ihn nicht? Fast ein Geschöpf, und Geist vom Geiste Debussys – man erinnere sich nur der merkwürdigen Geschichte seiner Zeugung! – hätte er eigentlich schon im Mutterleibe Wagner ablehnen, mindestens aber doch in der Zeit seiner musikalischen Reife mit aller Kampflust seiner Lebenskraft Gegner Wagners werden müssen. Statt dessen aber mußte, in derselben 48 Natur verwurzelt, ein unbestimmtes Wünschen und Verlangen verborgen liegen, Verlangen nach irgend etwas, das Wagner, und nur Wagner, befriedigen konnte. – –

Wir haben Anasthases Geschichte bis zu jenem Punkt verfolgt, wo seine hungrigen Sinne einzigen und ungeheueren Anreiz in der neuesten Musik fanden, und wo er sich mit begeisterter Entschlossenheit zum Kampf gegen alles Überholte anschickte. Im Zeichen dieser neuesten Musik sah er nun vor allem Sachlichkeit und Untheatralik stehen; und ihren Schlüssel glaubte er in der Forderung gefunden zu haben: Macht die Musik von allem frei, das anderes sein will als Töne und Rhythmen! – Mußte er da nicht gerade in Wagner den Feind seiner Sphäre erblicken – in dem Untier Richard Wagner, das mit seinen penetranten Leitmotiven noch unentwegt das Jahrhundert durchdringt? Also mußte Anasthase – von dieser Überzeugung war er erfüllt – sich zunächst einmal von seinem eigenen fatalen Geschmack an der Wagnerschen Großartigkeit frei gemacht haben!

Es sollte ihm das nie gelingen. Er kämpfte – verzweifelt kämpfte er – gegen den Wagner in seiner eigenen Brust; er unterlag. Nicht Wagners Werk aber erdrückte ihn, sondern die Wirkungen dieses Werkes auf eigenartig empfindsame Menschen, Wirkungen, deren nächster Zeuge er zufällig werden mußte. Zu unbewandert in den Irrgängen der Seele, schloß er aus diesen Wirkungen jedoch nur auf die dämonische Größe des Werkes.

Das soll nicht gerade ein Nekrolog gewesen sein!


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