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Achtundzwanzigstes Kapitel.

Unser Fug zur Klag' ist gemein.

Shakespeare.

Wir haben dieses Haus in der Verstörung verlassen, in welche die gewaltsame Losreißung eines hoffnungsvollen Gliedes seinen Gebieter und vorzüglich das holde Kind geworfen, das durch diese grausame Entfernung am schmerzlichsten beteiligt worden war. Soviel wir entnehmen können, war das Band, das wir zerreißen gesehen haben, eines jener zarten Verhältnisse gewesen, die in den Tagen harmloser Kindheit sich knüpfen und, durch die zärtliche Hand väterlicher Freundschaft gepflegt und beraten, von der kindlichen Neigung allmählich in die schöneren, sehnenden Gefühle der Jungfrau und des Jünglings übergehen und so zur ersten Liebe werden, die, noch immer halb schwesterlich, zugleich in die süßeren Träume verschmilzt, welche Dichter als die glückliche Morgenröte des Lebens und zugleich als dessen schönste Stunden schildern.

Diese Liebe hatte sich so zart und wieder so stark in alle Fibern des jugendlich holden Wesens verwoben, daß der erste Sturm, der es nun getroffen, beinahe die herrliche Knospe zerknickt hätte, und man es ihr noch immer ansah, wie tief sie der Stoß erschüttert, und daß es der erste gewesen, der ihr frohes Leben getrübt und ihr reines Gemüt zerrissen hatte. In ihrem holden Sinnen, ihrer süßen Beklommenheit schien sie gewissermaßen zu fragen: Was habe ich euch getan, daß ihr mich so grausam verwundet? Sie war noch immer wie erstaunt über die rauhe Weise, mit der ihre Liebe zurückgestoßen worden, und ließ nun, gleich der prachtvollen Sinnpflanze ihres eigenen Landes, die traurig ihre Blätter senkt, wenn sie von einer unzarten Hand berührt wird, das Köpfchen hängen. Sie saß in ihrem Schlafgemache, das innige Zärtlichkeit zum süß duftenden Tempel reiner Unschuld mit einer seltenen Delikatesse ausgeschmückt hatte. Die Wände, nach Landessitte al fresco gemalt, zeigten gelungene Kopien der Raffaelischen Kartons, von einem der ersten Schüler der Akademie der schönen Künste ausgeführt. Zwei Marmorstatuen, Amor und Psyche vorstellend, lächelten aus ihren Nischen schalkhaft und heiter verschämt dem holden Kinde zu. Im Hintergrunde eines Alkovens stand das mit durchsichtigem Flor umhangene jungfräuliche Bett von duftendem Rosenholz, auf Säulen von getriebenem Silber ruhend. Das Gemach selbst war in einen Garten verwandelt, von den herrlichsten Wohlgerüchen der mexikanischen Flora duftend, der Herz- und Tigerblume und den Abarten der vielfarbigen Kamelien, während durch die purpurnen Vorhänge des offenen Fensters die blaßroten Strahlen der Morgensonne das Ganze in das lieblichste Helldunkel kleideten, alles bezeugend, wie die Bewohner des Hauses vereint beigetragen hatten, den gemeinsamen Liebling zu entzücken.

Zu den Füßen des holden Kindes kauerten zwei wunderschöne Oaxaca-Indianerinnen, deren glänzende Kupferfarbe nur in den Hintergrund gestellt zu sein schien, um die ungemeine Lieblichkeit der Hauptperson recht strahlend hervorzuheben, so wie der Steinsetzer die farbigen Rubinen wählig um den Solitär reiht, so dem Glanze des letzteren das nötige Relief zu geben. In einem anstoßenden größeren Zimmer, das als Besuchsaal diente, saßen mehrere Damen in der schwarzen Morgenkleidung des hohen Adels Mexikos.

Sie schienen ungemein ernst, ja niedergeschlagen. Mehrere schwiegen ganz, andere waren in einer abgebrochenen Unterhaltung begriffen oder horchten den Stimmen, die aus dem anstoßenden Gemache, nun mehr oder minder vernehmbar herüberschallten. Es waren Männerstimmen, die, obwohl sie leise zu sprechen sich Mühe gaben, häufig wieder in die leidenschaftliche Hitze ausbrachen, in die niemand leichter als Kreolen aufwallen.

»Und wann hat unsere teuere Condesa zuerst das Lager verlassen?« fragte eine würdig aussehende, ganz schwarz gekleidete Dame, auf deren Gesicht die Spuren einstmaliger Schönheit noch nicht ganz verwischt waren.

»Küsse Eurer Herrlichkeit die Hände«, versetzte die Camarera. »Gestern erhob sie sich auf einmal, und zwar gerade als Se. Herrlichkeit der Conde recht betrübt und traurig in ihr Kabinett traten. Sie schaute ihn lange an, als wollte sie ihn mit ihren lieben holden Äuglein durchschauen, die so fromm und doch wieder so schalkhaft lächeln; aber jetzt lächeln sie gar nicht. Sie sagte aber kein Wort. Aber als er gegangen, fragte sie mich und die Doncella Bettina, was dem Tio fehle, ob Nachrichten von der Armee eingelaufen. Sie fühlte wohl, daß der Schmerz des Grafen nicht ihr gegolten, und stundenlang sprach sie zu sich selbst und machte sich Vorwürfe, daß sie die Traurigkeit des Conde erhöhe und durch ihren Schmerz ihm das Herz noch mehr beenge. Sie klagte sich selbst an, der liebe Engel.«

»Das ist wirklich sonderbar«, sprach die Gräfin.

»Wir mußten«, fuhr die Kammerfrau fort, »ihr alles erzählen, was sich seit der Abreise des unglücklichen Ninon zugetragen, die zahlreichen Verhaftungen, das Verschwinden so vieler teurer und werter Häupter aus der Mitte ihrer Familien, die schreckliche Angst, die auf einmal über das Volk gekommen, die Gerüchte von der Annäherung der Rebellen, und wie bereits seit zwei Tagen alle und alle hinausziehen, als wenn sie vom Verdugo gepeitscht würden, gegen die Anhöhen von Tacubaya.«

»Mutter der Gnaden! Wie konntet Ihr ihr nur das sagen?«

»Küsse Euer Gnaden und Herrlichkeit die Hände«, versetzte die Kammerfrau. »Eben dies hat sie genesen gemacht. Es scheint wirklich, als ob die Größe unserer Trauer und unseres Schmerzes den ihrigen ertötet hätte.«

Die Damen sahen sich verwundert an.

»So helfen unsere Leiden wenigstens einer, die wir lieben«, sprach die Gräfin. »Aber Señoria,« fuhr sie fort, und ihre Stimme zitterte, »mir ist wirklich zumute, als wenn mir das Herz jeden Augenblick springen sollte.«

»Und mir, als ob das meinige durch Marterwerkzeuge zusammengepreßt würde«, seufzte eine zweite.

»Sehen Sie nur hinab in den Paseo – Jesu Maria, die Angst dieser Leute!« bemerkte eine dritte.

»Und hinauf die Straße von Ajotla«, fiel eine vierte ein. »Es soll alles voll von Leperos sein.«

»Mein Gott!« jammerte eine fünfte, und ihre Stimme zitterte, als würde sie von einem Fieberschauer gerüttelt. »Was will denn das unvernünftige Volk? Nicht genug, daß wir bedroht und bedrängt sind, nicht wissen wohin vor Angst, daß unsere Angehörigen verschwinden vor unsern Augen und die Nacht des Kerkers sie ewig unsern Blicken verbirgt, um des geringsten Verdachtes willen, so müssen auch noch diese – Und doch ist ihr Auszug ganz sonderbar, wunderbar!« Sie schüttelte das Haupt zweifelhaft.

»Jawohl, wunderbar, liebe Condesa«, fiel ihr die Gräfin Istla ein. »Erinnern Sie sich noch ihres Auszuges vor siebzehn Monaten, der uns allen zu einer so gräßlichen Vorbedeutung wurde?«

»Wir hatten eine kleine Tertulia,« fiel ihr die Gräfin R–a ein, »als es auf einmal hieß, die Guachinangos rühren sich, und Sie werden sich unsern Schrecken leicht vorstellen können; denn so harmlos dieses Volk auch ist, so ist es doch nur ein unvernünftiges Volk, und unser Mayordomo erzählt, wie einst ein Virey mit seinem ganzen Hofstaate und seinen Garden so in Schrecken gesetzt wurde, daß er ins San-Franzisko-Kloster flüchten mußte, wo er ohne die Padres zerrissen worden wäre. Ja, wir saßen soeben bei Tische, wie Ihre Herrlichkeit, Condesa Istla, wissen –«

»Als es hieß,« fiel ihr die Condesa Istla ein, »daß die Guachinangos aufgestanden seien, liefen wir alle vor Schrecken und Entsetzen auseinander, und es war gräßlich anzusehen, diese Tausende und abermals Tausende,« – die Dame hielt ihren Fächer vor – »wie sie aus ihren Höhlen krochen, Acolotes Eine Art Eidechsen, die gegessen werden. gleich.«

»Und ebenso mutternackt wie diese«, fügte die weniger zarte Camarera hinzu. »Wir waren zum Glücke im Barrio.«

»Und sich sammelten«, fuhr die Condesa Istla fort, »in einen Haufen, so dicht, daß keine Orange, unter sie geworfen, die Erde hätte erreichen können. Und dann zogen sie der Alameda Buccarelli zu und von da weiter nach der Hacienda von Guaximalpa und die Anhöhen von Santa Fe hinauf, wo sie sich lagerten.«

»Und es wurde wieder Abend,« fuhr eine andere Dame fort, »und sie kamen zur Verwunderung Mexikos nicht zurück, und es kam der Morgen und wieder Abend und wieder Morgen. Sie blieben noch immer. Anfangs lachte man über sie, dann wünschte man sich Glück, sie los geworden zu sein, aber zuletzt fing es allen an, unheimlich zu werden. Nach drei Tagen kehrten sie zurück, und an demselben Tage kam die Nachricht, daß die Rebellion in Dolores ausgebrochen sei, und sechs Wochen darauf sahen wir den gräßlichen Hidalgo mit seiner wüsten Horde auf eben den Anhöhen gelagert, die die Leperos früher inne gehabt hatten.«

Es entstand nun eine lange Pause, wie bei Menschen, die gerne ihrem gepreßten, geängsteten Herzen Luft machen möchten, die aber fürchten, irgendeinen Gegenstand zu berühren, der einen wunden Fleck dieses ihres Herzens treffen könnte.

»Ich weiß nicht,« hob endlich die Condesa Istla seufzend wieder an, »was ich von diesem Hidalgo halten soll, und dem schlimmeren Morellos. Die Gachupins schildern sie als die ärgsten Ketzer, und Padre Domingo behauptet fest und heilig, daß Hidalgo während seiner Gefangenschaft die Klauen und Hörner des Gottseibeiuns gewachsen seien.« Bei diesen letzteren Worten bekreuzte sich die Dame, rief den Namen Jesu dreimal und küßte dann ihre Daumen. Dasselbe taten die übrigen.

»Heilige Jungfrau!« sprach die Marquisin Grijalba. »Wir sind so gänzlich in den Händen dieser unversöhnlichen Gachupins, dieser Todfeinde alles dessen, was mexikanisch ist, außer seines Goldes und Silbers, die uns schmähen und höhnen, und dann die Rebellen vor den Toren, die von Ketzern angeführt werden!«

»Sie wissen, was gestern mit der Doña Matilde geschehen?« fragte die Marquisin B–e. »Der Capitan Figueras vom Regimente Navarra hatte sie gesehen, hatte gehört, daß sie bedeutendes Vermögen besitze, und noch gestern ist dem Vater der hohe Wunsch durch den General Pincha eröffnet worden, der Vermählung seiner Tochter mit dem Gachupin kein Hindernis in den Weg zu legen. Er mußte seine zwei Söhne zugunsten des spanischen Schwiegersohnes enterben. Beide machten sich noch gestern auf den Weg nach Cuautla Amilpas, wurden ergriffen –«

»… und haben zu leben aufgehört«, flüsterten die andern Damen mit hohler, dumpfer Stimme.

»Señor Alaman«, fuhr die Condesa Irún nach einer Pause fort, »starb, wie Sie wissen, eines plötzlichen Todes auf seiner Hazienda. Er hatte, da das Jahr soeben begonnen, die indulgencia plenaria Vollkommener Ablaß. Die Indulgencia plenaria spielte in der spanisch-amerikanischen Geschichte keine geringe Rolle. Bekanntlich kaufte Se. katholische Majestät alle Ablaßbullen vom Papste für eine gewisse Summe en bloc, die sie durch ihre Regierung en détail wieder verkaufte, so den größten Vorteil von diesem sehr einträglichen Handel einerntend; denn jeder Untertan mußte alljährlich gewisse Indulgencias-Ablässe erkaufen und sich damit ausweisen, wollte er nicht der bürgerlichen Rechte verlustig gehen. Wer es unterließ, dessen Testament war nicht gültig, sein Zeugnis nicht gültig usw. nicht gelöst von des Vireys Exzellenz; deswegen wurde sein Testament ungültig erklärt, sein Vermögen vom Fiskal der hohen Audiencia eingezogen, und die Kinder – –«

»… sind Bettler!« seufzten die Damen wieder in demselben dumpfen Tone.

»Señorias,« sprach die Condesa R–a, »ich rang meine Hände, ich erhob sie flehend zur heiligen Jungfrau und betete und beschwor sie, mir zu offenbaren im Traume oder durch ein sonstiges Zeichen, welches der rechte Weg in diesen Trübsalen sei.« Sie sah sich nach allen Seiten scheu um und fuhr dann fort: »Diese Gachupins wüten ärger unter uns als die Heiden, Türken und Mauren, und gerade, als ob wir gente irracional wären, behandeln sie uns. Und doch wieder sind sie unsere Obrigkeit, und alle Obrigkeit ist von Gott eingesetzt; zudem sind die Cabecillas von Sr. Gnaden dem Erzbischof exkommuniziert. Allerseligste Jungfrau! Man weiß nicht mehr, was man denken, glauben oder tun soll!«

»Virgen Santa!« jammerte eine zweite, eine dritte, eine vierte, bis endlich alle ihre Seelenleiden dahin geäußert hatten, daß ihre Herzen bereits ziemlich für die Rebellen schlugen, daß aber Furcht vor den gräßlichen Gachupins und mehr noch vor der schrecklichen Exkommunikation sie abhalte, diesen Gefühlen eine werktätigere Richtung zu geben.

Diese Furcht war übrigens nicht unbegründet, und selbst stärkere Seelen als die unserer Damen waren durch diesen schrecklichen Fluch eingeschüchtert worden, und nur der Umstand, daß das exkommunizierende Haupt der mexikanischen Kirche, der Erzbischof, ein Gachupin, und die Anführer des Insurgentenheeres großenteils kreolische Priester waren, hatte wieder ein heilsames Gegengewicht hervorgebracht. In einem Lande, wo Mütter, und zwar Mütter angesehener Familien, nur noch kurz vorher ihre Söhne der Inquisition oder, was dasselbe sagen will, dem Tode oder ewiger Gefängnisstrafe überlieferten, aus keinem andern Grunde, als weil diese Söhne die Schriften der französischen Philosophen bei sich führten, mußte natürlich die Kirche noch einen starken Halt auf die Gemüter ihrer geistlichen Schafe und vorzüglich der schöneren Hälfte haben, die so ganz in ihrer Gewalt war.

Es trat eine lange Pause ein.

»Die Patrioten haben aber auch ihre Padres,« fiel ihr die Marquisin Grijalva ein, »und zwar fromme kreolische Padres, und Seine erzbischöfliche Gnaden sind ein Gachupin.« Sie hielt inne; denn die Stimmen im anstoßenden Gemache waren sehr laut und heftig geworden.

»Und Eure Herrlichkeit rechnen diese Tausende, die hinauf gegen Tacubaya strömen, als wenn das Vómito Das schwarze Erbrechen, gelbe Fieber. in Mexiko wütete, für keine Zeichen der Zeit?« schrie eine Stimme.

»Und die zehntausend Abschriften der Deklaration der Junta von Zultepec, die wie Schnee vom Himmel gefallen und in allen Straßen zu finden waren?«

»Prachtvolle Deklaration!« rief ein dritter. »Hören Sie nur!«

»Stille!« war die Antwort des Grafen. »In unserm Hause soll keine solche Deklaration verlesen werden.«

»Conde! Conde!« schrien mehrere. »Sie wollen sie nicht hören, die Sprache freier Männer, die kühne Sprache der unerschrockenen Wortführer und Verfechter der Freiheit Mexikos, Sie wollen nicht? Ein Wort von Ihnen, und die Compañias sueltas Leichte Truppen (Milizen). von Mexiko, die Guarnición von ganz Mexiko schütteln das Joch ab, das Freiheitsfeuer lodert, der göttliche Funke entzündet aller Herzen.«

»Um ebenso schnell wieder zu verlöschen«, war wieder des Grafen Antwort.

»Was wollen Sie, Señorias?« fuhr er weiter fort. »Einen allgemeinen Brand? Wohlan, so legen Sie ihn an; geben Sie aber acht, daß er Sie nicht selbst verzehre. Die Bollwerke der künstlichen Rangunterschiede wollen Sie zertrümmern, weil die Gachupins Ihnen lästig sind? Geben Sie acht, daß diese Ruinen Sie selbst nicht begraben. Das Volk wollen Sie frei machen, es zu sich heraufheben?«

»Sie sind doch sonst ein Bewunderer der großen Republik des Nordens?« sprach einer der Kavaliere.

»Das sind wir,« versetzte der Graf, »weil sie da den Töpfer von seinem Tone, den Ackersmann von seinem Pfluge nehmen und ihn an das Staatsruder stellen können, weil in diesem Lande keiner riesengroß, keiner wurmartig klein ist – bei uns ist das Gegenteil. – Wollen Sie sitzen neben Leperos oder Indianern aus der Tierra caliente? Vergessen Sie nicht, Señorias, daß wir fünf Millionen Mexikaner haben, die nicht einmal wissen, daß eine Bibel existiert.«

Es entstand ein lautes Gelächter. »Die Bibel! Die Bibel!« riefen mehrere.

»Hat den Vereinigten Staaten ihre Freiheit erhalten und zum Teil erworben«, war wieder vom Grafen zu hören. »Ich ehre«, fuhr er fort, »Ihre Ansichten, rauben Sie mir aber die meinigen nicht, und diese sind, daß unser Volk für die Freiheit noch nicht gezeitigt, daß wir die Stützen des Staatsgebäudes nicht zertrümmern können, ohne uns einer sicher ärgern Tyrannei auszusetzen, und daß wir, wie die Hebräer, noch durch eine lange Wüste von Leiden und Entbehrungen zu wandern haben, ehe wir in das Land der Erkenntnis kommen, das einzige, wo Freiheit wohnen kann. Ich sage Ihnen, Señorias,« schloß er, »die Spanier sind nicht das schlechteste, das wir in Mexiko haben.«

Ein lautes Geschrei brach auf diese Erklärung aus, und die Heftigkeit der Schreienden schien alle Rücksichten des Anstandes und der Klugheit vergessen zu haben. Es waren zum Teil dieselben bekannten Stimmen, die wir bereits gehört, dieselben Edelleute, die wir wenige Tage zuvor so ängstlich-kindisch nach der Auszeichnung eines königlichen Ordens haschen gesehen haben. Nur drei Tage waren seit dieser merkwürdigen Gemütsumwandlung verflossen; aber der mexikanische Charakter ist eine merkwürdige psychologische Erscheinung, und drei Tage sind zu gewissen Zeiten ebenso viele Jahrhunderte und bewirken, indem sie den verjährten Faulstoff entzünden, auch in den Gemütern Revolutionen, die nur der große Haufe als unerklärlich anstaunt, weil er die Ursachen nicht bis zu ihren ersten Entstehungsgründen zu verfolgen weiß.

»Heilige Mutter der Gnaden!« fuhr die Condessa auf, die wie die übrigen Damen nicht wenig über die Heftigkeit ihres Mannes erschrocken war: »Unsere Männer führen sonderbare Reden.«

»Jesu! Jesu!« seufzte eine andere. »Wir sind gekommen, um beim Grafen de San Jago Ruhe und Trost zu finden und nur wenigstens sein Gesicht zu schauen. Er ist sonst so gleichmütig, so ruhig.«

»Und doch wieder der Barometer unserer Zeit«, bemerkte die geistreiche Condesa R–a.

Eine Stimme schrie nun im Gemache, wo die Kavaliere sich befanden. »Bei meiner Ehre, Conde de San Jago, da kommt die Belohnung für Eurer Herrlichkeit echt spanische Grundsätze.«

»Es ist die vizekönigliche Equipage«, riefen alle.

Die Damen waren verwundert und erschrocken aufgesprungen.

»Es ist die Condesa Isabel mit Señora Zúñiga und ihrer Camarera«, riefen mehrere im Tone höchster Verwunderung. »Madre de Dios! Die Dona Flora Zúñiga, wie kommt diese in den vizeköniglichen Wagen?« Die Dona Isabel mit ihrer Camarera stiegen aus, und die vizekönigliche Equipage mit der Dona Flora rollte der Stadt zu. »Madre! Madre!« riefen die sämtlichen Damen.

Zu den zehn Staatskarossen, die am freien Platze vor der Villa hielten, war der glänzende Phaeton mit den beiden Damen gekommen, von welchen die jüngere mit so graziöser Huld die beleidigte Menge im Paseo zu versöhnen sich herabgelassen. Sie hatte den Oberst zum Begleiter, und ihr Benehmen verriet schon beim ersten Anblicke jene scheinbare Anspruchslosigkeit und wieder jene hohe Airs, die erhabene Personen so geschickt um ihr äußeres Sein zu legen wissen, um nach Erfordernis bald die eine, bald die andere für die liebe gemeine Welt aufzutischen, je nachdem sie bezaubert oder zur sich selbst vergessenden Huldigung und Anbetung hingerissen werden soll. Ehe sie aus dem Wagen stieg, hatte sie die Señora, die so unschuldig Veranlassung zu dem furchtbaren Morde geworden, noch mit herablassender Anmut umarmt.

Der Conde selbst war der hohen Besuchenden entgegengekommen, und die Ehrfurcht, mit welcher er sie empfing, dürfte kaum größer gewesen sein, wenn die Königin beider Indien selbst ihren hohen Fuß in sein Haus gesetzt hätte, so wie denn die Verhältnisse, in denen die vizekönigliche Familie zu den ersten Edeln des Landes stand, auch wirklich nur wenig Unterschied zwischen dem temporären Virey und dem wirklichen König stattfinden ließ.

Die außerordentliche Weise, auf welche die Krone Spaniens diese herrlichen Länder des westlichen Kontinentes, beinahe ohne ihr Zutun und allein durch den rasenden Geist ihrer noch von den maurischen Kriegen her nach Abenteuern dürstenden Soldadesca erworben hatte, und die Uneinigkeiten und Empörungen, die unter diesen Abenteurern bald nach Eroberung der weiten Reiche ausgebrochen, waren mit eine der großen Veranlassungen gewesen, die die prunkliebenden spanischen Monarchen vermocht hatten, um die Höfe ihrer Vizekönige jene seltsame Demarkationslinie zu ziehen, die diesen temporären Statthaltern zugleich die Ehrfurcht des großen Haufens sichern, aber sie auch von jeder zu vertraulichen Verbindung mit den Eingeborenen und selbst ihren Landsleuten, den Spaniern, abhalten sollte. Wir haben zum Teil den Hofstaat dieser Vizekönige Mexikos gesehen. Nicht nur hatte dieser hohe Kronbeamte seine eigene Leibgarde, seine Pagen und Kammerherrn, seine Person wurde auch in jeder Hinsicht als der Abglanz, das alter ego des Königs selbst betrachtet und diesem Grundsatze zufolge mit einer Etikette umgeben, die, während sie dem Volke die entfernte Majestät durch seinen Stellvertreter auf das glänzendste vor die Augen zu bringen berechnet war, diesem alle Möglichkeit abschneiden sollte, die ihm anvertraute Gewalt zum Nachteile der spanischen Krone zu mißbrauchen Einige der Vireys wurden wirklich beschuldigt, die Absicht gehabt zu haben, Mexiko von Spanien loszureißen und sich souverän zu erklären. – Es sind starke Beweise vorhanden, daß der Conde Galvez dies im Sinne hatte..

Infolge dieser, auch auf den antisozialen Nationalcharakter berechneten Staatsmaxime war den Vizekönigen Mexikos nicht nur jede Verbindung mit den Eingebornen des Landes – jeder Verkehr – jeder Erwerb von Ländereien untersagt, es war ihnen nicht nur für ihre eigenen Personen verboten, mit Kreolinnen in eheliche Verbindungen zu treten, auch ihre Kinder durften dies nicht; sie durften nicht in Gesellschaft des mexikanischen Adels speisen, nicht vertrauliche Besuche empfangen, ja, diese merkwürdige Etikette erheischte ausdrücklich, daß, wenn in der Hauptstadt, sie bloß mit ihren Familien zur Tafel niedersitzen sollten. Gemäß demselben mißtrauischen Systeme, das, indem es den Statthalter scheinbar über die gesamte bürgerliche Gesellschaft des Landes erhob, ihn in der Tat aller Freuden seines Daseins und selbst der Möglichkeit beraubte, diesem Lande nützlich zu werden, war seine Regierung immer auf fünf Jahre beschränkt.

Die Revolution, indem sie das Ansehen der spanischen Gewalt in ihren Grundfesten erschütterte, hatte nun zwar auch den Vizekönig gezwungen, von seiner eisigen Höhe herabzusteigen und bedeutende Eingriffe in diese Etikette zu tun; immer war aber noch hinlänglich viel übrig geblieben, um die Verwunderung begreiflich zu machen, die eine Erscheinung erregen mußte, welche schon an und für sich das höchste Interesse in Anspruch zu nehmen so geeignet war.

Es war dieselbe stolze Schöne, die wir bereits im Thronsaale des Palastes zu beobachten Gelegenheit gefunden haben, und deren Bild wir nun unsern Lesern näher vor die Augen rücken wollen.

Eine volle Gestalt von mittlerer Größe, und obgleich noch jugendlich, mehr Weib als Mädchen, eine Form von üppigen Umrissen, ein herrliches Bild spanischer Schönheit, ganz Leidenschaft und Flamme; kein Spielen, kein Tändeln – rasches Hingeben oder vielmehr Ergreifen, kräftiges Festhalten lag in ihren stolzen, begehrenden Zügen. Viele Versuchungen und manche genossene Freuden schimmerten durch den leichten Anflug tropischer Ermattung, der wie der rötlich erglühende Dunstkreis beim Anbruch eines heiß werdenden Tages die Sonne bei ihrem Aufgange umschleiert, und die blutroten Streifen, die auf diesem feurig-brünetten Gesichte gleichsam wie zur Warnung hingezogen waren, sie verrieten Flammen und Liebe, und doch schien es, als ob sie selbst stärker als Liebe sein könne.

Sie war etwas phantastisch in die Basquina ihres Landes gekleidet, die bis zu den Knien herab ging und zur Unterlage eine dunkelblaue Robe hatte, die wieder bis zu den Knöcheln reichte und ein Paar sehr kleine Füße sehen ließ. Ein kostbarer Kaschmir war malerisch à la Créole um ihren Kopf gewunden, eine Fülle schwarzer Locken hervordrängend, die auf den üppigen Nacken herabfielen. Der Busen war züchtig und wieder auf eine Weise verhüllt, die sagen zu wollen schien, sie verschmähe es, dessen herrliche Reize zur Schau zu stellen. Arme, Taille, alles war verführerisch, schwellend, elastisch, und in den schwarzen, feurigen Augen glühte eine Flamme, und diese Flamme loderte wieder so begehrlich durch eine so wollüstig schwimmende Mattigkeit hindurch! Sie erschien wie ein prachtvolles Meteor am unheilschwangern Himmel.


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