Levin Schücking
Luther in Rom
Levin Schücking

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35. Glauben und Werke.

Julius II. wurde unterbrochen durch den eintretenden Cameriere.

»Der Augustiner-Bruder, nach dem Ihr verlangtet, heiliger Vater«, meldete er.

Der Papst nickte mit dem Haupte; der Cameriere ging zurück und gleich darauf hob sich der Türvorhang wieder, um den Bruder Martin einzulassen.

Bruder Martins Gesicht trug alle Spuren der Erhitzung und der Aufregung; er hatte im Sturmschritt den weiten Weg zu machen, den steilen Aufgang zum Vatikan, die zahllosen Stufen der Treppen zu ersteigen gehabt; schon das hätte ihm allen Atem benommen, wäre auch nicht die Erregung des Augenblicks, worin er, der arme deutsche Mönch, vor den Statthalter Christi auf Erden, geführt wurde, dazu gekommen. Es schwindelte ihn, es schwirrte ihm vor den Augen, so daß die Gegenstände um ihn her sich verwirrten und verschwammen. Der hohe weißgekleidete Greis, der auf einer Erhöhung am Ende des großen Raumes thronte, schwebte fast wie ein Traumbild vor ihm. Hätte es ihm der Cameriere nicht beim Eintreten wiederholt, daß er, sobald er die Schwelle übertreten, niederknien müsse, er wäre an der Tür stehen geblieben wie eine Salzsäule.

So aber erfüllte er demütig den Brauch.

Julius II. warf einen flüchtigen Blick auf ihn, dann sagte er zu dem Bischof von Ragusa gewendet:

»Ihr kennt ihn, führt ihn her!«

Tommaso Inghirami trat auf Bruder Martin zu, und ihn an der Schulter berührend, sagte er:

»Kommt, der heilige Vater gewährt Euch huldvoll, daß Ihr seinen Fuß küssen mögt.«

Martin erhob sich, er ging an Inghiramis Seite durch das Gemach, kniete noch einmal auf der Estrade, um das goldgestickte Kreuz auf dem weißen Schuh des Papstes mit den Lippen zu berühren; und dann trat er zurück, um mehrmals tief aufatmend und sich fassend, seinen Blick jetzt frei auf das Antlitz des Papstes zu richten.

Der Papst sah forschend in diese sich jetzt so offen und frei auf ihn richtenden Züge; sie schienen ihm aufzufallen. Mit der Hand über die Mitte seines Gesichtes fahrend, sagte er:

»Bis an den Mund seht Ihr aus wie ein lustiger Bruder und kluger Geselle; und drunter wie ein Exorcist, vor dem die Teufel Schreck haben. Habt Ihr ihrer schon gebannt?«

Der Papst hatte dies in italienischer Sprache zu ihm gesagt; Bruder Martin war ihrer ja nach und nach so mächtig geworden, daß er in derselben Sprache antworten konnte:

»Nein, heiligster Vater, nicht aus anderer Menschen Seelen wenigstens, höchstens nur aus mir selber!«

»Aus Euch selber? Und welche Teufel haben in Euch gesteckt, daß Ihr sie bannen mußtet«, sagte der Papst mit einem Anklange von Spott.

»Der größten einer, der Teufel des Kleinmuts und des Verzagens hat in mir gesteckt.«

»Wie kann, wer da glaubte, verzagen?«

»Der Glaube eben machte mich verzagen.«

»Der Glaube?« warf der Papst zerstreut hin, und offenbar mehr mit der Persönlichkeit des Mönchs beschäftigt, als mit seinen Worten. »Das lautet seltsam. Wie machte Euch der Glaube verzagen, es sei denn, Ihr hättet am Glauben verzagt.«

»Und doch ist es so, heiligster Vater, und wenn Ihr mein Schuldbekenntnis anhören wollt, ich habe in der Fülle des Glaubens verzagt und habe viel Pein darunter gelitten! Wie kann ich, fragte ich mich, je genugtun, um die Gnade zu verdienen und gerechtfertigt zu sein? Wie kann ich Schwacher die Stärke finden, um Werke zu tun, die mir die Seligkeit gewährleisten? Wie mich retten vor der zornigen Gerechtigkeit Gottes? Und mich überwältigte die Herzensangst, die Furcht Gottes kam über mich mit einer Gewalt, die all mein Sein vernichtete und mir den Odem raubte.«

Papst Julius II. hörte ihm aufhorchend zu; was der deutsche Mönch da in so kurzen Worten ihm andeutete, berührte ihn vielleicht wie etwas Wunderliches, Seltsames.

»Und diese Furcht Gottes«, sagte er kopfschüttelnd, »war ein Teufel? Ein Teufel, den Ihr auszutreiben hattet? Die Furcht Gottes ist der Anfang der Weisheit, nun soll der Anfang der Weisheit der Teufel sein!«

»Weshalb nicht, heiliger Vater? Der Teufel kann den Anfang der Weisheit haben, nur nicht die Mitte und das Ende. Die Mitte der Weisheit ist die Liebe und das Ende der Friede.«

Julius II. schüttelte abermals den Kopf.

»Fra Anselmo«, rief er zu seinem Beichtvater hinüber, »hört da einmal Euren Ordensbruder an. Habt Ihr mehr solcher Metaphysiker darunter?« »Nicht so viele, heiligster Vater«, antwortete Fra Anselmo sich erhebend, »daß es nicht der Mühe verlohnte ihn anzuhören.«

Der Papst nickte.

»Mag er weiter reden. Mag er sagen, womit er seinen Teufel gebannt und dahin gekommen, sich wie ein Ketzer der Furcht Gottes zu entschlagen.«

»Ich habe mich nicht der Furcht Gottes entschlagen«, versetzte Bruder Martin, »aber aus der Furcht Gottes drehte mir der Teufel einen Strick, den er mir um den Hals legte, daß ich schier dem Tode nahe war, und diesen Teufelsstrick habe ich mir ab- und fortgerungen. Glaubt mir, heiliger Vater, es war ein schwerer, schwerer Kampf! Ich hatte das Buch der Heiligen Schrift in meiner Zelle und trank in vollen Zügen das Wasser des Lebens und des ewigen Heils daraus. Aber mit diesem lebendigen Wasser strömte wie eine Flut, in der ich zu ertrinken glaubte, die unermeßliche Angst und die unaussprechliche Seelenpein auf mich ein. Viele Wochen lang senkte sich kein Schlaf auf meine Augenlider; das Fieber warf mich aufs Krankenbett; an meiner Lebenskraft nagte der Gedanke meiner Sündhaftigkeit und daß, wie ich nicht das weite uferlose Meer füllen könne, ich durch meine Werke nicht die uferlose Unendlichkeit der Seligkeit gewinnen könne – nimmermehr... daß ich nicht Gottes Gnade auf mich wenden könne, und wenn auch meine schwache Menschenkraft sich vertausendfache zum Tun dessen, was die Kirche uns, um zur Rechtfertigung zu gelangen, vorschreibt. Aus diesem Zustande, heiliger Vater, habe ich mich durchgerungen zur Erkenntnis, daß all dieses Tun ein untergeordnetes, nebensächliches Ding ist, daß wir nur unsere ganze Seele in den Glauben zu versenken haben, um aus ihm die friedengebende selige Ruhe des Gemüts in uns strömen zu fühlen; denn der Glaube weckt Liebe, und weil unsere Liebe die Liebe Gottes erwirbt, dürfen wir mit beruhigtem Gemüte uns in die Arme Gottes werfen, das angsterfüllte Herz kann nicht lieben, nur das beruhigte Herz kann es. Und weil ich dies erkannte und darin frohen Mutes wurde, darum sagt' ich, heiligster Vater, ich habe den Teufel aus mir gebannt.«

Luthers Auge blitzte, während er so sprach. Seine Miene war erregt, mehr wie je die eines Mannes, der einem Weibe seine Leidenschaft erklärt, war; mehr wie die eines Kindes, das seiner Mutter das Aufwallen seines enthusiastischen Herzens ausschüttet; er war fortgerissen von dem Gedanken, daß er zu dem Stellvertreter Gottes auf Erden, zu dem Vater aller Gläubigen spreche; er konnte nicht anders als vor ihm das Tor seines Herzens weit, weit aufwerfen; es ward ihm während des Sprechens zu Mute, als müsse jetzt gleich von den Lippen dieses apostolischen Greises, der ja ein lebendiges Stück der Offenbarung war, der heilige Geist ihn anwehen und sich in sein geöffnetes Herz ergießen... denn für ihn und für Millionen anderer war trotz aller Schäden und aller Wunden der Kirche das hoch über der Entartung derselben stehende Haupt der Kirche noch der wahre und unfehlbare Ausdruck ihres ursprünglichen Prinzips; es war es geblieben trotz allem was geschehen.

Papst Julius II. aber schüttelte, einige unverständliche Worte murmelnd, den Kopf.

Er hätte wohl geantwortet, wären nicht Padre Geronimo, Anselmo, Phädra und die anderen gegenwärtig gewesen; sie waren so scharfe Theologen ... Julius II. fürchtete die Theologen, weil er sich schwach in ihrer Wissenschaft fühlte, und er zog vor in ihrer Gegenwart sich nicht aufs Glatteis zu wagen und keinen weiteren Ausspruch zu tun, als trocken die Frage hinzuwerfen:

»Und wie seid Ihr zu dieser schönen Erkenntnis, daß die Werke nichts taugen, gekommen, wobei Ihr Eure Kutte an den Nagel hängen, die Sakramente Sakramente sein, mit Fasten und Kasteien aufhören, den Pilgerstab, mit dem Ihr zu dieser heiligen Stadt Rom gewallfahrtet seid, in das Feuer werfen und am Ende ein Heide werden könnt, denn auch die Heiden können an ihre Götter glauben und sie lieben?«

Über Bruder Martins Züge schlich ein Ausdruck wie harter Enttäuschung.

Betroffen und weniger laut antwortete er:

»Heiliger Vater, ein Heide werden? Ich habe ja vom Christenglauben geredet, weil ich tief im Gemüt erkenne, wie herrlich das Christentum alle anderen Religionen überstrahlt. Mit dem Glauben und der Liebe findet der in Christo getaufte Mensch den einzigen Mittler, den von allen Religionen nur das Christentum hat. Bei ihnen allen ist keiner da, der den Menschen, wenn er gefallen, wieder erhebt, an dessen Brust, zu dessen Liebe der Sünder sich flüchten kann, wenn er eine Schuld sühnen will, zu dessen Füßen er all sein menschlich Elend niederlegen kann. Denn der Mittler war ein Mensch, wie wir es waren; er kennt des Menschen Wesen in all seinen Tiefen, auch den Drang der entweihten Seele nach der Wiedergeburt. Wie könnte ein religionsbedürftiger Mensch dem Glauben, der dem Herzen und dem Gedanken vor allem andern genügt, untreu werden, um ein Heide zu werden?«

»Mag sein, mag sein«, fuhr der Papst ungeduldig dazwischen, »Ihr seid aber doch ein Schwärmer, Ihr denkt zu viel, Ihr Deutschen! Was hat ein Bettelmönch zu denken? Lest Eure Messen, singt Eure Psalter ab und dann legt Euch auf Euren Strohsäcken aufs Ohr. Durch Euer Denken kommt Ihr zu Ketzereien. Nicht wahr, Padre Geronimo? Laßt die Kirche für Euch denken, wie die Kirche uns, ihr alleiniges Oberhaupt, denken läßt für sie; und auch wir denken nicht, denn wenn wir grübelten und dächten, so wüßten wir zuletzt nicht mehr, ob, was wir erdacht, unsere sterbliche Weisheit sei oder die unfehlbare Eingebung des heiligen Geistes.«

»Aber das Gehirn der Menschheit kann nicht stille stehen, heiliger Vater.«

»Weshalb nicht? Ist der heilige Geist nicht Gehirn genug für die Menschheit? Brauchen Eure harten deutschen Schädel mehr? Wollt Ihr widersprechen? Wider die von der Kirche Euch auferlegten Werke wollt Ihr Euch erheben? Ei seht doch den Frate! Werft mir den dummen Mönch hinaus, Phädra!«

Papst Julius begann sich in den Zorn zu reden, der so leicht in ihm entfacht ward; zum Glück wurde er durch die Bemerkung Phädras beschwichtigt:

»Eure Heiligkeit wollten ihn wegen seiner Verbindung mit dem deutschen Grafen verhören ...«

»Wollt ich? Nun, er wird nicht viel davon wissen. Hätte der Deutsche zu seiner Flucht und zu seiner Entführung der Witwe Luca Savellis einen Mönch nötig gehabt, er hätte nicht diesen einfältigen Schwärmer genommen. Fragt Ihr ihn, Padre Geronimo.«

Padre Geronimo wendete sich zu Bruder Martin und sagte:

»Ihr kennt den Grafen Egino von Ortenburg?«

»Ja«, versetzte Bruder Martin, zerstreut den Dominikaner anblickend und sich den kalten Schweiß abwischend, den seine innere Erregung ihm jetzt auf die Stirne trieb.

»Er schrieb Euch, daß Ihr zu ihm kommen solltet, in unser Kloster bei Santa Sabina. Weshalb?«

»Weil er eine hohe Dame kennen gelernt, der er mich zuführen wollte.«

»Zu welchem Zwecke?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wißt Ihr, daß er entflohen ist, nachdem er den Grafen Livio Savelli getötet?«

»Ich hörte, daß Graf Livio Savelli getötet sei. Ich glaube nicht, daß Graf Egino ihn getötet habe, es sei denn in gerechter Notwehr und gezwungen; ist er entflohen, so wünsche ich ihm Glück dazu, denn ich gönne ihm als einem ehrlichen jungen deutschen Fürstenblut alles Gute.«

»Woher kanntet Ihr Rafael Santi?«

»Dort der Herr Bischof von Ragusa hatte das Wohlwollen gegen mich, mich zu dem berühmten Meister zu führen.«

»Saht Ihr ihn seitdem?«

»Nein.«

»Wohin vermutet Ihr, daß Graf Egino geflohen ist?«

»Ich weiß es nicht und vermute nichts darüber.« »Ihr steht im Angesichte unseres heiligsten Vaters, in seinem Namen fordere ich von Euch, daß Ihr die Wahrheit sagt; ich fordere sie von Euch bei Eurem Gelübde und Eurem kirchlichen Gehorsam. Was wißt Ihr von den Vorgängen der verflossenen Nacht in der Savellerburg?«

»Nichts«, versetzte Bruder Martin ruhig.

»Glaubt Ihr, daß Meister Rafael Santi davon weiß?«

»Ich kann nicht glauben, ohne Grund zu glauben. Der Grund des Glaubens ist das Zeugnis, das unantastbare, das der Untersuchung durch meine Vernunft unterzogen..«

»Fängt nicht dieser Mönch seine Homilien wieder an?« rief hier Papst Julius II. zornig dazwischen. »Werft ihn hinaus, sag ich Euch, Ihr seht, daß er ein Dummkopf ist und daß er nichts weiß; laßt ihn laufen, Padre Geronimo, laßt ihn laufen; ich will daß man ihn laufen lasse und auch Rafael Santi in dieser Sache nicht mehr nenne und ihn nicht beunruhige, hört Ihr, ich will es!«

Bruder Martin, der starr in das sich rötende Antlitz des Papstes blickte, fühlte sich an der Schulter gefaßt; es waren Monsignore Phädra und Padre Anselmo, die herzugeeilt waren ihn fortzuschaffen, da sie wußten, wie gefährlich es war, wenn solche Gebote des heiligen Vaters nicht ihre augenblickliche Ausführung erhielten.

Und so stand er, ehe er sichs versah, ehe er recht zur Besinnung gekommen, draußen in dem großen Vorzimmer... schritt langsam, allein seinen Weg suchend, durch Bussolanten und Türsteher und Schweizerwachen, durch große Räume, über viele, viele Treppen hinunter, über den Petersplatz durch den Borgo endlich, heimwärts, seinem Kloster zu.

Ein wie viel ärmerer Mann, als der er diesen selben Weg so eilends, so hochklopfenden Herzens gekommen!

Es war ihm zu Mute wie einem Kinde, das sein Höchstes auf Erden, seinen Vater, seine Mutter, hat sündigen sehen, dem der leuchtende Stern seiner Zuversicht in Schmutz sank.

Er hatte in Italien und Rom die Kirche in ihrer wildesten Verweltlichung gesehen. Er war empört worden über die sittliche Verwilderung derer, welche sich Priester nannten, über den vollständigen Untergang des religiösen Gefühls bei ihrer Mehrzahl, über ihre Blasphemien und ihre Laster. Aber wie der arme Verirrte, der in Kälte und Nacht geraten, in seinem Herzen nicht an der Sonne zweifelt, so hegte in seinem tiefsten Herzen der arme deutsche Klosterbruder die Zuversicht auf die unverwüstliche Macht des Prinzips, und im sonnenhaften Glanze dieses Prinzips hatte immer noch das Haupt der Kirche als der höchste, wenn auch in menschlicher Gebundenheit befangene Hüter der Wahrheit vor ihm gestanden, als der letzte Träger seiner stillen Hoffnungen.

Und nun waren diese Hoffnungen dahin.

Dieser Papst war eine Erscheinung, so weltlich, so irdisch, so ohne Liebe und unbekümmert um die Wahrheit, wie er Hunderte erblickt.

Bruder Martin hatte in vollem, warmem Drange seines Herzens diesem Manne, der der sanfte Hirte seiner Herde, der Vater der Gläubigen, der auch sein Vater sein mußte, rückhaltlos wie ein Kind sofort ausgesprochen, so gut er's in den wenig Worten, die ihm vergönnt waren, nur konnte, was sein innerstes Gemüt erfüllte. Was ihn in viel traurigen Stunden monde- und jahrelang bewegt und gequält und seine Seele durchwühlt, was der Gegenstand so vieler tiefsinniger Erörterungen mit frommen und gelehrten Freunden daheim, mit seinem edlen und milden väterlichen Johann von Staupitz gewesen, das ganze innere Leben seines Geistes, die Erkrankung seines Gemüts und seine Genesung, das Dunkel seiner Seele und das Licht und den Gedanken, aus dem wie aus dem aufgehenden Stern der Weisen dies Licht in seine Seele gefallen, er hatte es in raschen geflügelten Worten seinem geistlichen Vater gesagt.

Der Papst hatte ihn nicht verstanden. Der geistige Vater hatte kein Ohr für die Sprache seines Kindes gehabt.

Und doch, er hatte ihn verstanden. Der Papst war, wie sie alle, ein – kluger Mann.

Er hatte auf der Stelle wahrgenommen, daß Luthers Gedanke wie ein Atlas den Schwerpunkt des Christentums auf sich nehme, ihn forttrage von da, wohin die Kirche ihn gelegt, und fortschleudere in eine Region, wohin ihm nur deutsche Gemüter folgen konnten.

In die Region der Innerlichkeit. In eine Gegend, wo gute Werke nicht mehr als Ware für Geld ausgeboten werden konnten!

Bruder Martin schlich langsam heim. Er war nicht erschüttert in seiner Überzeugung, aber er war traurig, wie er es je daheim in seiner stillen Klosterzelle in Wittenberg gewesen. Das Wort »das menschliche Herz ist ein trutziges und verzagtes Ding« – nie fühlte er es mehr. So trutzig auf die Wahrheit, die es gefunden, sein Herz war, so unbeugsam es darauf beharrte, so verzagt war es im Gefühl seiner Schwäche der Welt gegenüber, welche die Wahrheit nicht will.

Jeder seiner Mission bewußte, aber noch stumme Prophet empfindet es, daß das große Wort, welches er noch unausgesprochen in sich trägt, mächtiger als er selbst, sich über seine Lippen drängen wird, um ihn zu einem Laocoon zu machen; daß, sobald das Wort gesprochen, der große, tiefe und schmutzige Sumpf, den man das Leben nennt, auch seine Schlangen wider ihn ausspeien wird, die ihn umringein und ersticken.

Luther fühlte schaudernd und stockenden Herzens das leise Kriechen dieser Schlangen.

Wenn es ihm gelang das weltbewegende Wort zu finden, das den der Menschheit verlorenen, gestorbenen Christus wieder erweckte und das Götzenbild stürzte, das seine Seele usurpiert hatte, dann war keine, keine Macht auf Erden da, die ihn schützte in dem Kampf, der wider ihn entbrennen mußte. Der unfehlbare oberste Hort der Christenheit war, das hatte diese Stunde ihn gelehrt, sein Feind wie alle anderen. Wer da siegen wollte, der mußte stärker sein als Laocoon.


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