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Sinn und Wert des unparteiischen Studiums der sozialen Frage.

1. Zur 25 jährigen Feier des Vereins für Sozialpolitik.

2. Eröffnungsworte zur Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik in Breslau am 25. September 1899.

3. Der Verein für Sozialpolitik und die soziale Reform.

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Zur 25 jährigen Feier des Vereins für Sozialpolitik.

Tägliche Rundschau Nr. 226 vom 26. September 1897.

 

Eröffnungsrede bei der Generalversammlung am 23. September 1897 in Köln a. Rh.

Meine Herren! Ehe wir in die Tagesordnung eintreten, darf ich daran erinnern, daß wir mit unserer diesjährigen Generalversammlung zugleich das 25 jährige Bestehen unseres Vereins feiern. In den ersten Oktobertagen 1872 traten in Eisenach eine Anzahl Männer aller politischen Parteien zu einer Beratung über die wichtigsten sozialen Fragen der Zeit, Fabrikgesetzgebung, Gewerkvereine und Wohnungsfrage, zusammen. Daraus entstand unser Verein. Man darf ohne Zweifel die Epoche von 1862-75 die wichtigste Zeit unseres Jahrhunderts für unser Vaterland nennen: das neue Deutsche Reich entstand, die deutsche Volkswirtschaft reckte zum erstenmal ihre Glieder so, daß man ihre Ebenbürtigkeit neben Westeuropa erkannte; die neue soziale Schichtung der Gesellschaft war das Ergebnis der ungeheuren technischen und volkswirtschaftlichen Fortschritte; die sozialen Probleme pochten an die Pforten der Gesetzgebung; der moderne Arbeiterstand erwachte zum Selbstbewußtsein. Die Gesetzgebung arbeitete fieberhaft, aber noch steckten den Deutschen der philisterhaft kleinstaatliche Sinn, die Traditionen der alten Zeit, die einseitigen Ideale der individualistischen Aufklärung in allen Gliedern. Neue Ideale mußten sich bilden, neue soziale Ordnungen und Institutionen entstehen.

Ein Ausdruck dieser Gärung, dieses Strebens war die Bildung des Vereins für Sozialpolitik. Zwischen den Elementen, welche aus dem politischen Radikalismus und Republikanismus der vierziger und fünfziger Jahre erwachsen, utopischen und revolutionären, jedenfalls die ganze gegenwärtige Gesellschaftsordnung vernichtenden sozialen Idealen zuneigten, und denen, welche optimistisch und zufrieden alles Bestehende vortrefflich fanden, die Arbeiterfrage leugneten, in der freien Konkurrenz die Lösung aller sozialen Rätsel fanden, standen zahlreiche Denker und Politiker, Geschäftsleute und Journalisten, Menschenfreunde und Nationalökonomen, welche von Klasseninteresse, doktrinärer Parteischablone und hergebrachter nationalökonomischer Lehrmeinung frei neben einem politischen an einen sozialen Fortschritt glaubten, ihn suchen wollten, mit offenem Blick für die sozialen Mißstände und Kämpfe die soziale Wirklichkeit erkennen, an das Bestehende anknüpfend für die soziale Reform eintreten wollten.

Es war stets eine kleine Gruppe von Männern; sie haben keine parlamentarische oder sonstige Partei bilden, nicht ausschließlich in den Dienst einer Partei oder eines Klasseninteresses sich stellen wollen; daher konnten sie nicht die Massen um ihre Fahne sammeln. Sie wollten nur durch ihre Tätigkeit aufklären, die Wahrheit ins Licht stellen, durch ihre Reden und Schriften, ihre Versammlungen und Publikationen in alle Parteien und Klassen eine größere Erkenntnis der sozialen Dinge hineinbringen, den berechtigten praktischen Idealen einer durchführbaren sozialen Reform die Wege bahnen. Wir haben unsere Mitglieder nie auf ein soziales Programm eingeschworen, wir haben bald in unseren Generalversammlungen nicht mehr abgestimmt. Wir haben nur vertraut, durch gute Gründe und Beweise, durch die Macht der Wahrheit und Gerechtigkeit auf weitere Kreise zu wirken.

Unser Ausschuß ist seit den 25 Jahren jährlich ein- bis zweimal zusammengetreten, hat die Schriften und Generalversammlungen vorbereitet. Solcher haben wir nur 13 bisher abgehalten. Aber in den 74 Bänden unserer Schriften haben wir unsere Gedanken und Ideale, unsere Vorschläge und Beiträge zur Erkenntnis der sozialen Wirklichkeit niedergelegt. In ihnen liegt der Schwerpunkt unserer Wirksamkeit. Es läßt sich mit wenigen Worten sagen, worauf unsere wichtigsten Schriften und daran anknüpfend unsere Verhandlungen sich bezogen haben.

Eine erste Gruppe beschäftigte sich mit der Handels-, Auswanderungs-, Währungs-, Steuerpolitik, diesen allgemeinsten Fragen der Volkswirtschaft. Hauptsächlich haben wir an den zwei großen Wendepunkten unserer deutschen Handelspolitik 1879 und 1892 die einschlägigen Fragen erörtert, 1892 bis 1894 ein großes Sammelwerk geschaffen, das die Handelspolitik aller Kulturstaaten von 1860 bis 1892 darstellt. Wir glaubten damit von dem sozialen Kern unserer Aufgabe nicht abzuschweifen. Jeder Tieferblickende weiß, wie sehr von der staatlichen Macht, dem handelspolitischen Einfluß, dem Zolltarif und den Handelsverträgen gerade auch die Lage der untern Klassen, der Arbeiter in jedem Lande abhängt. Man könnte sagen, es sei bedauerlich, daß dies in Deutschland noch nicht genug, noch nicht so wie zum Beispiel in England erkannt werde. Wir gehen einem handelspolitischen Ansturm der großen Weltreiche gegen die mittleren und kleineren Kulturstaaten entgegen, der für unsere soziale Zukunft und die Lage auch der unteren Klassen in Deutschland vielleicht für länger eine der wichtigsten Lebensfragen sein wird.

Die zweite Gruppe unserer Schriften bezieht sich auf die Unternehmung, hauptsächlich auf die gewerblichen Unternehmungsformen. Wir haben über das Aktiengesellschaftswesen verhandelt und die damals von uns und anderen gegebenen Anregungen führten zur Reform des Aktiengesetzes im Jahre 1884. Wir haben eine Reihe von Bänden über die deutsche Hausindustrie und jetzt neun Bände über das deutsche und zwei über das österreichische Handwerk und seine Konkurrenzfähigkeit veröffentlicht, über welche wir heute noch verhandeln werden. Über die Kartelle haben wir vor einigen Jahren eine Sammlung von Berichten publiziert, dann über sie debattiert. Es gibt in der Literatur nichts Besseres darüber als unsere Schriften und was sich daran anschloß.

Neben diesen gewerblichen stehen die agrarisch-sozialen Fragen, die wir als dritte Gruppe unserer Tätigkeit bezeichnen können. Die agrarische Krisis, das Erbrecht am Grundeigentum, die Erhaltung des Bauernstandes, die innere Kolonisation, der Wucher, die ländlichen Kreditfragen, endlich die ländliche Arbeiterfrage, all das hat uns wiederholt beschäftigt. Enge schlossen sich an diese Gegenstände unserer Schriften und Debatten die über die ländliche Gemeindeverfassung an, welche die endliche Ordnung dieser wichtigen Materie in den Jahren 1891-92 vorbereiten half. Wir werden morgen zur ländlichen Kreditfrage zurückkehren und damit zu einer der wichtigsten in bezug auf die Erhaltung des Bauernstandes, des Klein- und Mittelbetriebes auf dem Lande. Die neuen Gestaltungen, die sich in dieser Richtung seit 30 Jahren in Deutschland entwickelt haben, zumal die neueste Ausbildung des ländlichen Genossenschaftswesens können in ihrer Bedeutung kaum überschätzt werden.

Die letzte und wichtigste Gruppe unserer Schriften und Debatten bezieht sich auf den engeren Kreis der gewerblich-sozialen Frage. Wir haben Schriften veröffentlicht und verhandelt über die Fabrikgesetzgebung und die Reform der Gewerbeordnung, über die Wohnungsfrage und die Gewinnbeteiligung der Arbeiter, über den Arbeitsvertrag und seine Fortbildung, über Arbeitseinstellungen und Gewerkvereine, über Schiedsgerichte und Einigungsämter, über Lastpflicht und Arbeiterversicherung, über Alters- und Invalidenkassen. Wir werden am dritten Tage unserer diesjährigen Generalversammlung zu der wichtigen Frage des Arbeiter-Vereins- und Koalitionsrechtes zurückkehren.

Aus diesem kurzen Bilde unserer Tätigkeit ergibt sich schon ungefähr, was wir gewollt und erstrebt haben. Wir wollten nie die Volkswirtschaft von Grund aus umgestalten, nie den Plan einer vollendeten sozialen Zukunft vorlegen. Wir wollten nur mit der Leuchte der Wissenschaft den Wegen der Praxis vorangehen, uns selbst und womöglich das Vaterland über das Einzelne und Konkrete der sozialen Tatsachen und der Reformen belehren, in den Kämpfen des Tages, der Interessen und Leidenschaften der Stimme der Billigkeit, der Vernunft, der Wissenschaft Gehör verschaffen.

Ist unsere Tätigkeit in diesen 25 Jahren umsonst gewesen? Hat sie Gutes und Nützliches gewirkt? Es ist bekannt, daß von rechts uns zugerufen wird, wir seien unpraktische Doktrinäre, die nur geschadet, von links, wir seien feige Vermittler, welche keine großen und neuen Ideen verbreitet hätten. Wir sind zeitweise von der sozialdemokratischen, zeitweise von der bürgerlichen Presse aufs Heftigste geschmäht worden. Das ist natürlich; ich möchte sagen, es wäre schlimm, wenn es nicht geschehen wäre. Es beweist das eben für unsere Wirksamkeit. Anderseits ist aber auch wohl begreiflich, daß dieselben Feinde, die uns heute als gefährlich oder feige angriffen, morgen uns sagten, unsere ganze Tätigkeit sei überhaupt belanglos gewesen, habe die sozialpolitischen Geschicke unseres Vaterlandes nicht irgendwie beeinflußt.

Die Sozialdemokratie hat immer wieder betont, ihre Tätigkeit, nicht unsere, habe den Stein der sozialen Reform ins Rollen gebracht. Das ist in gewissem Sinne wahr. Ihre Tätigkeit hat eine politische organisierte Macht zur Grundlage; die Sozialdemokratie vertritt ein mächtiges Klasseninteresse. Wir sind ein Häufchen Gelehrter und humaner Praktiker. So wie die Sozialdemokratie konnten und wollten wir gar nicht wirken. Aber beweist das, daß wir nicht in anderer Weise gewirkt haben?

Das Unternehmertum hat uns immer wieder der zu großen Arbeiterfreundlichkeit beschuldigt. Arbeiterfreundlich sind wir gewesen und wollen wir auch sein, sofern wir die Hebung der unteren Klassen für eine Lebensbedingung unserer Gesellschaft und unseres Staates, die zu große soziale Kluft in Gesittung und Einkommen für eine der größten Gefahren der Gegenwart ansehen. Aber wir sind deshalb nicht den Unternehmern feindlich, deren Verdienste als Führer und Offiziere der volkswirtschaftlichen Armee wir stets anerkannt haben.

In der letzten Session des preußischen Abgeordnetenhauses wurde der Vorwurf gegen uns erhoben, sogar mit Berufung auf einen Geheimen Rat – als ob das unbedingt beweise –, wir hätten keinen einzigen Baustein geliefert, welcher direkt der sozialen Reformgesetzgebung Deutschlands zugute gekommen wäre. Wir haben, da wir keine politische Partei sein wollen, natürlich auch keinen Gesetzentwurf ausgearbeitet, wie die Geheimen Räte und Parlamentarier. Aber die geistig soziale Bewegung, die von uns ausging, hat als Sauerteig die weitesten Kreise beeinflußt. Wir können ohne Überhebung sagen, daß, wenn heute eine andere soziale Gedankenwelt Deutschland durch alle Schichten hindurch beherrscht, als 1866-72, wenn heute niemand mehr Manchestermann heißen will, jedermann über die sozialen Pflichten und Rechte des Staates anders denkt, als damals, wenn die Grundzüge unserer Arbeiterversicherung, unserer Arbeiterschutzgesetzgebung, unseres ganzen modernen sozialen Rechtes doch eigentlich von keiner Partei mehr ernstlich bestritten werden, – diese zwar nicht Folge unseres Vereins, aber der großen geistigen und wissenschaftlichen Bewegung sei, deren Fäden am meisten in unserem Verein zusammenlaufen.

Man wird nun als Beweis, daß wir nicht allzu viel erreicht hätten, die Tatsache anführen, daß gerade in den letzten zwei Jahren ein Preßfeldzug, eine Hetze gegen uns entstanden sei, fast stärker und gehässiger als der, welcher der Gründung unseres Vereins in den Jahren 1872-75 folgte. Diese erneute, teils in der Natur der Sache liegende, teils auf Mißverständnissen beruhende Gegnerschaft kann aber ebensogut als ein Beweis unseres Einflusses, unserer großen Wirksamkeit aufgefaßt werden. Zunächst ist sie nur ein Beweis dafür, daß die große Umgestaltung aller volkswirtschaftlichen und sozialen Lebensformen noch lange nicht abgeschlossen ist, daß die großen sozialen Gruppen und Interessen, die sich gegenüberstehen und bekämpfen, heute wieder mal etwas schroffer zusammengestoßen sind und bei diesem Stoß auch gegen uns ausholten. Aber die Angriffe gegen uns sind nur eine unerhebliche Nebenerscheinung des Kampfes, sie beweisen über unsere Wirksamkeit nur, daß wir Mitbeteiligte sind; sie beweisen am wenigsten, daß die soziale Reform, die wir vertreten, dauernd ins Stocken komme.

Ich sage, die Angriffe auf uns seien eine unerhebliche Nebenerscheinung: die übertriebene Furcht vor der Sozialdemokratie hat gewisse Kreise veranlaßt, nach einem angeblich Schuldigen zu fahnden, den man ungestraft hauen könne. So wurde der Kathedersozialismus der Prügeljunge für kurzsichtige Praktiker und Journalisten sowie für einige ehrgeizige und unbefriedigte Dozenten. Da wir über und außerhalb der sozialen Klassen und ihrer egoistischen Interessen, gleichsam als ehrliche Makler zwischen den Arbeitern und Unternehmern stehen, so ist es begreiflich, daß in den Momenten heftiger Erregung von beiden Seiten gegen uns gewettert wird, weil wir beiden nicht schmeicheln, ihnen auch unangenehme Wahrheiten sagen. Wir machen uns daraus nicht viel, sondern kompensieren die übertriebenen Vorwürfe, die in einem Teil der großbürgerlichen und agrarischen Presse gegen uns erhoben werden, mit denen der sozialdemokratischen und schließen aus den Doppelangriffen, daß wir auf dem rechten Wege seien.

Die ganze sozialpolitische Reaktion der letzten Jahre ist aber auch kein Beweis, wie ich schon sagte, daß wir, daß die Träger der sozialen Reform in Deutschland überhaupt geschlagen, daß die großen geistigen und sittlichen Kräfte, auf denen sie beruht, im Zurückgehen begriffen seien. Diese Reaktion ist nichts als eine vorübergehende Wellenbewegung, wie sie zum Wesen der geschichtlichen Entwicklung gehört. Nach jedem großen epochemachenden Fortschritt der Gesetzgebung kommen Jahre der Ermattung, des Kritisierens, des Mißvergnügens. Wie der großen Stein-Hardenbergschen Agrarreform von 1807-1811 die Reaktion von 1816 folgte, aber weder die Gesetzgebung von 1811 ganz beseitigte, noch ihren späteren Ausbau hinderte, so hat die sozialpolitische Reform der 80er Jahre, welche uns die Arbeiterversicherung brachte, und die von 1890/91, welche endlich die deutsche Arbeiterschutzgesetzgebung einen großen Schritt vorwärts führte, naturgemäß die widerstrebenden Interessen aufgerüttelt. Sie suchen aus allen Tonarten zum Rückzug zu blasen und zu kritisieren. Das ist ihr gutes Recht; soweit sie mit ihrer Kritik recht haben, kann diese nur der sozialpolitischen Reform zugute kommen. Die Bescheidenen verlangen nur eine »Verdauungspause«, ehe weiter vorangeschritten werde. Anders als durch solche Kritik, durch solche Rede und Gegenrede, durch solche Kämpfe hindurch vollzieht sich keine Reform. Dem Wellental der Reaktion wird aber schon der Wellenberg des weiteren Fortschritts folgen. Der Druck belebt die Kräfte, er zeugt neue und stärkere, sofern es sich überhaupt um eine große historische, in Jahrzehnten sich vollziehende Notwendigkeit handelt. Und daran zweifelt doch keiner, der unsere Zeit versteht, daß wir erst noch den größten sozialen Änderungen entgegengehen: das 19. Jahrhundert wird das soziale sein. Wie die Technik jetzt größere Änderungen als seit 3000 Jahren erlebte, so wird auch die soziale Struktur der Gesellschaft größeren Wandlungen als seit lange entgegengehen, und das muß geschehen im Zusammenhang mit der Hebung des Wohlstandes und der Kultur der Massen. Aus dem gärenden Kampfe der Gegenwart wird und muß ein neuer höherer Zustand des sozialen Friedens hervorgehen; es wird, wenn ich ein Bild gebrauchen darf, ein sozialer Baum erwachsen, der seine Wurzeln in den intellektuellen und moralischen Fortschritten des ganzen Volkes, seine Blätter und Äste in den verbesserten sozialen Institutionen, seine Blüten und Früchte in der höheren Gesittung und dem breiteren Wohlstand der Massen haben wird.

Ob in den Kämpfen, die zu diesem Ziele führen, der Verein für Sozialpolitik weiterhin eine erhebliche Rolle spielen wird, wage ich nicht zu entscheiden. Das hängt von zufälligen Umständen, von Persönlichkeiten und Konstellationen aller Art ab. Aber daß die geistige Bewegung, die er inauguriert hat, fortdauern wird, das weiß ich sicher. Ja, ich möchte sagen, sie werde mit ganz anderer Kraft als bisher künftig weiterwachsen, wenn anders die Entwicklung unseres Vaterlandes eine gesunde bleibt.

Die Gründe, die mich bei dieser Überzeugung leiten, darf ich gleich nachher anführen. Vorerst nur noch eine Zwischenbemerkung darüber, daß dem Verein und den deutschen Nationalökonomen, die sich in ihm verkörpern, jetzt oft vorgeworfen wird, sie seien ganz andere seit 1872 geworden.

Gewiß hat die Zusammensetzung unseres Vereins mannigfaltig gewechselt und gewiß sind wir selbst, die seit 1872 mitwirkten, mannigfach andere geworden. Es wäre schlimm, wenn wir nichts gelernt hätten seit 25 Jahren. Aber der Grundcharakter des Vereins hat sich doch nicht wesentlich verschoben, weil die Bedingungen, unter denen er entstand, heute noch ähnliche sind wie 1872.

Die Männer, welche den Verein mit uns begründeten und die heute nicht mehr sind, Roscher und Hildebrand, Gneist und Nasse, Sybel und Konstantin Rößler, Ernst Engel und Franz Duncker, Held und Wedell-Malchow, auch spätere einflußreiche Teilnehmer, die schon im Grabe ruhen, wie Reitzenstein und Dannenberg, sie haben alle sozialpolitisch einen ähnlichen Standpunkt vertreten, wie die heutige Majorität des Ausschusses. Nasse, unser vieljähriger verdienter Vorsitzender, dessen wir heute in besonderem Maße gedenken, wurde neuerdings von unserem schroffsten Gegner als sein Freund und Gesinnungsgenosse in Anspruch genommen. Und eben dieser Nasse hat in einer seiner Eröffnungsreden betont, wie falsch es sei, dem Verein vorzuwerfen, er stelle Theorien auf, welche die Grundlagen der sozialen Ordnung in Frage stellten und den sozialen Frieden gefährdeten. In derselben Rede präzisiert Nasse dann die Pflichten des Vereins dahin, daß er gegenüber dem falschen Optimismus der Besitzenden, der auf einer großartigen Unkenntnis der Tatsachen beruhe, die realen Zustände aufdecke. »Die sozialen Zustände«, ruft er, »mögen sich gebessert haben, aber man übersieht, daß in der Lebensweise der höheren und niederen Klassen unseres Volkes niemals so große Verschiedenheit bestand, wie jetzt, daß heute mehr Reichtum als früher vorhanden ist, der mit bedenklichen Mitteln erworben wurde und nur privatem, zwecklosem Lebensgenuß, und dagegen weniger Reichtum, der großen öffentlichen Zwecken und der Veredelung der Betreffenden dient.

Lebte Nasse noch, so hätten wahrscheinlich die Sykophanten und Denunzianten auch diese Worte, wie ähnliche von mir aus der ersten Hälfte der siebziger Jahre, ausgegraben, um ihn damit zu einem hetzerischen Demagogen zu stempeln, ihn, der ein streng kirchlicher und innerlich konservativer Mann, aber allerdings zugleich ein überzeugungstreuer Sozialreformer war.

Von den übrigen alten Mitgliedern des Vereins, die der Generation Nasse angehören, wird man von keinem sagen können, er sei radikaler oder sozialistischer geworden, als 1872; von einzelnen wird man behaupten können, sie lehrten heute dasselbe wie damals, vielleicht fast mit denselben Worten. Die Rede, mit welcher ich 1872 unsere erste Versammlung eröffnete, kann ich heute noch unterschreiben. Das Referat, das ich damals über die Gewerkvereine erstattete, würde ich im einzelnen vielfach anders, aber doch in demselben Geiste heute vortragen. Und wenn unsere jüngeren Kollegen heute vielfach einen kräftigeren Ton anschlagen, als wir Älteren, ja, wenn einzelne dieser Herren uns Ältere bereits als etwas rückständig, wie jetzt ein beliebtes Schlagwort lautet, betrachten, so liegt das doch mehr in dem Unterschied des Alters, als der Grundprinzipien. Die Jugend ist immer ungeduldiger und kampflustiger, als das Alter. Auch ist natürlich, daß die jüngeren Nationalökonomen die theoretischen Probleme etwas anders formulieren. Aber in der Anerkennung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung und in den praktischen Forderungen der sozialen Reformpolitik ist heute im ganzen keine größere Verschiedenheit in unserem Verein und in der ganzen deutschen wissenschaftlichen Nationalökonomie als 1872; im Gegenteil, die Einheitlichkeit ist viel größer. Selbst die, welche als unsere Gegner auftreten, stehen eigentlich doch auf demselben Boden, wie der Verein für Sozialpolitik in seiner Majorität.

Wenn wir trotzdem im Laufe der 25 Jahre dem ferner stehenden Publikum bald als radikal und gefährlich, bald als mit der Regierung und den Mittelparteien übereinstimmend erscheinen, so kommt es nur daher, daß die Brillen, welche wechselnde Parteistimmungen und Regierungstendenzen dem Publikum aufsetzten, in der Farbe mehrmals wechselten. In den Jahren 1872-75 griffen uns die alten Manchesterleute und der Teil des Unternehmer- und Kapitalistentums an, der politisch radikal von jenen geführt wurde, ebenso ein erheblicher Teil der alten freihändlerischen Bureaukratie, während die Konservativen, einschließlich des Fürsten Bismarck, wie ein Teil der politisch Vorangeschrittenen unsere Bewegung gerne sahen. Gegen Ende der siebziger und im Laufe der achtziger Jahre, als offiziell die Sozialpolitik und Sozialreform in die Hand genommen wurde und das Manchestertum fast ganz verschwand, hörten die Angriffe auf uns von seiten der offiziösen und Unternehmerpresse auf, die von sozialdemokratischer Seite wuchsen. Mit den sozialpolitischen Tendenzen des Zentrums hatten wir stets viel Gemeinsames, aber es trat das früher, zumal in den Tagen des Kulturkampfes, nicht hervor, da doch die meisten von uns Liberale waren. Seit den achtziger Jahren mußten wir uns nähern, da der Verein für Sozialpolitik und das Zentrum aus ähnlichen ethischen, religiösen und humanen Tendenzen arbeiterfreundlich waren und sind. Und ganz ähnlich mußten wir – die meisten von uns sind Protestanten – mit der beginnenden protestantisch-sozialen Bewegung uns sympathisch berühren. Es ist dieselbe geistig-ethische und soziale Gedankenwelt, welche in der deutschen Staatswissenschaft, im besten Teil unseres Beamtentums und unserer Geistlichen, welche in dem wiederbelebten christlichen und staatlichen Sinne wie in einem Teil des politischen Fortschrittes sich von 1880 bis zur Gegenwart immer mehr Terrain eroberte, welche in der Arbeiterschutzgesetzgebung von 1891 einen gewissen Triumph feierte.

Den Rückschlag, welcher seit 1892-1895 eingetreten ist, habe ich schon vorhin charakterisiert. Die deutschen Regierungen haben eine Schwenkung gemacht, welche die vorläufige Sistierung oder Verlangsamung der Sozialreform bedeutet. Ich lasse dahingestellt, ob das mehr eine innerliche Änderung oder mehr eine bloß veränderte Taktik ist, welche nur im Moment die der Sozialreform entgegengesetzten Interessen schonen und für andere wichtige staatliche Zwecke gewinnen will. Einerlei, der Verein für Sozialpolitik und die Kathedersozialisten, welche bis 1893-1894 von der offiziellen, konservativen und Unternehmer-Presse wenigstens geschont oder als Bundesgenossen behandelt wurden, erschienen jetzt plötzlich in denselben Organen als gefährlich, ja als Leute, denen man unternehmerfreundliche Strafprofessoren zur Seite setzen müsse.

Wir haben seither mit ungünstigem Winde von dieser Seite her zu kämpfen, während wir naturgemäß nun bei der übrigen Presse, bei der demokratischen und sozialdemokratischen sowohl als bei der Zentrumspresse eher freundlicherer Worte gewürdigt wurden. Übrigens hat von der nationalliberalen Partei nur ein Teil der Presse die Schwenkung gegen uns mitgemacht. Die konservative auch nicht in dem Maße wie die freikonservative, der der Ruhm gebührt, sich ganz um ihre Achse gedreht zu haben, sofern sie früher ganz auf unserer Seite stand, bekämpft uns jetzt am stärksten. Es ist bekannt, daß der Mitbegründer unseres Vereins, Konstantin Rößler, in früheren Jahren die besten Leitartikel der Post schrieb und dort für die soziale Reform eintrat.

Es sei ferne von mir, den Teil der Presse, der sich jetzt gegen uns gewandt hat, unbedingt verurteilen zu wollen. Jeder treibt Politik, wie er es versteht, und greift an, wen er für seinen Gegner hält. Nur etwa darum kann es sich handeln, Mißverständnisse aufzuklären, die Gegensätze, um die es sich handelt, in ihrer wahren Bedeutung und in ihrem innersten Kerne hinzustellen. Und in dieser Absicht möchte ich mir zum Schlusse erlauben, kurz noch auszusprechen, wie ich persönlich unsere sozialpolitische Lage und ihr gegenüber die Aufgabe unseres Vereins auffasse.

Die sozialen Kämpfe der Gegenwart entspringen den ungeheuren Veränderungen, welche durch die moderne Technik und die allgemeine Volksbildung sowie durch die veränderten religiös-sittlichen und politischen Anschauungen in der Schichtung der Gesellschaft und in den Beziehungen der sozialen Klassen untereinander und zur Staatsgewalt entstanden. Der politische Einfluß, das soziale Ansehen, das wirtschaftliche Einkommen der verschiedenen Klassen mußten ganz andere werden als früher. Neue aristokratische Klassen kamen empor; der Mittelstand war stark bedroht, er versteht sich jetzt wieder emporzurichten. Die unteren Klassen erhielten zu einem großen Teil eine andere Tätigkeit, eine andere Stellung; zuerst vielfach tief herabgedrückt, hat jetzt eine Elite derselben sich in jeder Beziehung emporgehoben und verlangt mit Recht entsprechend ihrer größeren Leistungsfähigkeit mehr Einfluß und Einkommen. Alle diese Verschiebungen können nur durch lange politische und soziale Kämpfe hindurch wieder in bestimmten Institutionen zur Ruhe kommen. Den Kämpfen müssen die verschiedensten Kompromisse folgen, die in ihrer Gesamtheit einen neuen höheren Friedenszustand der Gesellschaft darstellen werden. Alle edlen und guten Menschen hoffen mit Recht, daß die neuen Institutionen bessere und gerechtere als früher sein, einem großen Teil der Menschen Anteil an den höheren Gütern der Kultur verschaffen werden.

Mitten in diesen Kämpfen sind wir begriffen. Jeder, der ganz am Alten festhalten will, der diese Kämpfe und ihre Notwendigkeit nicht begreift, ist unfähig, in unserer Zeit bestimmend und leitend mitzureden. Die aber, welche ihre Notwendigkeit begreifen, stehen ihnen doch verschieden gegenüber. Die einen sehen in erster Linie auf diese Notwendigkeit, sie begrüßen mit Freude den frischen fröhlichen sozialen Kampf und Krieg, hoffen einseitig und optimistisch auf die Siege der bisher Bedrückten, auf die Siege der Demokratie und der Massen. Sie glauben, daß ohne weiteres daraus bessere soziale Zustände und Einrichtungen erwachsen werden. Die anderen leugnen nicht, daß wir heute Kämpfe sozialer Art haben müssen, daß der Kampf »der König und Vater aller Dinge« sei. Aber sie betonen ebenso stark, daß jedes gesittete Volk in erster Linie eine Friedens- und Rechtsgesellschaft darstelle, daß der Kampf auch ein blinder, roher, zerstörender, die Gemeinheit und die Leidenschaft zur Herrschaft bringender sein kann. Sie glaubten nicht, daß die Organisation der sozialen Klassen gegeneinander mit ihrem Haß, mit ihren Mißverständnissen sicher Gutes schaffe. Sie täuschen sich darüber nicht, daß es stets höhere Klassen geben, und daß diesen die Führung der Gesellschaft bleiben muß. Sie erwarten nicht, daß die Demoralisierung von Staat und Gesellschaft, so heilsam und unvermeidlich, ja so segensreich sie innerhalb gewisser Grenzen heute ist, allein uns die vollkommenen sozialen Einrichtungen bringen werde. Noch weniger glauben sie, daß je auf die Dauer andere Mächte, als Moral und Religion, Sitte und Recht, andere Prinzipien, als Billigkeit und Gerechtigkeit, die Leitung der Gesellschaft werden übernehmen können. Ich für meinen Teil rechne mich dieser Gruppe zu, und die meisten Mitglieder des Vereins für Sozialpolitik, denke ich, werden derselben Ansicht sein.

Immerhin, darüber, ob zunächst im einzelnen Lande der soziale Kampf oder die Tendenz auf friedliche Reform überwiegen werde, darüber wird man auf Grund allgemeiner Vorstellungen, wie auf Grund konkreter Betrachtung über Land und Leute verschiedener Ansicht sein können.

Je schwächer in einem Lande die staatlichen Gewalten, die überlieferten sittlichen und rechtlichen Bande sind, desto mehr wird man in ihm auf erschütternde soziale Kämpfe, die eventuell bis zur Revolution gehen, gefaßt sein können. Wir in Deutschland haben eine stärkere monarchische Gewalt, als irgend ein anderer Staat; wir haben ein über den sozialen Klassen stehendes integres Beamtentum, wie kein anderes Volk, das in der Hauptsache heute noch, gottlob, regiert; wir haben im vorigen und in diesem Jahrhundert große segensvolle soziale Reformen bereits durchgeführt. Wir haben noch einen stärkeren und einen gebildeteren Mittelstand, als die meisten gerade der vorangeschrittensten Kulturstaaten. Wir sind das Volk mit der besten allgemeinen Volksschule, mit einem trefflichen technischen Bildungswesen, ein Volk des ernsten Denkens, der stärksten religiösen Empfindungen. Wenn irgend ein Volk, so sind wir bestimmt, mehr durch innere Umbildung und friedliche Reformen, als durch heftige soziale Kämpfe und gewalttätige Revolution zum Ziele zu kommen. Aber auch für uns ist die Voraussetzung dazu, daß nicht einseitige Klasseninteressen die Leitung in Staat und Volkswirtschaft an sich reißen, daß die mehr außerhalb des Kampfes stehenden Elemente das Übergewicht behalten.

Diese Elemente zu stärken, für sie die geistigen Waffen zu liefern, das scheint mir heute die praktische Aufgabe der Staats- und Sozialwissenschaft und unseres Vereins für Sozialpolitik. Das Übergewicht der Gesamtinteressen über die egoistischen Klasseninteressen gilt es zu erhalten.

Damit kann natürlich nicht gemeint sein, die legitime Geltendmachung der Klasseninteressen beseitigen und unterdrücken zu wollen. Die sozialen Klassen, hauptsächlich die Unternehmer und Arbeiter müssen im freien heutigen Staate über ihre Interessen sich verständigen, sich in der Presse und in Vereinen äußern, sich organisieren dürfen, soweit sie damit in den Schranken des Rechtes und der Sitte bleiben. Aber da jede solche Organisation, jeder solcher Kampf einseitig macht, erbittert, leicht zu extremen Wünschen, Forderungen und Theorien führt, ja die Leidenschaften unter Umständen maßlos steigert, so müssen hiergegen starke Gegengewichte vorhanden sein. Und es ist viel besser, wenn sie nicht bloß durch die Staatsgewalt repräsentiert sind, sondern auch durch eine starke öffentliche Meinung, durch eine gesunde Presse, die nicht von den kämpfenden Klassen abhängt, durch geschulte, geklärte Anschauungen aller Gebildeten und aller unbeteiligten Kreise, durch eine Literatur und Wissenschaft, welche weder einseitig im Dienste des Kapitals, noch der Arbeiter steht.

Da liegt die Aufgabe unseres und ähnlicher Vereine. Wir müssen über den Klassen stehen, die Extreme, die Leidenschaften, die gegenseitige Verhetzung bekämpfen. Es geschieht am besten, wenn wir die sozialen Fragen, wie es der jetzige Vizepräsident des Staatsministeriums, Dr. von Miquel, bei der Begrüßung unseres Vereins einmal formulierte, friedlich studieren, sie nur messen nach dem Maßstab der allgemeinen Wohlfahrt. Wir sind stolz darauf, rief Nasse in der letzten Versammlung, der er präsidierte, daß es bei uns nicht üblich ist, für den eigenen Geldbeutel oder für das Geldinteresse der Erwerbs- und Standesgenossen zu reden.

Diese unparteiische Sachlichkeit müssen wir uns bewahren, dadurch sind wir unangreifbar und unentbehrlich. Indem wir über den Klassen stehen, wirken wir dahin, daß die Kämpfenden sich wieder verstehen, der Unternehmer den Arbeiter und dieser jenen, daß sie aufhören, die Gegner sich stets vorzustellen als von schlechten, gemeinen Motiven beherrscht, als moralisch verwerfliche, hassenswürdige Persönlichkeiten. Das ist das Gift, das zu beseitigen ist. Beide Teile müssen verstehen lernen, daß und warum ihre momentanen Interessen auseinandergehen, daß und warum sie also in den Schranken der Sitte und des Rechts miteinander kämpfen; sie müssen im Kampfe wieder sich erinnern lernen, daß ihre großen und in der Zukunft liegenden Interessen doch auch gemeinsame seien. Beide Teile müssen begreifen, wieviel edle und ideale Motive, wie viele treffliche Persönlichkeiten bei der Gegenpartei zu treffen seien.

Ein französisches Sprichwort sagt: tout comprendre c'est tout pardonner. Unsere Schriften und Verhandlungen müssen dieses Verständnis erzeugen, so daß trotz aller Kämpfe immer wieder die Verständigung möglich wird. Sie kann nie über Prinzipien, sie kann stets über konkrete praktische Einzelfragen gelingen. Sie muß zwischen den Bürgern desselben Staates gelingen, wenn er nicht durch die Kämpfe zerstört werden soll.

Meine Herren! Unsere Interessenkämpfe sind, das kann niemand bestreiten, seit den letzten Jahren immer derber, realistischer, sie sind teilweise brutal geworden. Die demagogischen Künste haben sich ausgebildet; sie sind nicht etwa bloß von der Sozialdemokratie angewandt worden. Ich will darüber nicht sentimental jammern. Ein solch derber Realismus kommt immer zeitweise; er schadet nicht allzuviel – unter der einen Voraussetzung, daß die entgegengesetzten idealen und zentralen Kräfte stark genug bleiben, den zentrifugalen die Waage zu halten. Ich meine die Liebe zu unserem großen deutschen Vaterland, das lebendige Staatsgefühl, das doch wohl heute stärker ist als seit Jahrhunderten, die Hochhaltung unserer nationalen Institutionen, die Gefühle der Pflicht und Gerechtigkeit gegenüber dem weniger begünstigten Teile unseres Volkes, welche das Fundament aller gesunden Staatsordnung sind. Quid respublicae, remota justitia, quam magna latrocinia. Dies große Wort Augustus' gilt auch heute noch.

Unser Verein steht heute wie 1872 zwischen dem radikalen Umsturz und der blinden Reaktion, den ruhigen, gesetzmäßigen sozialen Fortschritt verteidigend, die möglichen und billigen Reformen fordernd. Bleiben wir bei dieser Fahne! Die Welle des Rückschritts, die heute wohl schon wieder zurückebbt, wird überwunden werden. Unsere Sache wird zuletzt so sicher siegen, als in der Entwicklung der Menschheit die höheren Gefühle über die niedrigen, der Verstand und die Wissenschaft über die Leidenschaften und Interessen immer wieder gesiegt haben!

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Eröffnungsworte zur Generalversammlung des Vereins für Sozialpolitik in Breslau am 25. September 1899.

Soziale Praxis. IX. Jahrgang Nr. 1 vom 5. Oktober 1899, Spalte 1.

Meine Herren! Ehe ich den Vertretern der Provinz, der Stände und der Stadt, die die Güte haben wollen, uns zu begrüßen, das Wort erteile, erlauben Sie mir einige allgemeine Worte zur Einleitung. Ich werde mich bemühen, so kurz wie möglich zu sein. Ich habe schon öfters bei derartigen Gelegenheiten über Ziele und Zwecke unseres Vereins gesprochen, hauptsächlich vor zwei Jahren in Köln, bei unserem 25jährigen Jubiläum, und ich muß fürchten, mich zu wiederholen, wenn ich ausführlicher werde. Ich wende mich auch weniger an die alten als an die zahlreichen neuen Mitglieder, die wir hier zu begrüßen die Freude haben, und an die Gäste, die uns die Ehre schenken, an der Versammlung teilzunehmen.

Also nur ein paar Worte über die Frage, was der Verein für Sozialpolitik und seine Mitglieder wollen, was sie sind, was sie erstreben. Und da möchte ich sagen: Wir sind ein Verein, der in erster Linie aus Gelehrten besteht. Fast die sämtlichen Nationalökonomen Deutschlands und Österreichs sind Mitglieder des Vereins, aber es sind daneben Beamte, Handelskammersekretäre und humane Praktiker, die unseren Ideen nahestehen, zugleich Mitglieder; es sind diejenigen, die sich besonders in unserem Sinne für volkswirtschaftliche und soziale Fragen interessieren. So wie sich die Dinge nun seit über 25 Jahren gestaltet haben, verfolgen wir zwei scheinbar getrennte Ziele. Wir sind einmal eine Art Publikationsgesellschaft, d. h. wir sammeln wissenschaftliche Beiträge und Untersuchungen über die großen praktischen, volkswirtschaftlichen und sozialen Fragen der Gegenwart und publizieren sie in regelmäßiger Schriftenfolge. Und wir streben durch sie wie durch unsere Generalversammlungen und unsere Debatten die unparteiische Wahrheit zutage zu fördern, gegenüber dem Kampfe der Klassen und Parteien die Billigkeit und Gerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen, der friedlichen sozialen Reform die Wege zu bahnen.

Wir haben bis heute 87 Bände von Schriften herausgegeben, meist von erheblichem Umfange. Wir haben jetzt für die Fragen, die wir diesmal erörtern, wieder sieben Bände über das Hausiergewerbe und vier umfangreiche Bände über Hausindustrie und Heimarbeit veröffentlicht; es sind zusammen 180 bis 190 Bogen, an 3000 Druckseiten, die wir der Öffentlichkeit übergeben.

Nur dadurch, daß die Seminare unserer sämtlichen deutsch-österreichischen Hochschulen in enger Verbindung mit unserem Verein stehen, daß in diesen Seminaren viele fähige Arbeiter vorhanden sind, die uns unterstützen, und daß zahlreiche Praktiker, Handelskammersekretäre, Referendare und Assessoren, Privatgelehrte usw., die früher darin waren, noch immer mit uns in Verbindung stehen, ist es möglich geworden, daß wir, so oft wir eine große Frage in Angriff nehmen, über ein Dutzend oder mehr, teilweise über 30 bis 50 Mitarbeiter verfügen, die einen erheblichen Teil ihrer Zeit und Kraft für uns einsetzen, die fähig sind, unparteiisch zu beobachten und unparteiisch alles einschlägige Material zu sammeln und es wissenschaftlich zu verarbeiten, zutreffende Darstellungen daraus zu fertigen. Meine Herren, wir wissen wohl, daß diese Beiträge auch ihre Lücken und Unvollkommenheiten haben, wir wissen, daß sie keine abschließenden wissenschaftlichen Urteile über die großen Fragen der Zeit geben; das ist Sache der Wissenschaft und der großen öffentlichen praktischen Debatten. Sie wollen das wissenschaftliche Urteil nur fundieren. Wir wissen auch, daß sie mit den großen öffentlichen Enqueten, wie sie die Staatsregierung machen kann, die Hunderttausende kosten, in gewisser Beziehung nicht verglichen werden können; aber wir hoffen, daß wir mit unseren Arbeiten die öffentlichen Enqueten ergänzen, sie vorbereiten, daß wir die Staatsregierungen anregen zu weiteren Enqueten. Das, was wir geben, sind wissenschaftliche Beiträge zur unparteiischen Aufhellung wichtiger schwebender Tagesfragen, und selbst unsere Gegner, auch unsere heftigsten Gegner, haben immer anerkannt, daß wir mit dieser Tatsachensammlung und -veröffentlichung im ganzen ein gutes Werk vollziehen. Ich möchte hinzufügen: Tatsachen sammeln und richtig beschreiben, ist gewiß nicht das Höchste in der Wissenschaft und für die Praxis, aber es ist doch notwendig und wertvoll. Lotze sagte einmal, wenn ich das hier wiederholen darf: Tatsachen sammeln und gut mitteilen, sei immer etwas Erhebliches, und es gering schätzen, weil es in der Wissenschaft höhere Aufgaben gebe, gezieme nur jenen hesiodischen Toren, die niemals einsehen, daß halb oft besser sei als ganz. Etwas Halbes gut machen, meint er, sei besser als etwas Ganzes schlecht machen. Lassalle hat in ähnlichem Zusammenhänge den Ausspruch getan: Der Stoff ohne den Gedanken habe immer noch einen relativen Wert; der Gedanke ohne materielle Unterlage habe nur die Bedeutung einer Chimäre; und ich glaube, diese beiden großen Männer haben damit den Wert solcher Materialsammlung richtig erkannt.

Aber wir wollen doch nicht bloß Material sammeln, wir wollen es kondensieren, wir wollen es verwerten, wir wollen es nach unserer Art interpretieren. Wir wollen mit diesem Material der Sozialreform dienen, die wir auf unsere Fahne geschrieben haben, und wir glauben durch die Schlußfolgerungen, die wir an das Material knüpfen, in unserer Art dem Vaterlande und den großen öffentlichen Interessen zu dienen, wenn auch das, was wir aus dem Material schließen, vielfach ein anderes ist, als was andere Kreise daraus folgern.

Wenn ich nun noch ein Wort darüber sagen darf, über den Wert, den unsere Schlußfolgerungen, unsere Deduktionen aus diesem Material haben, so, glaube ich, überhebt sich der Verein für Sozialpolitik nicht; er erklärt seine Mitglieder nicht für besser, für klüger, für sachverständiger oder gar für praktischer als unsere Gegner, die anders urteilen, wenn wir behaupten, wir hätten ein gutes Recht mit unseren Schlüssen, mit unseren daraus abstrahierten Theorien gehört zu werden. – Ich glaube, wir können sagen: die Mitglieder unseres Vereins haben, soviel sie in anderem ihren Gegnern nachstehen mögen, zwei kleine bescheidene Vorzüge: wir sind fast alle seit Jahren und Jahrzehnten ausschließlich damit beschäftigt, wir sind seit unserer Jugend darauf eingeschult, das volkswirtschaftliche und soziale Leben zu beobachten und richtige sozialpolitische Schlüsse daraus zu ziehen. Und ferner – was vielleicht noch wichtiger ist – wir sind alle oder fast alle an den großen Fragen, um die in der Öffentlichkeit sozialpolitisch gekämpft wird, sehr wenig beteiligt. Wir kämpfen nicht für unser Einkommen, wir kämpfen nicht für unser Vermögen, wir kämpfen nicht für unsere persönlichen wirtschaftlichen Interessen, und eben deswegen können wir die Vermutung für uns haben, weniger von unseren Leidenschaften, unseren Gefühlen im Urteil beeinflußt zu sein; wir können unparteiischer sehen; wir sind weniger festgenagelt auf bestimmte Formeln der Parteidoktrin, des Klasseninteresses als diejenigen, die uns gegenüberstehen. Man mag uns sagen: Ihr seid deshalb auch oft unpraktisch; ihr habt leicht Reformen vorschlagen; ihr zahlt sie nicht, erfahrt sie nicht am eigenen Leibe. Mag sein; ich betonte schon: unsere Gegner mögen andere Vorzüge besitzen, wie wir unsere Schwächen haben. Aber kein Unparteiischer wird leugnen, daß jahrzehntelange Einschulung und Uninteressiertheit, wie wir sie auch vom Richter verlangen, Dinge seien, die richtige Urteile befördern, die unparteiische Schlüsse erleichtern.

Sobald man das zugibt, so ist auch klar, warum wir mit unseren Schlüssen gegenüber den großen sozialen Klassen, die sich heute in der Gegenwart bekämpfen, leicht in einen gewissen Gegensatz kommen. Wir stehen zeitweise den Unternehmern, zeitweise den Arbeitern dissentierend gegenüber mit unseren Ansichten; wir kommen zu anderen Schlüssen, wir fordern andere Reformen als sie. Wir sind naturgemäß auch zeitweise mit den großen politischen Parteien in einem gewissen Gegensatz, der freilich häufig gewechselt hat. Die Parteien, die uns heute bekämpfen, haben uns in früheren Jahren sehr nahe gestanden. Dieser Gegensatz ist natürlich: Es kann ohne Streit und Kampf kein Fortschritt stattfinden. Es muß der Kampf der Ideen durch allerlei Kontroversen, Argumente, Strömungen hindurch zur Wahrheit führen. Aber wir bemühen uns, diese Kämpfe so leidenschaftslos wie möglich zu führen, und wir werden das am ehesten können, wenn wir uns klar sind, welche Vorzüge und Schwächen wir, welche unsere Gegner haben; wir werden darum am leichtesten sehen, wo es sich um gegenseitige Mißverständnisse handelt, wo sie, wo wir recht haben.

Ich möchte nun noch ein Wort über unser Verhältnis zu Unternehmern und Arbeitern sagen. Ich glaube, die sämtlichen Mitglieder unserer Vereinigung können sich rühmen, daß sie den Wert und die Bedeutung unserer Großunternehmer, unserer führenden Geschäftsleute, vor allem die praktischen Spitzen der deutschen Volkswirtschaft voll und ganz verstehen und anerkennen. Wir haben nie einen Zweifel unter uns darüber aufkommen lassen, daß die Unternehmer die Offiziere unserer Volkswirtschaft sind, und wir haben stets betont, daß darunter viele sind, die wir als die genialsten, klügsten, sachverständigsten und patriotischsten Mitbürger anzuerkennen haben. Wir haben auch nie einen Zweifel darüber gehabt, daß ein Teil dieser Unternehmer, besonders die fähigsten, uns in praktischer Lebenskenntnis sicher überlegen sind. Aber dadurch, daß sie im Kampfe des Tages stehen, daß sie für ihre Interessen kämpfen – und kämpfen müssen, was wir vollständig verstehen –, kommen sie durch die jahrelange praktische Beschäftigung in bestimmter Richtung doch fast stets zu der nicht immer zutreffenden Anschauung, ihr Geschäftsinteresse und das Wohl des Vaterlandes seien identisch. Natürlich gibt es auch unter ihnen Ausnahmen; es gibt vereinzelte, sehr hochstehende Unternehmer, die nicht an diese Identität des Privat- und des Gesamtinteresses glauben. Aber sie sind doch selten, müssen nach ihrer Lebensbeschäftigung selten sein. Oft ist nun aber auch das Interesse der großen Geschäfte, ja der Kartelle, der großen wirtschaftlichen Verbände mit dem Staatsinteresse eins; aber nicht immer; es können die Gesamtinteressen, die geistigen und sittlichen Interessen, die Arbeiterinteressen da und dort mit den Unternehmerinteressen kollidieren: – und dann werden wir uns auf die andere Seite schlagen, dann kommen wir unter Umständen in einen gewissen Konflikt mit ihnen. Wir werden in der Regel bei Beurteilung der großen sozialpolitischen Fragen nicht so, wie die Unternehmer, auf das Nächstliegende, auf heute und morgen sehen; wir werden eher die ferner liegenden Folgen ins Auge fassen, und schon damit ist ein gewisser verschiedener Gesichtswinkel gegeben und eine gewisse verschiedene Beurteilung in manchen großen Fragen.

Und, meine Herren, ich glaube, ganz ähnlich ist es mit den Arbeitern. Daß wir die deutsche Arbeiterbewegung anerkennen, daß wir ihr vielfach sympathisch gegenüberstehen, ist allgemein bekannt. Ich kann sagen, trotzdem, daß wir die Gefahren und Irrlehren der Sozialdemokratie klar einsehen und bekämpfen, haben wir ein Verständnis für die Arbeiterbewegung, ihre Notwendigkeit, ihr Recht. Wir wissen, daß ein Teil der Arbeiterführer mit zu den fähigsten, idealsten und tüchtigsten Persönlichkeiten der Nation gehört und daß die ganze Aufwärtsbewegung des Arbeiterstandes eines der schönsten Blätter in unserer neuen deutschen Geschichte ist. Wir wissen aber auch, daß in den sozialen Fragen der Gegenwart die Einsicht in das Mögliche häufig den Arbeitern fehlt, daß die gärenden Massen noch wirr durcheinander wirbeln, daß unbestimmte Hoffnungen und Leidenschaften an Stelle klarer Einsicht stehen, daß selbst die Arbeiterführer sich den erregten Gefühlen der ungeschulten Massen oft unterordnen, statt sie zu führen und zum Erreichbaren und Vernünftigen hinzuleiten. Und deshalb ist es selbstverständlich, daß wir Gelehrte über die möglichen sozialen Reformen anders urteilen, und ebenso, daß wir glauben, wir seien fähig, von unserem Standpunkte aus die Arbeiterinteressen richtiger zu beurteilen, als die Arbeiter selbst. Das ist das notwendige Ergebnis aus den verschiedenen Standpunkten, den die Arbeiter und den wir einnehmen.

Es ist überhaupt verständlich, daß die Leute im praktischen Kampfe des Tages, die Arbeiter wie die Unternehmer, mit einer großen Wucht für ihre Interessen kämpfen, und ich verdenke es ihnen auch nicht, wenn sie mit einer gewissen Leidenschaft auftreten. Große Bewegungen können nicht ohne Anknüpfung an große Interessen und ohne eine gewisse Erregung starker Gefühle, ja Leidenschaften gemacht werden. Wir aber, wir Gelehrten, wir wollen an diesen Leidenschaften nicht teilnehmen, wir wollen die leidenschaftslosen, ruhigen, objektiven Beobachter und Beurteiler bleiben, und damit ist zugleich, wie ich glaube, unsere Aufgabe bezeichnet, unser Recht auf Existenz, auf Wirkung bewiesen. Indem wir den Tageskämpfen immer mehr nur von fern zusehen, indem wir nicht persönlich an ihnen beteiligt sind, mögen wir im einzelnen dies oder jenes übersehen, dadurch in Kleinigkeiten und Nebenfragen irren, aber im großen und ganzen, glaube ich, können wir sagen, spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, daß wir die großen Linien der Bewegung in Vergangenheit und in Zukunft mit einer gewissen Objektivität, mit einer gewissen Klarheit übersehen und daß wir deswegen auch befähigt sind, praktische Ratschläge für die Wege der Reform zu erteilen.

Und, meine Herren, weil wir nicht vom Tage leben, weil wir auf die Zukunft wirken wollen, schreckt uns auch die Tatsache nicht ab, daß zeitweise unsere Aktien einmal ungünstiger stehen, daß unsere Ideen nicht stets in gleichmäßiger Vorwärtsbewegung begriffen sind, daß Hindernisse praktischer Art sich uns in den Weg stellen, daß gewisse politische Parteien uns zeitweise bekämpfen. Objektive Ideen und praktische Tagesinteressen bekämpfen sich stets. Bald siegen die letzteren, zumal in den Tagen matten, materialistischen Treibens; bald gewinnen aber auch wieder die großen Ideen an Kraft, an Einfluß und drängen die egoistischen Interessen zurück. In der Gegenwart ist der Wind für soziale Reformen kein besonders günstiger, und er ist auch seit unserer letzten Versammlung in Köln kaum günstiger geworden, obwohl man ja dieses Frühjahr nach den Reichstagsverhandlungen meinte, es sei wieder mehr Sympathie und Interesse für sozialpolitische Fortschritte und Reformen vorhanden als in den letzten Jahren. Ich glaube, die Mitglieder des Vereins denken über die heutige Lage immer noch etwas pessimistisch. Vor allem werden viele unter uns es beklagen, daß eine Veränderung der Strafgesetzgebung in bezug auf das Koalitionsrecht schwebt, die ihnen als unheilvoll und ungerecht erscheint, sowie sie isoliert geplant ist. Ich habe aber von dieser Frage nicht zu sprechen. Andere Fragen stehen auf der Tagesordnung. Wir werden heute sprechen über die Heimarbeit und ihre gesetzliche Regelung, morgen über die Lage des Hausierhandels und dann über die Fragen des Detailhandels. Auch das sind Fragen von größter Tragweite; es sind solche, die gerade jetzt vielleicht eher eine Förderung erlauben, als wenn wir diesmal wieder über das eigentliche Industriearbeiterrecht, das Koalitionsrecht usw. sprechen wollten.

Worüber wir auch immer verhandeln, wir halten an der Überzeugung fest, die uns einst zusammengeführt hat, daß die Wissenschaft das Recht hat und eine Pflicht erfüllt, wenn sie ihre Stimme in den sozialen Kämpfen erhebt, wenn sie festhält daran, daß in den ungeheuren Umwandlungen unseres öffentlichen Lebens nicht der Faustkampf zwischen den wirtschaftlichen Interessen, sondern das ruhige Maßhalten, die Vernunft, die Billigkeit, die Humanität und Gerechtigkeit entscheiden sollen. Wir werden uns also bemühen, objektiv und gerecht zu sein gegen alle Klassen, wir werden daran festhalten, daß eine festgefügte Staats- und Gesellschaftsordnung unter einer energischen erblichen Monarchie der beste Pfeiler einer gesunden Entwicklung ist. Wir werden vor jedem sozialistischen Experiment, vor jeder Revolution warnen und ihr entgegentreten, aber wir betonen auch, daß ohne eine große dauernd festgehaltene soziale Reform, ohne tiefgreifende Maßregeln zugunsten der unteren Klassen, ohne Anerkennung der Gleichberechtigung der unteren Klassen auf dem Markte wir den allergrößten Gefahren entgegengehen. Auf diesem Standpunkte stehen wir noch, und wir kämpfen dafür, weil wir wissen, daß unsere Prinzipien entweder siegen oder daß die Zustände immer trauriger und gefährlicher werden, daß ohne soziale Reform unsere ganze Zukunft, die Zukunft des Vaterlandes, vielleicht die Zukunft unserer ganzen Kultur bedroht ist. Und wir werden für diese Ziele eintreten, ob wir nun im Augenblick von dieser oder jener Seite verdächtigt, verfolgt und in übertriebener Weise angegriffen werden.

Ich will nicht sagen, daß wir von der großen Masse der Nation, vom größeren Teil unserer Presse überhaupt oder übertrieben angegriffen werden. Das wäre sehr unrichtig. Es ist eigentlich nur ein kleiner Teil der extremen großkapitalistischen Presse, der einen regelmäßigen Feldzug der Feder, der Verdächtigung und Denunziation gegen die Professoren, gegen die Doktrinäre, gegen unseren Verein und seine Leiter führt. Zu diesem Feldzug mag einzelnes berechtigt sein. Wie ich schon vorhin betonte, ist es natürlich, daß gewisse Interessen unseren Standpunkt nicht teilen; es ist auch natürlich, daß allerlei Mißverständnisse mit unterlaufen, daß einzelne Übertreibungen, die auf unserer Seite vorkommen, richtig gestellt werden. Aber im übrigen muß ich den Standpunkt dieser extrem großkapitalistischen Presse doch als einen unberechtigten zurückweisen. Er stellt die Dinge so dar, als ob alle soziale Reform zu sistieren wäre, weil sie nur den Sozialdemokraten zugute komme, er wiederholt immer wieder das unklare, dehnbare Schlagwort: Kampf gegen den Umsturz, und versteht darunter eine grundsätzliche Bekämpfung der berechtigten und unberechtigten Arbeiterinteressen; es ist ein Standpunkt, der mit den Arbeitern erst verhandeln will, wenn sie ihre Führer und Prinzipien abgeschworen hätten. Das ist eine Zumutung, die wir für falsch halten. Keine große Partei kann ihre Führer und ihre Prinzipien ohne weiteres abschwören. Wir stehen auf dem Standpunkte, daß das unheilvolle Tendenzen seien, die selbst denen nicht richtig dienen, welche dahinter stehen, die mehr auf Mißverständnisse und persönliche Gereiztheit gewisser Artikelschreiber, als auf die viel höher stehende Gesinnung ihrer Auftraggeber zurückgehen.

Ich persönlich möchte sagen: mir ist jede feste monarchische Regierung willkommen, die die wirkliche Umsturzgefahr bekämpft, jede ernstliche Umsturzbewegung bändigt, niederhält und bestraft; aber ich wünsche nicht, daß man Millionen von Arbeitern, mit denen man sich über viele praktische Einzelfragen verständigen kann, in ihrem Rechte beschränkt, ihr Vereinsleben erschwert, weil sie Zukunftspläne haben, die anderen Parteien und Klassen nicht gefallen und von denen jeder Vernünftige doch weiß, daß sie niemals realisiert werden. Ich hoffe auch, daß die Regierung nach ihren bewährten Traditionen solchen extremen Preßstimmen niemals folgen wird. Täte sie es jemals, so entstünden daraus Gefahren, die ich kaum für minder groß schätzen möchte als die Gefahren, die von den Sozialdemokraten drohen. Unser Königtum und unser Beamtentum erschienen, wenn die Pläne dieser sozialpolitischen Reaktionäre durchgeführt würden, dann nur als die Mandatare der Großkapitalisten und derjenigen großen Grundbesitzer, die neuerdings ihrer Leitung folgen, die an die Stelle ihrer alten vornehm aristokratischen Traditionen kapitalistische Bestrebungen gesetzt haben. Wir liefen Gefahr, in eine kapitalistische Klassenherrschaft einzumünden, von der wir gottlob jetzt noch weit entfernt sind. Wir liefen die Gefahr, daß der preußische König dann nicht mehr in aller Welt als der » roi des gueux«, als der König der Schwachen und Armen gepriesen würde. Wir liefen Gefahr, daß er ein » roi des riches«, ein König der Millionäre werden würde, und das wäre sehr zu beklagen; das würde den Glauben an die Monarchie aufs tiefste erschüttern. Wir stünden dann vor einer geldaristokratischen Regierung und Herrschaft, die Treitschke bekanntlich als die schlechteste aller Regierungsformen bezeichnet. Aber, wie gesagt, davon sind wir nach meiner Überzeugung noch weit entfernt. Ich bin sicher, der gute Genius unseres Volkes wird uns davor bewahren, und unser Verein wird an seinem Teile daran mitzukämpfen haben, daß unsere soziale Politik in den Bahnen bleibt, die das Deutsche Reich von 1881-1891 beschritten hat. Der Verein für Sozialpolitik will im großen und ganzen nichts anderes als an diesen Bahnen festhalten!

*

3.
Der Verein für Sozialpolitik und die soziale Reform.

I. Der (rote) Tag, Nr. 41, vom 6. Oktober 1901.

Durch alle Zeitungen gehen dieser Tage die Berichte über die Tagung des Vereins für Sozialpolitik in München während des 23. – 25. September. Da ist es wohl am Platz, ein Wort über diesen Verein, seine Entstehung und Wirksamkeit für weitere Kreise zu sagen.

Er ist entstanden aus den geistigen und politischen Strömungen der gärenden, großen Zeit von 1860-1875. Als damals das Deutsche Reich sich gebildet hatte, unsere Volkswirtschaft einen riesenhaften Aufschwung nahm, die Arbeiter als selbstbewußte Partei und Klasse sich zu fühlen begannen, als zugleich die großen sozialen Mißstände, die Westeuropa seit einem Menschenalter kannte, nackter und offener auch in Deutschland hervortraten, die Kämpfe um den Arbeitslohn und Arbeitsvertrag, um das Koalitionsrecht und das Arbeitervereinsrecht, um Genossenschaftswesen und Hilfskassenwesen die Öffentlichkeit mit unmittelbarer und gewaltiger Anschaulichkeit beschäftigten, da boten der liberale Individualismus, die alten Manchestertheorien so wenig als die feudal-konservativen Lehren mehr eine ausreichende Lösung der schwebenden Probleme. Das Schlagwort »freie individualistische Konkurrenz« reichte nicht mehr aus. Die, welche dem Staat große soziale Pflichten zuwiesen, die, welche bei aller individueller Freiheit die Arbeiter in Berufsvereine organisieren wollten und zugleich alle die, welche auch auf dem Markt, im Getriebe der Konkurrenz, vor allem im Kampfe des Schwachen mit dem Starken große sittliche Prinzipien anerkannt wissen wollten, sie traten zusammen in unsern Verein, um im Gegensatz zum Sozialismus wie zum Manchestertum die Fahne der sozialen Reform, des gemäßigten sozialen Fortschrittes zu erheben. Längst hatten in Deutschland die fähigsten Vertreter der Staatswissenschaften gegen die Theorie protestiert, daß die Volkswirtschaftslehre allein aus dem Streben des einzelnen nach dem größtmöglichen Gewinn abzuleiten sei, daß es nur auf die Produktion von möglichst viel Gütern ankomme. Jetzt stellte man, wie Brentano in seiner Münchener Eröffnungsrede betonte, die sittlichen Zwecke des Menschen, das größtmögliche leibliche und sittliche Wohlbefinden der Menschen wieder in den Mittelpunkt; das Wirtschaftsleben erschien wieder als eine Funktion von Gesellschaft und Staat. Ein lang vorbereiteter Umschwung in der deutschen Staatswissenschaft erhielt sichtbaren Ausdruck in der Gründung des Vereins für Sozialpolitik. Er setzte sich zusammen aus der Mehrzahl der deutschen Gelehrten der politischen und ökonomischen Wissenschaften. Sein Haupttätigkeitsgebiet aber wurden die praktischen und brennenden Fragen der Sozialpolitik. Und eben deshalb schlossen sich ihm bald die Geschäftsleute und Beamten an, viele Männer aus allen praktischen Kreisen und solche, welche Sinn, Interesse und Herz für die Hebung der unteren Klassen, für die großen sozialen Probleme des Tages hatten.

Es entstand ein wissenschaftlicher Verein, welcher aber doch den sozialen Fragen des Tages zugewandt war; ein Verein, der periodisch die sozialpolitisch Fühlenden und Forschenden zu Gedankenaustausch versammeln, aber nach seiner Zusammensetzung doch unmittelbar praktische Politik nicht treiben, zur politischen Partei nicht werden wollte. Er konnte seine geistige Freiheit, seine wissenschaftliche Unabhängigkeit nur bewahren, wenn er Männer aller Parteien und wirtschaftlichen Richtungen zu Worte kommen ließ. Er mußte sich begnügen, das, was seine Mitglieder als einzelne oder in Gemeinschaft in Vergangenheit und Gegenwart erforscht hatten, mit dem praktischen Leben und den großen sittlichen und idealen Aufgaben der Zeit in die richtige Beziehung zu setzen, die öffentliche Meinung immer wieder auf die soziale Reform hinzuführen, immer wieder den oberen Klassen, nicht in allgemeinen Phrasen, sondern durch Vorführung der möglichen Verbesserung der Institutionen zu zeigen, daß ihre Kultur und Größe auf tönernen Füßen stehe ohne Hebung der unteren.

Der Verein hat seither 97 Bände Schriften und Untersuchungen publiziert, mit ihnen und mit den Debatten auf seinen Generalversammlungen alle großen inneren Fragen Deutschlands von 1872-1901 begleitet, beleuchtet und beeinflußt. Aber was er damit bewirkt habe, ist strittig; viele zweifeln, daß er nötig und heilsam gewesen, daß er ein notwendiges Element des sozialpolitischen Leben in Deutschland gebildet, daß er seine Ziele erreicht habe.

Ich möchte sagen, er habe direkt und sichtbar vielleicht wenig, indirekt, unsichtbar, für die Umbildung der öffentlichen Meinung Deutschlands im ganzen Gebiete der Staatsauffassung, der Volkswirtschaft, der sozialen Fragen sehr Großes gewirkt. Es ist natürlich, daß ein nicht agitierender, keine Tagespresse besitzender, wesentlich sozialpolitische Publikationen schaffender, nur alle zwei Jahre sich versammelnder wissenschaftlicher Verein, welcher gegen rechts und links sich wendet, welcher sich nicht auf bestimmte soziale Klassen und ihre egoistischen Wirtschaftsinteressen stützt, den Besitzenden ihre Pflichten einschärft, was niemand gern hört, auch den Arbeitern ihre Fehler und ihre Utopien vorhält, nicht im Sturm die Gesellschaft und ihre Institutionen wandeln kann. Wer nur auf die Wirkung wissenschaftlicher Argumente rechnet, nur auf die Macht der Wahrheit und die Forderungen der Gerechtigkeit pocht, der wird im rechten Glauben an die Macht der Ideen immer wieder sich sagen, daß sie zuletzt das Unwiderstehlichste, das Mächtigste auf dieser Erde seien, daß alle Geschichte zuletzt den Sieg der großen Fortschrittsideen dokumentiere. Aber er wird auch einsehen lernen müssen, daß gar oft die Zeit noch nicht reif für die erhoffte Reform sei, daß Trägheit und Dummheit, Egoismus und Klasseninteresse sich den neuen Ideen lange und zähe widersetzen, daß oft ein Kampf von Generationen für das Bessere notwendig sei, daß meist nur langsam, auf Umwegen, indirekt das Gute zum Siege gelange, wenn eine von langer Hand vorbereitete geistige Saat endlich in die Ähren schießt.

Wir hofften freilich im Anfang mehr. Jede neue Organisation und Schöpfung wird ja mit gewissen Illusionen an ihr Werk gehen. Wie wäre sie sonst handlungsfähig?

Als der Verein für Sozialpolitik im Jahre 1872 gegründet wurde, konnte er viel wahrscheinlicher als heute darauf rechnen, mit seinen Reformgedanken auf die Regierungen und die öffentliche Meinung, auf die Presse und die politischen Parteien rasch und direkt zu wirken. Die Nation war von den vierziger bis sechziger Jahren gewöhnt, auf die Männer der Wissenschaft, auf Dahlmann, Droysen, Max Duncker, Gneist und andere zu hören. Und, was wichtiger war, die politischen Parteien waren viel stärker als heute von politischen und staatswissenschaftlichen Idealen beherrscht. Der volkswirtschaftliche Kongreß hatte 1856-70 die höhere Beamtenschaft, wie alle Parteien mit seinen für die damalige Zeit berechtigten, aber einseitigen Theorien erfüllt. Warum sollte der Verein für Sozialpolitik nicht hoffen, rasch Ähnliches zu erreichen?

Und doch liegt der Unterschied auf der Hand. Der volkswirtschaftliche Kongreß hatte keine Sozialdemokratie neben sich gehabt; er hatte im Kampf für die liberal-volkswirtschaftlichen Tagesforderungen zugleich die wirtschaftlichen Interessen des eben politisch zur Macht kommenden höheren Bürgertums gefördert, ja, er war bald in ihrem Dienste aufgegangen. Ähnliches konnten die Sozialpolitiker nicht, ohne ihren wissenschaftlichen Beruf aufzugeben. Und dazu kam nun, daß die Stellung der Regierungen, der Presse, der Parteien zu allem, was Theorie, Wissenschaft, Staats- und Wirtschaftsideale betrifft, eben damals nach und nach eine so ganz andere wurde. Auf die Zeit des hochgespannten Idealismus, die uns das Deutsche Reich gebracht, folgte eine Epoche des nüchternen praktischen Geschäftslebens, der materiellen Interessen, des Geldverdienens, des Tanzes um das Goldene Kalb. Bismarck, der so viel unter den falschen Idealen der Konservativen wie der Liberalen gelitten, predigte den Parteien immer wieder: verfolgt praktische wirtschaftliche Interessen. Die Mahnung war nicht falsch gegenüber den fortschrittlichen und feudalen Ideologien jener Tage; sie wurde aber nur zu rasch und zu allgemein befolgt. Die großen Gedanken und Prinzipien traten zurück oder verschwanden aus den parlamentarischen Körperschaften, wie die großen Vertreter der Wissenschaft. Ein immer größerer Teil der Zeitungen kam in die Hände von Geldmächten oder von kapitalkräftigen Parteiführern, welche nun den Schwerpunkt der Preßtätigkeit in die Vertretung von wirtschaftlichen Klasseninteressen legten. In den Regierungskreisen machten vielfach jetzt die Leute Karriere, die man für praktisch hielt, die ohne zu viel Theorie mit den Parlamenten fertig wurden.

Ich will nicht im einzelnen ausführen, wie 1870-1900 die meisten politischen Parteien zu Gruppen mit einseitigen wirtschaftlichen Klasseninteressen wurden, wie in der einen Partei mehr, in der anderen weniger die Theorie und der Idealismus zurücktrat gegenüber dem Kampf für ihre materiellen Interessen, wie bei Konservativen und Nationalliberalen die Freunde sozialer Reform seltener wurden, wie bei dem Zentrum trotz aller Neigung für Sozialreform doch zunächst der Kulturkampf und das kirchliche Interesse vorherrschte, wie bei den Sozialdemokraten zwar natürlich manche Forderungen ähnlicher Art wie im Verein für Sozialpolitik aufgestellt wurden, wie diese aber durch einen einseitigen Klassenegoismus übertrieben wurden, wie das stete Pochen auf die nahe gänzliche Revolution von Staat und Gesellschaft die übrigen Klassen abschreckte, ja jede Sozialreform erschwerte.

Sicher ist durch diese große innere Veränderung unseres Parteilebens der Einfluß sozialer Reformideen geschwächt, aufgehalten, gehindert worden. Aber vorhanden war er immer und nahm, wenn nicht an der Oberfläche, so doch in den Tiefen zu.

 

II.Der (rote) Tag, Nr. 443 vom 8. Oktober 1901.

Werfen wir einen kurzen Blick auf die seit 1870 einsetzenden sozialen Reformanläufe, die etwa 1875-78 begannen, während von 1867-75 eine ganz überwiegend liberale, manchesterliche, bourgeoisfreundliche Strömung der Politik vorgewaltet hatte. Wir haben zwei solcher Anläufe zu konstatieren, stehen vielleicht im Beginn eines dritten.

Die erste Reformepoche (1878-90), welche durch die großen Arbeiter-Versicherungsgesetze charakterisiert wird, verdankt ihren Ursprung dem erwachenden Gewissen der Regierungen gegenüber der sozialdemokratischen Umsturzgefahr. Die Initiative geht auf den Fürsten Bismarck zurück, auf sein sozialethisches Pflichtgefühl, das er neben manchesterlichen Neigungen in stärkster Weise hatte. Die Grundgedanken dieser Versicherungsgesetze sind der sächsisch-preußischen Bergwerksverfassung des 16.-18. Jahrhunderts entnommen, auf welche einzelne Großunternehmer und Beamte hinwiesen.

Die fast riesengroßen Hindernisse, welche dieser Reform gegenüberstanden, zu überwinden, dazu gehörte eine seltene Kombination von Glücksumständen. Die Arbeiterschaft, hauptsächlich die Sozialdemokratie, stand ihr feindlich und mißtrauisch gegenüber; der liberal modernisierte Zeitgeist, der eben geglaubt hatte, nun für ein Menschenalter die Klinke der Gesetzgebung zu beherrschen, kaum minder. Das Gros der Unternehmer, das schwere Lasten auf sich nehmen sollte, das in den meisten anderen Ländern bis heute sich gegen Ähnliches sträubt, war auch nicht ohne weiteres dafür. Nur die Riesenkraft Bismarcks, die Humanität der besseren deutschen Großindustriellen und die wissenschaftlichen Strömungen, die ihren Kern in unserem Verein hatten, überwanden die Hindernisse. Und auch so gelang die Durchführung Bismarck nur, indem er zugleich den Arbeitgebern das Sozialistengesetz, die Schutzzölle und eine retardierende Haltung in der Arbeiterschutzgesetzgebung konzedierte. Dadurch wurde er, der von 1848-75 als der bittere Feind der Bourgeoisie gegolten, nun ihr Heros, den sie verehrte, der aber damit zugleich den bittersten Haß der Arbeiterschaft auf sich zog.

Wir, die Freunde der Sozialreform, welche der Fürst Bismarck noch bis 1875 als Bundesgenossen angesehen hatte (hatte er mir doch noch 1875 gesagt, er sei auch Kathedersozialist, habe nur bisher keine Zeit dafür gehabt), rückten dadurch von ihm ab. Wir hatten jedenfalls 1880-90 nicht entfernt so viel Einfluß, wie es etwa 1872-78 geschienen hatte. Immer haben wir die 1880-90 stark anwachsende Unterströmung befördert, welche in der öffentlichen Meinung und im Reichstag, in der Presse und der wissenschaftlichen Literatur immer mehr betonte, die Arbeiterversicherungsgesetzgebung möge noch so segensreich sein, aber sie erschöpfe die soziale Reform nicht; sie müsse durch zahlreiche andere Institutionen, vor allem durch eine richtige Ordnung des Arbeiterschutzes und des Arbeitervereinswesens ergänzt werden.

Mit dem Rücktritt Bismarcks setzte ein neuer Anlauf der Sozialreform in Deutschland 1890-95 ein: das Sozialistengesetz fiel, die Arbeiterschutzgesetzgebung wurde endlich ernstlich ausgebaut, die Fabrikinspektion verwirklicht, das Gewerbegerichtsgesetz erlassen. Ging die Initiative zu all dem von unserem Kaiser aus, folgten wir mit der Schutzgesetzgebung teilweise englischem, schweizerischem, österreichischem Vorbilde, die ganze sozialpolitische Aktion jener Jahre ist doch nur verständlich, wenn wir annehmen, daß die wissenschaftlichen Ideen, welche 1860-90 über soziale Dinge in Deutschland gereift waren, zu einer gewissen Macht geworden waren. Es ist bekannt, daß der Erzieher des Kaisers, Dr. Hintzpeter, von ihnen erfüllt ist, daß sein volkswirtschaftlicher Lehrer, Professor Held, einer der führenden Männer des Vereins für Sozialpolitik war. Die neuen Minister Dr. Miquel und Freiherr von Berlepsch standen ebenfalls diesem Gedankenkreis nahe; die sozialpolitischen Führer des Zentrums Dr. Hitze, Dr. von Hertling hatten sich mit dem Geiste der Schriften des Vereins erfüllt. In dem eben gegründeten evangelisch-sozialen Kongreß führten teilweise dieselben Männer das Wort wie im Verein für Sozialpolitik. Die Unternehmerwelt hatte bis 1890 unter dem Drucke der Bismarckschen Herrschaft ihre geringe Neigung zu sozialer Reform nicht so betont wie von 1895 an; von 1890-95 wirkte der kaiserliche Wille in ähnlicher Richtung auf sie wie auf das Beamtentum, die Presse und sonstige Kreise. So können die ersten Jahre der Regierung Kaiser Wilhelms als besonders arbeiterfreundlich, als soziale Reformjahre gelten. Das Arbeitervereinswesen entwickelte sich wie nie zuvor.

Leider sollte der günstige Wind für die Sozialreform nicht allzu lange dauern. Der Egoismus der Klasseninteressen kam dabei nicht auf seine Rechnung; die großen politischen Parteien, hauptsächlich Konservative und Nationalliberale, fanden von 1895-96 an, es müsse jetzt eine Verdauungspause in der sozialen Reform eintreten; andere Aufgaben seien wichtiger; andere Klassen als die Arbeiter müßten jetzt begünstigt werden.

Die sozialreformatorisch angehauchten Minister Berlepsch, Bötticher, Caprivi mußten weichen. Der neue Reichskanzler, Fürst Hohenlohe, war in seiner innersten Seele ein Manchestermann aus alter Zeit.

Bald waren im Reichstag fast nur noch Zentrum und Sozialdemokraten für erhebliche soziale Fortschritte zu haben. Mit ihnen allein konnte nicht regiert werden; sie bildeten weder eine Majorität, noch waren sie eine unbedingt sichere Grundlage für die anderen inneren und äußeren großen Kulturaufgaben Preußens und Deutschlands. Man brauchte für die Militär-, Seemachts- und Finanzfragen gerade die Parteien, die sich jetzt der sozialen Reform abgeneigt zeigten. Darin liegt der Schlüssel für die Stockung und Verlangsamung derselben 1896-1901. Wenn man sich erinnert, wie auf jeden großen Reformanlauf solche Rückschläge erfolgen, weil die Verteidiger des Alten aufgerüttelt, zum Kampf veranlaßt werden, weil die berechtigten und die unberechtigten, aber verletzten Interessen sich wehren, der wird eine einzelne Stockung derart nicht zu tragisch nehmen; sie kann sogar nützen, indem sie die Reformfreunde anstachelt und sammelt. Wir werden sagen können, es habe in der letzten Zeit den Anschein genommen, als ob ein dritter Anlauf zu sozialen Reformen sich vorbereite: das Gesetz zum Schutze der Arbeitswilligen, das in Wahrheit die Koalitionsfreiheit bedrohte, ist gefallen, wesentlich, weil die Regierungen einsahen, ein solches Knebelgesetz zugunsten einer, zu ungunsten einer anderen sozialen Klasse vertrage sich nicht mit einer populären Macht- und Flottenpolitik. Die Versicherungsgesetze wurden verbessert. Eine Novelle zum Gewerbegerichtsgesetz, aus der Initiative der arbeiterfreundlichen Majorität des Reichstags hervorgegangen, hat auch die Zustimmung des Bundesrates gefunden, so sehr einige übereifrige Journalisten der extremen Großindustriellen dagegen wetterten.

Immer steht es dahin, ob diesen schwachen Ansätzen bald weiteres folgen wird. Es hängt von unserer ganzen inneren und äußeren Politik, von den leitenden Persönlichkeiten und vielen Zufällen, von der Entwicklung unseres Parteilebens und der Klassenorganisationen ab. Es hängt hauptsächlich davon ab, ob und wie die Kapitalistentrusts die Regierung, die Presse, die Parlamente und die Arbeiterverbände beherrschen und lahm legen. Wie aber auch in allernächster Zeit die sozialen Kämpfe, die Reformanläufe und die Kompromisse zwischen sozialen und anderen politischen Zielen sich gestalten werden, die Tatsache wird bleiben, daß die ungeheure technische und gesellschaftliche Umbildung die sozialen Dinge eher noch mehr als bisher in den Mittelpunkt der öffentlichen Interessen rücken wird, daß die gesunde Neuordnung der volkswirtschaftlichen Produktion und Verteilung gelingen oder zu furchtbaren Katastrophen führen muß. Und gegenüber der Genußsucht und Habsucht der Individuen, gegenüber dem Haß und der Kampforganisation der Klassen ist auf ein gutes Ende nur zu rechnen, wenn die führenden Völker Europas in ihrem Kern noch eines großen geistigen und sittlichen Aufschwungs fähig sind.

Ob sie das sind, ist Glaubenssache. Ich glaube daran. Ich nehme an, daß der Zeit gehässiger sozialer Kämpfe ein besserer sozialer Friedenszustand folgen werde, daß die idealen Mächte und die sittlichen Kräfte Herr werden über allen Materialismus unserer Tage. Unsere alte Moral und unsere alten Sitten, unser altes soziales Recht und unsere alten sozialen Institutionen sind notwendig in Auflösung begriffen; das neue Recht, die neuen Gesellschaftseinrichtungen können nur unter Gärung und Kämpfen entstehen.

Die gesunde Neuordnung wird gelingen, wenn zur richtigen Einsicht und Erkenntnis die richtigen Führer kommen, wenn die großen sozialen Ideale sich abklären zu sittlichen Kräften und gerechten Institutionen.

Alle guten Elemente des Volkes müssen dazu mitwirken, Staat und Kirche, obere und untere Klassen, Wissenschaft und Praxis. Der Verein für Sozialpolitik ist in dieser großen Bewegung nur ein kleines, aber doch kein ganz unwichtiges Element, wenn er fortfährt, unbeirrt von allen Angriffen, die von rechts und links kommen, der wissenschaftlichen Wahrheit und Erkenntnis auf sozialem Gebiete und ihrer Verbreitung zu dienen. Er hat eben zwei der wichtigsten sozialen Fragen, das Wohnungswesen und die Zukunft unserer Handelspolitik durch acht Bände von Schriften und eine Generalversammlungsdebatte zu beleuchten gesucht. Er beginnt eben zwei neue Enqueten über die Arbeiten der Seeschiffahrt und über die wirtschaftlichen Krisen. Seine größte Wirkung besteht nicht in dem, was er direkt schafft, sagt, verhandelt, sondern in den Anregungen, die von ihm auf alle Teile und alle Klassen unseres Volkslebens ausgehen.

Man kann keinen Roman und keine Zeitung lesen, kein Theaterstück sehen, ohne zu spüren, daß die Gedanken, die er nicht allein, aber hauptsächlich vertritt, langsam aber sicher durch alle Poren unseres Volkskörpers sickern.

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