Maximilian Schmidt
Der Zuggeist oder die erste Zugspitzbesteigung
Maximilian Schmidt

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XX.

An der Klammbrücke hatte indessen ein gnädiges Geschick über den dem Untergang geweihten Männern gewaltet. Mathies hatte die Brücke zuerst mit festem Schritte betreten, doch schon nach dem zweiten Tritt krachte es verdächtig unter seinen Füßen. Mit Blitzesschnelle machte er Kehrt, aber die Brücke löste sich am andern Ufer von der Felsenwand und stürzte in die Tiefe. Mathies hatte nur noch Zeit, mit einer Hand den diesseitigen Auflegebalken zu erhaschen, und schwebte so über dem schauerlichen Abgrund. Es war alles das Werk eines Augenblicks. Ein Schreckensschrei entfuhr den beiden Männern; schon hielt der Offizier den Burschen für verloren, aber dieser hatte trotz des Schreckens noch Kraft genug, auch mit der zweiten Hand den Balken zu fassen, der mit eisernen Klammern an der Felsenwand befestigt war.

Nun trat an den Offizier die Aufgabe heran, Mathies heraufzuziehen, was mit ungeheurer Schwierigkeit verbunden war. Aber Naus fühlte seine Kraft wie verdoppelt, es gelang ihm, den Burschen so weit emporzurichten, daß er sich mit den Ellenbogen auf den Balken stemmen konnte. Ein weiterer kräftiger Ruck und Nachschub des Emporstrebenden – und Mathies war wieder auf festem Boden.

Naus wischte sich den kalten Schweiß von der Stirne und atmete hoch auf.

208 Mathies aber meinte mit eigentümlichem Humor: »Schlakarawall, dös war itz nit bitter! Bei oan Haar hätt's mi g'habt! Vergelts Gott, Herr Leutnant. Dös wird wohl a That g'wesen sein! Mei' Afra und mei' Ahnle wern si' schon extrig bedanken.«

»Gottlob, daß es gelungen ist!« erwiderte der Offizier freudig. »Aber das war kein zufälliger Unfall. Sieh, dort drüben an den Felsen hängen frische Holzspäne, die rühren von einer Hacke her. Es ist kein Zweifel, das Hängwerk der Brücke ist auf jener Seite durchhauen worden; wir sollten das Opfer einer abscheulichen Bosheit werden.«

»Dös hat nacha der schwarz Görgl g'macht!« rief Mathies bestimmt.

»Der Meinung bin ich auch!« versetzte der Offizier. »Dieser gottvergessene Bursche! Er ist uns nachgefolgt und wollte sich auf solche Weise an uns rächen. Aber nun werde ich dafür sorgen, daß er unschädlich gemacht wird für immer.«

Beide ruhten von der fürchterlichen Anstrengung jetzt aus und beratschlagten, wie sie den Heimweg einrichten sollten. Durch das Thal abwärts war ihnen der Weg abgeschnitten, es blieb ihnen also kein anderer Ausweg als einen Uebergang über die Riffelwand nach dem Eibsee zu finden, was Mathies in früheren Jahren schon einmal ausgeführt.

Als sie soeben zu diesem Schlusse gekommen waren, erblickten sie jenseits der Klamm die alte Mariannl.

Mathies glaubte, den Geist seiner Großmutter zu schauen und sprang erschrocken vom Boden auf.

»Ahnle,« rief er, »bist es wirkli?«

Die Großmutter war jetzt seiner ansichtig geworden 209 und ein Freudenruf tönte von ihren Lippen. Dann warf sie sich auf die Kniee und blickte dankend zum Himmel empor.

Das Tosen des Wassers machte eine Verständigung kaum möglich. Mehr durch Gebärden, als durch Worte wurde diese mühsam genug und nur so weit zu stande gebracht, daß sie von der alten Frau erfuhren, wie sie in Angst den gefahrvollen Weg zurückgelegt, um die Männer vor dem Betreten der Brücke zu warnen. Mit Entsetzen sah sie, daß die Brücke schon eingestürzt sei, aber es beruhigte sie, daß sie den Enkel gesund am jenseitigen Ufer stehen sah.

Dieser forderte sie jetzt auf, den Heimweg mit aller Vorsicht anzutreten; er müsse mit seinem Herrn über das Gebirge nach dem Eibsee. Sie möchte sich keine Sorge mehr machen, sie würden schon gut nach Hause kommen. Und nachdem die Alte segnend ihre Hand gegen ihn erhoben, ging sie wieder froheren Herzens von dannen.

Ohne irgend welchen Unfall gelangte sie zum Ausgange des Höllenthales, wo sie dem Bärenmartele und seiner Tochter begegnete. Sie hatten, von Garmisch zurückgekehrt, von dem Gange der Alten erfahren und waren ihr nun in Besorgnis nachgeeilt.

Was die Alte ihnen mitzuteilen wußte, machte freilich das Blut Afras erstarren, aber die glückliche Rettung des Geliebten erfüllte ihr Herz mit inbrünstigem Danke.

In Obergrainau angekommen, brach die alte Mariannl vor Erschöpfung zusammen. Ihr fester Wille hatte der Schwäche des Körpers bis jetzt getrotzt, nun aber, da die gräßliche Aufregung vorüber, machte sich die Gebrechlichkeit in erhöhtem Maße geltend. Man brachte sie zu Bette, 210 stärkte sie mit Speise und Trank und Afra teilte sich mit Lisbeth in ihre Pflege. Vorsorglich wurden ihr die Sterbesakramente gereicht, aber die Alte beruhigte ihre Umgebung mit den Worten: »No' is mei' Zeit itta um. I möcht d' Afra und 'n Mathies no' als Hozetleut sehgn. Dös is mei' größt's Glück in mein' Leb'n, es soll aa mei' letzt's sei'.«

Sie erholte sich in der That gegen Abend wieder und zwar so weit, daß man keine ernstliche Besorgnis mehr zu haben brauchte. –

Die im Höllenthal Abgeschnittenen erstiegen unter unsäglichen Beschwerden den Höllenthalanger und die niedere Riffelscheide, um endlich nach mehrstündiger Wanderung über das Schneekar hinabzusteigen zu der von meilerhohen Felsen und dunklen Waldungen umgürteten dunklen Flut des Eibsees. Dieser ist dicht am Fuße der sich hier majestätisch aufbauenden Zugspitze gelegen, deren verwitterte Felszacken sich in schwindelnder Höhe vor dem Beschauer auftürmen.

Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne hatten die Zinne derselben und die Grate der Riffelwand in rosige Glut getaucht, die sich in der sonst so ernsten Wasserflut des Sees voll heiteren Glanzes wiederspiegelte.

Im Einkehrhaus am Ufer des Sees harrte schon seit Stunden der Bärenbauer mit seinem Fuhrwerk des Leutnants und seines künftigen Schwiegersohnes. Unausgesetzt sah er zum Schneekar hinauf und als er endlich die Ersehnten von dort zu Thal steigen sah, jubelte er ihnen freudig entgegen und begrüßte sie, unten angelangt, aufs wärmste.

211 »Wie geht's mein' Ahnle?« war des Burschen erste Frage an den Bauer.

»Alles geht wieder guat,« antwortete dieser. »Aber itz nur eini in d' Stuben; i hon scho' für an' Anricht (Mahlzeit) g'sorgt und itz wird's mir selm schmecken, weil i enk nur wieder alle zwoa lebendi hon.«

Körperlich erschöpft, aber voll freudigen Mutes über die glücklich vollendete, unfreiwillige Bergfahrt ließen sich die Ankömmlinge an dem Herrentische in der kleinen Wirtsstube nieder und erquickten sich an Speise und Trank. Beim ersten Glase stieß der Offizier mit dem treuen Begleiter an und rief: »Auf unsere glücklich überstandenen, heutigen Abenteuer!«

Da erdröhnte ein Schuß vom nahen, bereits im tiefen Schatten liegenden, wildromantischen Frillensee. Wie ein Hochgewitter schlug der Knall donnernd an die Felsen der Zugspitzwand, unter welcher sich dicht der See befindet, und tausendfach prallte es zurück, um tiefer und ernster wiederzukehren. Dumpf rollte und grollte der Schall in allen Klüften und Schluchten, es war, als ob die Berggeister polternd erwacht wären und ihren Zorn in dröhnendem Donner kund geben wollten.

Niemand wußte, wer den Schuß abgefeuert, man vermutete, er käme von einem Wilderer, der hinten am grausig düstern See auf einen Bock gepirscht.

Dort aber in jener wilden verworrenen Welt, an dem von Felsblöcken und Steingeröll bedeckten Gestade der stygischen Flut, in welcher die Sage vom Bergfräulein jenen treulosen Hirten seine Strafe finden ließ, hatte der schwarze Görgl seinem sich selbst bereiteten, dunklen Verhängnis in diesem Augenblick ein Ende gemacht.

212 Ein Holzarbeiter brachte diese Kunde den sich soeben zur Heimfahrt anschickenden Gästen im Wirtshause zu Eibsee. Er erzählte, daß er den Burschen mit zerschmettertem Schädel hinten in der Wildnis des Frillensees liegend gefunden habe.

»Der Herr gieb eam die ewi Ruah!« betete der Bärenbauer und die anderen sagten »Amen.«

Sie hatten ihm vergeben. –

Die gegenseitige Begrüßung in Obergrainau war eben so freudig als rührend.

Leutnant Naus trat andern Tages seine Reise nach München an. Herzlich verabschiedete er sich von den wackeren Leuten und wünschte ihnen Glück und Segen für alle Zeit.

Wenige Wochen später traten Mathies und die mit der prächtigsten Brautkrone und mit roten Bändern umwundenen Zöpfen geschmückte Afra zum Traualtare.

Die alte Mariannl erlebte noch das selige Glück, einen Urenkel, an welchem der wackere Leutnant Patenstelle vertrat, auf ihrem Schoße wiegen zu können. – Die guten Geister aber walteten in und über dem Hause des Bärenbauern, und seine Bewohner waren und blieben die glücklichsten und zufriedensten Leute im ganzen Werdenfelser Landl. – – – – – –

Leutnant Naus, welchem die Ehre der ersten Besteigung des Zugspitzes gebührt, hat sich um die Vervollständigung des großen topographischen Atlasses in Bayern unvergeßlich große Verdienste erworben und sind namentlich die von seiner Hand mit seltenem Geschick und Fleiß gezeichneten Positionsblätter des bayerischen Gebirges wahre Perlen der Topographie. Im Jahre 1835 verehelichte 213 er sich mit der Tochter des bayerischen Generals Schmäger, avancierte bis zum Oberst im k. Generalquartiermeisterstab, ward dann Generalmajor und Festungskommandant in Ulm und lebte hierauf in Pension in München. Er erreichte ein durch die glücklichsten Familienverhältnisse gesegnetes hohes Alter. Sein liebstes Gedenken aber blieb stets jene glücklich gelungene Ersteigung von Deutschlands höchstem Gipfel, und mit Vorliebe suchte er noch in hohem Alter, oft begleitet von dem unübertrefflichen Volksdichter Franz von Kobell, bei seinen Spaziergängen diejenigen Plätze auf, wo er einen freien Ausblick nach der schönen, blauen Gebirgskette hatte, und nach dem von ihm zuerst bezwungenen, majestätischen Zugspitz.

Der deutsch-österreichische Alpenverein, dessen edelster Zweck es ist, auch dem größeren Publikum die Wunder der Bergwelt zu eröffnen, hat die Ersteigung der nunmehr mit einem kolossalen Kreuze gezierten Zugspitze möglichst erleichtert und gefahrlos gemacht, und jährlich steigen Hunderte hinauf, um von dort die Großartigkeit der Natur zu bewundern.

Wir schließen mit dem Wunsche der am 25. Aug. 1882 in der dortigen Kreuzeskugel wohlverwahrten Urkunde: »Daß das hehre Zeichen auf der Grenzscheide Deutschlands und Oesterreichs seinen Platz behaupten möge bis in fernste Zeiten und daß es sei ein Unterpfand des Friedens beider Völker für immerdar. Das walte Gott!«

Badersee, Sommer 1885.


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