Maximilian Schmidt
Der Zuggeist oder die erste Zugspitzbesteigung
Maximilian Schmidt

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

Das stille Dörfchen Obergrainau, welches in idyllischem Frieden am Fuße des hohen Waxensteins in einer Höhe von 2700 Fuß über der Meeresfläche liegt und dessen altehrwürdige, zerstreute Gebirgshäuser von Wiesen und üppigen Obstgärten umgeben sind, erfreut sich einer Lage, wie nur wenige Ortschaften im bayerischen Oberlande. Wie da alles froh und tief atmet in der Alpenfrische, umringt von lachenden Fluren! Wie sich das Auge da weidet an den tiefgrünen Teppichen, auf welchen die betauten Frühlingsblümlein nicken! Selbst die Höhe hinan sprießen junge Bäumchen aus den Rissen, üppige Pflänzchen recken neugierig ihre Köpfchen aus den Spalten und feuchtes Moos umgürtet wie ein Samtgewand die Felsengruppen. Für die friedlichen Bewohner giebt es freilich während der kurzen Wintertage keine Sonne, die beiden Bergriesen verdecken sie ihnen von Martini bis Lichtmeß; um so größer aber ist der Jubel, mit welchem die ersten Strahlen wieder begrüßt werden, wenn sie hinüberstreifen über das rauhe Geschröffe, um mit freundlicher Milde hinabzulugen ins tiefe, tiefe Thal.

Es ist, als ob an dieses herrliche Plätzchen, von einer Seite von riesigen Bergen umschlossen, von der andern das reizend schöne Loisachthal überschauend, die Sorge und das Unglück der Welt nicht herankönnten; aber das Unheil 19 findet den Weg überall hin, und so hat sich auch dieses freundliche Gebirgsdörfchen durch viele böse Zeiten durchgekämpft.

Die ersten Bewohner von Grainau waren Alpenhirten und Jäger, welche ihre Herden fortwährend vor den hier in großer Menge hausenden Bären zu schützen hatten. Noch heute heißt das Revier unter dem Waxenstein die Bärenheimat, und beim Bärenmartele findet man noch zwei Bärenköpfe als Reste jener Untiere, zu deren Ausrottung ein Urahn von Afras Vater ganz besonders beigetragen hatte. Kaum daß sich das Völklein von der Drangsal des dreißigjährigen Krieges wieder erholt, äscherte eine Feuersbrunst den größten Teil des Dorfes samt der Kirche ein. Bald darauf hatte das wiederaufgebaute Dörfchen auch durch Wassernot zu leiden. Am 21. Juni 1788 ging am Waxenstein ein Wolkenbruch nieder, infolgedessen der kleine und unansehnliche Eibelebach, welcher durch das Dorf fließt, zu einem gewaltigen und reißenden Strome anwuchs. Er riß die größten Felsen mit sich fort, verwüstete Felder, Gärten und Wiesen und ließ großes und kleines Gestein mitten im Dorfe liegen. Die Anschwemmung des Gerölls war so bedeutend, daß zwei mitten im Dorfe befindliche nach dem Brande neu erbaute Häuser so verrammelt wurden, daß die Besitzer sie nach kaum neunjährigem Bestehen einreißen und an einem anderen Platze wieder erbauen mußten.Der Eibelebach brachte neues Unheil zu Jakobi 1833 und am 23. Juli 1861.

In den Feldzügen gegen Oesterreich wurde Grainau mit Kontributionen, Quartier, Militär- und Munitionsfahren schrecklich belastet. Zu Beginn der Tiroler 20 Insurrektion mußte im Frühjahr 1809 ein Teil der Bewohner bis nach Scharnitz, um die von den Franzosen 1805 zerstörten Festungswerke neu aufbauen und bald darauf wieder zerstören zu helfen. Während des Aufstandes selbst wurden die nahe der Grenze liegenden Ortschaften von Freund und Feind hart bedrängt. Die Tiroler errichteten gegen die Bayern und Franzosen von der Zugspitze an bis hinüber zu der nördlich gelegenen Felsenwand, eine Strecke von dreiviertel Stunden, Pallisaden und verschanzten sich oberhalb des Eibsees. Sobald nun Mangel an Lebensmitteln eintrat, raubten sie das Vieh auf den Alpen oder machten Ausfälle in die nahen Dörfer, bis sie von den Bewohnern wieder hinter ihre Schanzen zurückgejagt wurden.

Bei einer solchen Gelegenheit wurde der Vater des Lechner Mathies von der Kugel eines Tirolers getötet. Dasselbe Los traf den Vater des schwarzen Görgl von Hammersbach, und das gemeinsame Unglück jener schrecklichen Tage hatte die beiderseitigen Familien in andauernd freundliche Beziehungen zu einander gebracht. Auch die beiden jungen Burschen hielten mehrere Jahre fest zusammen, bis sie die Verschiedenheit der Charaktere von einander trennte. Mathies wählte die ehrliche, wenn auch schwere Arbeit, Görgl dagegen stieg auf die Berge und suchte seinen Lebensunterhalt im Wildern, wenn sich Gelegenheit dazu bot, sonst aber als Bergführer für die zugereisten Fremden.

Als Mathiesens Mutter starb, lebte der Bursche mit seiner Großmutter allein in dem kleinen Häuschen, bis er konskribiert wurde und seine Dienstzeit bei der Artillerie in München zubringen mußte. Er erwarb sich hier das besondere Vertrauen seines Leutnants, Namens Naus, der 21 ihn zu seinem Diener nahm, wobei sich Mathies recht wohl befand. Hätte er sich nicht verpflichtet gefühlt, für den Unterhalt seiner Großmutter, der alten Mariannl, zu sorgen, er wäre gerne noch über seine Dienstzeit als Einstandsmann beim Militär geblieben; aber so war er gezwungen, wieder zur Heimat zurückzukehren.

Die alte Mariannl war eine herzensgute Frau, aber, wie schon erwähnt, eine der Fretterinnen, welche mit wunderthätigen Sträuchern und Pflanzen, mit geweihten Amuletten, Glasperlen, Korallen, frommen Denkmünzen und allerlei anderem Aberglauben den Nebenmenschen körperlich und geistig glückselig machen zu können glauben. Fast jedes Dorf im Gebirge hat sein altes, wunderthätiges Weib, das sich aufs »Wenden« versteht, und zu dem man schickt, wenn der »Bader« nicht helfen kann, oder wenn man nicht die Mittel hat, denselben honorieren zu können.

Einer der Abergläubigsten im ganzen Werdenfelser Landl war der schwarze Görgl. Ein Feind der Arbeit und des geregelten Verdienstes, hoffte er sein Heil in wunderbaren Dingen, und die alte Mariannl war es hauptsächlich, welche ihn durch ihre Erzählungen immer wieder aufs neue in seinen phantastischen Träumereien bestärkte.

So saß er auch jetzt wieder neben der alten Frau, die es sich nach der aus eingeschlagenen Eiern bestandenen Abendmahlzeit in dem belederten Lehnstuhl bequem gemacht hatte, und bat dieselbe, ihm die Geschichte von der Springwurzel und von dem Zuggeist noch einmal recht genau zu erzählen.

Mathies wehrte zwar ab und meinte, er solle die alte Frau nicht wegen solcher Kindereien quälen, aber die 22 Großmutter drohte dem Enkel verweisend mit dem Finger, indem sie sagte:

»Mathiesl, Mathiesl, du bist mir beim Militari und bei dein Leutnant a rechta Ungläubiger worn; dös is nit guat.«

»Mei', Ahnle,« entgegnete Mathies, sich sein Pfeifchen stopfend und sich an das Fenster setzend, durch welches er nach dem soeben über den hohen Eckenberg in voller Pracht heraufsteigenden Vollmonde blickte, »i kann dir koan andern Glauben mehr beibringa, aber dem Görgl wünschet i, daß er no' amal recht aufsitzet, weil er als Mann nit gscheita is, wie r an' alts Wei. I woaß's gwiß, daß an all die dumma G'schichten nix is, und koa' Mensch macht mir mehr mein' Glauben wankend.«

»Also glaubst an koan Herrgott und an koan Teufl?« fragte die Alte, die Hände zusammenschlagend.

»Freili glaub' i an an' Herrgott,« entgegnete der Bursche. »Wer schicket uns denn sunsten den Herr Ma' (Mond) so schö' auffa und machet dös prachtvolle Zwielicht? Wer schicket uns denn d' Frau Sunn (Sonne) und machet all die Herrlichkeit in unsere schöna Berg? Gwiß glaub i dran. Aber an enkere Teufels- und Geisterg'schichten, an Hexen und Truden, ans wilde G'jaid und all den andern Spuck von die saligen Fräulein, an dös glaub i nit. Mit so was giebt si' a rechtschaffener Kanonier nimmer ab, und Görgl, hättens di beim Militari brauchen kinna, so wärst itz aa gscheita und wärst leicht was bessers, als d' bist.«

»Daß d' an koane Truden und Hexen glaubst,« versetzte die Alte, »is woltern rechtschaffen von dir; so was lebt nit. I woaß's ja guat, daß mi meine Feind aa diermal für so ebbas ausschrei'n, als haltet i's mit'n Besenstiel. 23 Ja, mit dem haltet i's schon, kaam mir nur so a Sakra unter d' Händ, wie da is die gschnappi Wagnerin z' Untergrainau, i b'haltet den Besenstiel nacha gwiß nit zwischen die Füß, i nehmet'n schon in d' Händ und – staad, staad – i fang's huasten an, wenn i mi ereifer. Aber was i sag'n will, guate und böse Geister giebt's schon und es giebt aa r a Nachtg'joad. I moan, du kennst die G'schicht, die erst vor etli Jahr 'n Peterl von Garmisch passiert is.«

Das berührte Vorkommnis ist folgendes: Beim Gabelwirt in Garmisch war zur Faschingszeit 1815 eine Hochzeit, welcher auch Peter Ostler, genannt »der Peterle«, beiwohnte. Als er nun im Begriffe war, um 11 Uhr nachts nach Hause zu gehen, wurde er von dem stürmisch in der Luft dahinbrausenden Nachtgejaid in die Lüfte gehoben und unsichtbar gemacht. Vergebens durchsuchte man alle Gewässer, Gräben und gefährlichen Plätze der Umgegend, niemand konnte sich dessen Verschwinden erklären. Nun wollten einige in jener Nacht das Geschrei des wilden Heeres gehört haben, und bildeten sich darnach ihre Meinung. Der Peterle blieb zwölf Tage lang verschwunden, dann erschien er plötzlich wieder in seinem Heimatsorte. Man drang nun in ihn mit Fragen, wo er so lange gewesen, aber er gab nur zur Antwort, daß er im Engadin (Kanton Graubünden in der Schweiz) und unter Leuten gewesen sei, die er nicht verstanden habe. Nur mit Mühe sei es ihm gelungen, sich so viel verständlich zu machen, daß man ihm die Lage seiner Heimat angab, die er endlich nach zwölf Tagen wieder erreicht hatte. Mehr vermochte aus dem sonst gut beleumundeten Mann selbst seine Geliebte nicht herauszubringen.Das Geheimnis von diesem Reiseabenteuer ward 1852 mit dem Peterle begraben.

24 »Davon kann a jed's denken, was 's mag,« lachte Mathies. »I denk mir scho' dös recht.«

»Und an 'n Zuggeist glaubst aa nit?« fragte der schwarze Görgl den etwas spöttisch dareinschauenden Mathies, »und ans schöne Fraaln vom Waxenstoa' und vom Badersee und an d' Springwurzel? An die glaubst hoffentlich doch?«

»Na', an dös alles glaub i nit,« bekannte Mathies abermals. »I kann mi just aa gar nimmer drauf b'sinna, denn woaßt, Görgl, wenn i warten müaßt, bis i auf wunderbare Weis' a Geld und an' Schatz krieget, da kaannt i und d' Ahnle lang verhungern. Hast nit g'hört, wie d' Ahnle g'sagt hat, daß 's Leut giebt, die 's selm für a Hex halten? Frag's, ob 's an' Pfennig außazaubern kann aus ihrer leern Taschen? Der best Zauber auf dera Welt is die redli Arbet, da kriegst an' Vodeanst und b'haltst dei' guat's Gmüat.«

»Brav, Büawal, brav!« lobte die Alte freundlich. »I sag's anemal, an mein' Mathiesl is a Pfarrer voluisn (verloren) ganga; aber mei', i bin halt schier z' alt, daß i alles von mir wirf, was i 's ganz Leb'n mit mir rumtragen hon. Und zumal die guaten Geister in unsere Berg, wenn i's aa niermals g'sehgn hon, sie habn mir dengerscht beig'standen in der Grauernis, so liab, so guat, wie's d' Menschen niermals than hätten. Denkt's es no', Buam, wie's anno neune enkere Vatan als tot hoambracht haben? D' Tiroler habn uns 's Vieh von die Alma davo und dem sans nachi. Hintern Eibsee habn's Pallisaden baut g'habt und hinter dene haben's vürag'schossen und enkere Vatan san tot am Platz bliebn. I bin grad unten gwen am kloan Badersee, wo ma etli Geißen versteckt habn, da hat auf 25 unsern Turm auf amal 's Zügenglöckl g'läut, und es hat mir g'schwant, daß a groß's Unglück unser Haus troffen hat. Ja, ja, dös hat mir gschwant. Was sollt aus uns wern, wenn 'n Lechner a Unglück passiert? Bettelleut müaßt ma sein, denn dei' Muatta, Mathiesl, war lang scho' kränkli, i an' alts Wei und du erst 16 Jahr alt. In dera Traurigkeit richt' i mi auf 'n Hoamweg, da sehg i am Ufer vom See hart unter an' Stock, der voller Maiglöckerln war, an' roten Geldbeutel liegen – und in dem Beutel san lauter französische Goldstückln drin, über fünfhundert Gulden, nach unserm Geld. Hon i mir denkt, den Schatz giebst 'n geistlin Herrn, daß 'n wieder z'ruck kriegt, der'n verlorn hat. Und wie r i nacha hoam kemma bin, liegt mei' Suhn tot in der Stub'n, und dei' Vata, Görgl, hint' in enkera Hirwa am Hammersbach. Mei' Gott, dös wißts ja a so. G'sund und frisch san's eini mit die andern Manna vom Gau, da san's ins Fuier kemma und haben's Leben lassen müassen fürs Vaterland. Aa der Bärenmartele drent hat an' Stroafschuß kriegt in Fuaß eini und i möchts woltern b'haupten, hätt' i mi nit um eam angnumma und hätt' eam g'holfen mit meine Salben und Kräutln, er hätt' 'n Brand kriegt und wär aa gstorben. Den Jammer durt, so was lebt nimmer! Itz wär 's Elend erst recht anganga; aber da bringt mir nach etli Monat der geistli Herr dös g'fundne Geldei wieder. Er hat's beim Kummandanten von die Truppen anzoagt, aber neamd hat si' drum g'meld't und da hat eam der den Auftrag gebn, daß er's mir wieder bringa sollt als a kloana Entschädigung für all dös Unglück, was unser Haus troffen hat. Und mit dem Geldei habn ma uns wieder z'sammrichten kinna, und wär' d' Muatta nit gstorbn – unser Herrgott tröst's! hätt' uns 26 soweit nix mehr gfeit (gefehlt). Dös Geldei aber, i laß mir's nit nehma und oft hat's mir aa schon traamt, ob's ebba nit von der Bergsee is vom Waxenstockstoa, die unt' am Badersee an' Eingang hat in ihra Gschloß und die gern dem Unglück Beistand leist'.«

»Ah was!« versetzte Mathies, »dös Geldei hat halt a französischer Offizier verlorn, der die Gegend rekognosziert hat, wie ma's auf militärisch nennt.«

»Es kaannt si' aber aa r anders verhalten,« meinte der schwarze Görgl, dessen Augen hell leuchteten bei dem Gedanken an die goldgespickte Börse. »Ge, Mariannl, erzählt's die G'schicht von dem Bergfraale und vom Zuggeist, daß 's der ungläubi Thomas durt wieder inna wird, weil er sagt, er hat's vergessen,« bat Görgl die Alte wiederholt.

»Von mir aus,« entgegnete diese, »aber z'erst muaß i an' Span ankennten, sunst sitz' ma im Finstern.«

»Ah was, zu unserer Arbet sehgn ma schon,« meinte Mathies. »Scheint ja der Ma' so schö' eina in d' Stubn und 's waar schad, wenn ma' sei' Liacht vertreibet.«

Dem Mathies war es aber weniger um das Mondlicht zu thun, als um den Ausblick nach des Nachbars Haus. Man konnte von dem Fenster, an dem er saß, nach der Seitenfront des Bärenhofes und nach dem mit Eisenstäben geschützten, kleinen Fenster von Afras Schlafkammer blicken. So war auch seine Aufmerksamkeit während der nachfolgenden Erzählung seiner Großmutter nur auf jenes Fenster gerichtet. Der schwarze Görgl aber lauschte mit Begierde den Worten der Alten, für ihn waren es keine Märchen, in seinem Hirn zuckte es fiebernd, und er schwärmte von goldener Zukunft. 27



 << zurück weiter >>