Maximilian Schmidt
Die Jachenauer in Griechenland
Maximilian Schmidt

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VI.

Der Singerbauer hatte mit seiner Tochter das Wirtshaus verlassen, um nach dem Wallerhof zu eilen und dort genaue Kenntnis von dem Sachverhalt zu erlangen. Dasselbe hatte Friedl gethan. Er kam sich vor wie ein Verbrecher. Er meinte, es müsse ihm auf der Stirn geschrieben stehen, daß durch ihn das Unheil auf dem Wallerhofe herbeigeführt wurde, denn daß die Sache mit dem Hexenstrang doch mehr als Hokuspokus gewesen, das glaubte er jetzt mit Sicherheit annehmen zu müssen. Und er war so wenig dazu geschaffen, das Unglück eines Menschen zu verschulden und diese Schuld verantworten zu müssen.

Er wollte mit dem Pfarrer über die Sache sprechen, er fühlte das Bedürfnis, hierin klar zu sehen.

Da kam der hochwürdige Herr auch schon mit Resei herangefahren.

Das Mädchen schluchzte in sein Taschentuch hinein; der geistliche Begleiter schien Trost zuzusprechen. Es hatte also wirklich alles seine Richtigkeit.

Am Pfarrhof stieg der Pfarrer ab und lud den herankommenden Singerbauern ein, mit ihm ins Haus zu kommen, wo er ihm Mitteilung machen werde. Amrei dagegen sollte mit Resei nach Hause fahren.

So geschah es auch.

Sie fuhren ganz nahe an Friedl vorüber. Resei war in Thränen aufgelöst; auch Amrei weinte.

66 »Dös is mei' Werk!« sagte sich der junge Fischer vorwurfsvoll. »I bin der elendigste Tropf auf Gottes Erdboden.«

Das Schuldbewußtsein drückte ihn fast zu Boden. Vom Wirtshause her tönte fröhlicher Gesang; er aber hätte weinen mögen über sich und über den Jammer, den er der einst so Heißgeliebten verursachte.

Nach langer Zeit kam der Singerbauer aus dem Pfarrhofe. Er war blaß und sehr erregt. Er schlug den Fußsteig zu seinem Hofe ein.

Friedl, der, noch immer in düsteres Brüten versunken, hinter einer Staude kauerte, entschloß sich jetzt, dem Pfarrer sein Verbrechen zu beichten.

Aber zu einer Beichte kam es vorerst nicht.

Der Pfarrer hatte Friedl kaum erblickt, als er ihm zurief:

»Du kommst mir gerade recht, du mußt mir sofort einen Brief für den Herrn Benefiziaten im Klösterl besorgen. Ich reise morgen nach München und mein Herr Amtsbruder muß auf ein paar Tage meinen Dienst hier versehen. Warte nur einen Augenblick, ich bin gleich wieder hier.«

Mit diesen Worten eilte er in sein Arbeitszimmer und ließ Friedl allein in der Wohnstube zurück. Aber schon nach kurzer Zeit kam er mit dem Briefe wieder und händigte diesen dem jungen Fischer ein.

»Du thust mir einen großen Gefallen, Friedl,« sagte er nochmals, »wenn du ohne Verzug von Niedernach mit dem Schiffe überfahrst zum Klösterl und mir noch heute, und wenn's noch so spät wird, Antwort bringst. Verhalt dich keine Minute länger; es hat Eile.«

67 »Hochwürden, i hätt' noch a Anliegen,« brachte jetzt Friedl schüchtern hervor. »Is wirkli d' Hochzet zwischen 'n Wendl und 'n Resei ausanand gangen?«

»Verschoben, nur verschoben,« antwortete der Pfarrer mit sichtlicher Ungeduld.

»So gaach?«

»Ja, ganz unvermutet. Heutigen Tages kommt gar viel unvermutet. Ihr werdet in den nächsten Tagen noch manches erfahren. Jetzt aber geh! Besorge den Brief! Wenn du zurückkommst, reden wir weiter.«

Da war nichts zu machen. Der Pfarrer, das sah Friedl deutlich, war jetzt nicht in der Stimmung, ihn anzuhören.

»Da bitt' i halt nacha um G'hör, Hochwürden,« sagte er. »I hon an' Stoa' am Herzen.«

»Kann mir's schon denken,« entgegnete der Pfarrer, der glauben mochte, es handle sich um Friedls Liebe zu Resei. »Der liebe Gott wird ihn dir schon wegwälzen. Die Zeit heilt alles, und du bist ja noch jung.«

Er machte dem Friedl ein Zeichen, daß er sich entfernen möge, und der junge Mensch that nach seinem Willen. Er hoffte, bei seiner Rückkehr mehr Gehör zu finden. Das aber stand jetzt schon in ihm fest: er wollte nach Abgabe des Briefes und erhaltener Antwort im Klösterl nicht sofort hierher zurückgehen, sondern zuerst zum Posthause am Walchensee hinüberrudern, wo der Duli übernachtete. Dieser mußte die Sache ändern, koste es, was es wolle.

Der böse Zauber mußte gelöst werden, denn das Bewußtsein dieser Schuld würde ihm sein Leben lang keine frohe Stunde mehr gestatten.

Mit eiligen Schritten wanderte er die Jachenau 68 entlang aufwärts zum Gestade des Walchensees, der beim Ausfluß der Jachna eine tiefe, spitzverlaufende Ausbuchtung bildet, in welcher der Fischberg zur Linken und der Altbachberg zur Rechten gleichsam die riesige Ausgangspforte des lustig dahinströmenden Gebirgswassers bilden. Ruhig lag die dunkelgrüne, von einem großartigen Hochgebirgspanorama eingeschlossene Flut des Walchensees.2½ Stunden lang, 1½ Stunden breit, 196 m tief, 790 m über dem Meere (194 m höher als der Kochelsee.) Die buntgefärbten Buchenwaldungen brachten im Vereine mit den tannendunklen Waldbergen und dem tiefen Blau des Himmels ein wunderbares Farbenspiel hervor, welches durch die dem Untergange sich nähernde Sonne verklärt wurde. Die über die Waldberge hereinragenden Spitzen und Schroffen fingen zu leuchten an und die sich immer mehr am Firmament ausbreitende Abendröte spiegelte sich im Bergsee und schien das Wasser mit Purpur und Gold zu färben. Die Flut schien zu zittern vor heiligem Schauer, denn der Gottesdienst der Natur hatte begonnen, der Weiheakt für den Schöpfer all' dieser Herrlichkeit.

Friedl hatte ein Schiff losgelöst und ruderte in der Richtung quer über den See nach dem am westlichen Ufer auf einer grünen Halbinsel, dem Posthause und dem Dörfchen Walchensee gerade gegenüber gelegenen sogenannten Klösterl.

Dieses kleine Stift ward von Maria Antonie, der Tochter Kaiser Leopolds I. und ersten Gemahlin des Kurfürsten Max Emanuel von Bayern, 1698 gegründet und von Hieronomitanern bewohnt. Verschiedene Uebelstände, namentlich das Rauhe und Unwirtliche der Gegend, veranlaßten die Mönche, ihre Zellen zu räumen und auf das 69 Lehel, jetzt St. Anna-Vorstadt in München, zu ziehen, wo sie sich ein neues Kloster erbauten, das 1803 aufgehoben, 1827 aber wieder den Patern Franziskanern eingeräumt wurde.

Das verlassene Stift am Walchensee ward ein zur Abtei Benediktbeuern gehöriges Pächterhaus und ein alter, ehrwürdiger Benefiziat versah dort die Seelsorge.

Zu diesem führte Friedl jetzt sein Kahn. Mehr aber drängte es ihn, das Posthaus recht bald zu erreichen. Seit er das weinende Resei und ihre Schwester, die hübsche Amrei, gesehen, nagte es wie ein Wurm an seinem Innern. Er war es, der ihre Thränen verschuldet, er war es, den der Fluch des alten Bauern traf, und ja, er verspürte diesen Fluch, er konnte nie wieder glücklich werden – nie wieder!

Welcher Gegensatz zwischen dem verklärten Frieden in der Natur und den Stürmen, die im Herzen des unglücklichen Burschen tobten!

Viel lieber wäre es ihm gewesen, wenn, wie es oft der Fall, ein plötzlicher Windstoß das ruhige Wasser zu schäumenden Wellen aufgewühlt hätte, wenn der Sturm rasche Kreisel in das schläfrige Wasser gezogen, daß es wild aufsprühend seinen schwanken Kahn umzischte und dumpf grollend ihn umtobte.

Das hätte zu Friedls Stimmung gepaßt, denn so, gerade so düster, so trostlos sah es in seinem Innern aus. Dort unten in jener bodenlosen, grauenvollen Tiefe, in die er hinabstarrte, war der Friede, war die ersehnte Ruhe für sein Herz, für seine Seele zu finden.

Für seine Seele? War das gewiß? War dieser Schmerz, der ihn quälte, zu Ende mit dem Leben? Und 70 wenn, durfte er sich diese Ruhe gönnen? Hatte er nicht so viel wieder gut zu machen, mußte er es nicht unverzüglich thun?

Rascher senkte er die Ruder ein, kräftiger zog er an.

Die Sonne war bereits hinter den Bergen hinabgesunken, der Abglanz einiger Sterne blinkte schon aus den allmählich sich verdüsternden Fluten. Es mahnte der Silberton des Glöckleins vom stillen Klösterl zum Abendgebete.

Der Schiffer achtete nicht darauf, er starrte nur mit tiefem Sinnen in die Fluten.

Da ward es plötzlich hell in dem geheimnisvollen Grunde, der Fährmann glaubte mit Entsetzen ein fischartiges Ungetüm zu erblicken, das mit scharfem Gebisse seinen eigenen Schweif im Rachen hielt und mit seinem Riesenleib in weitem Bogen den ganzen Felsenstock umspannte. Die Augen glühten rollenden Feuerrädern gleich, mit drohendem Blick schaute es aus seinem krystallenen Hause auf zu dem Burschen im kleinen Kahne.

Friedl schloß die Augen, die Sinne drohten ihm zu schwinden. Seine erregte Phantasie hatte ihm das Ungeheuer vorgespiegelt, wie es einer alten Sage nach im Walchensee hausen soll. Die Sage erzählt, daß, wenn es einmal seinen Schweif losläßt, sich das Gestein des Kesselberges spaltet und die Wogen des Walchensees, sich mit denen des Kochelsees vereinigend, hinausstürzen in die Ebene Bayerns und München und seine Umgebung begraben, denn der Volksglauben hält das Wasserbecken für bodenlos und mit dem Meere in Verbindung.

Noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts war die Besorgnis vor einem Durchbruche des Kesselberges so groß, 71 daß man zu Gott um Abwendung dieses drohenden Unglücks flehte. In der Gruftkirche zu München wurde aus diesem Anlasse täglich eine Messe gelesen, alljährlich aber ein geweihter, goldener Ring in den See geworfen, um die Wassergeister bei freundlicher Stimmung zu erhalten.

Wie man sich erzählt, suchte einmal ein vorwitziger Fremdling in einer Taucherglocke in die Tiefe zu gelangen, da erblickte ihn das grimme Ungetüm und rief ihm mit Donnerstimme zu:

»Ergründst du mich, so schluck ich dich!«

Rasch gab er das Notzeichen und entkam nur mit Mühe der Gefahr. Der Tollkühne soll es später noch einmal gewagt haben, den Grund des Walchensees erforschen zu wollen. Mann und Glocke sind aber nicht mehr zum Vorschein gekommen.

Diese und andere Erzählungen ließen in Friedls überreiztem Gehirn jene Phantasiegebilde wieder aufleben und versetzten ihn in einen fieberhaften Zustand.

Als er die Augen wieder aufschlug, fand er sich, auf einem ledernen Sofa liegend, mit wollenen Decken zugedeckt, in einer Stube des Klösterls. Frau Gertraud, die Schwester des Benefiziaten, saß neben ihm. Eine Oellampe brannte auf dem Tische.

»Gott sei Dank!« rief die Matrone. »Das war ein langer Schlaf, Friedl, und voll wüster Träume!«

»I woaß nit – daß i g'land't hon,« sagte Friedl erstaunt. »Frau Gertraud, bin i denn krank?«

»Dei' Schiffl hat's bei uns ans Land trieb'n. Du hast g'schlafen und bist nit zum erwecken g'wen. Da hab'n di unsere Dienstboten 'reintragen. I glaub halt, Friedl, du hast z'viel trunken?«

72 »Trunken?« fragte Friedl, und sich besinnend fuhr er fort: »Ja, ja, scho' mehr, als i gewöhnt bin, aber – Jeß, i hab ja an' Brief an Sr. Hochwürden.«

»Den hat mei' Herr Bruder schon,« berichtete die alte Frau. »Er ist aus deiner Tasche g'fall'n, wie's dich 'reintragen hab'n.«

»Aber d' Antwort muß i ja zruckbringa,« entgegnete Friedl, indem er versuchte, sich zu erheben.

»Die ist schon durch an' andern Schiffer b'sorgt,« berichtete Gertraud. »Verhalt di nur ruhig; es ist schon bald Mitternacht.«

»Mitternacht!« rief Friedl voll Schrecken. »Da därf i koan Augenblick verliern. I muaß ja ins Posthaus ummi zum –«

Wieder suchte er sich zu erheben, aber die alte Gertraud hielt ihn zurück.

»Für heut bleibst da!« sagte sie. »Deiner Mutter hat der Schiffer Botschaft tho, daß d' bei uns bist. Sobalds Tag wird, kannst ins Posthaus 'nüber. Jetzt halt di ruhig, daß d' mein Herrn Bruder nit aufweckst, sonst kriegst noch a Repremant. I mach dir an' Kaffee, der bringt di wieder in Ordnung. Bist doch so brav, Friedl, und fangst 's trinken an? Aber freili, i weiß schon, was gestern für a Tag war; mei' armer Narr!«

Frau Gertraud ging.

Friedl aber ward sich wieder all der Einzelheiten des gestrigen Tages bewußt. Ach, was er im Verein mit dem Duli gethan, war kein Phantasiegebilde, wie das riesige Ungetüm auf dem Grunde des Walchensees! Wieder erfaßte ihn bittere Reue.

73 Frau Gertraud kam bald mit heißem, schwarzem Kaffee zurück, der Friedl sehr wohl bekam.

»So, und jetzt schlafft wieder!« befahl die alte Frau. »Morgen bist dann wieder frisch und gesund.«

»Ja, morgn in aller Fruah muaß i ummi ins Posthaus,« versetzte Friedl, der keinen andern Gedanken fassen zu können schien; »es hängt gar viel davon ab.«

»Ich werd' di wecken,« versprach die Alte.

»No' a Wort, Frau Gertraud,« sagte Friedl, sie zuhaltend. »Halten Sie 's für mögli, daß ma' jemand 's Glück abwünschen, oder a Unglück anwünschen kann?«

»Es giebt scho' solch schlechte Leut, die so was thun,« meinte Frau Gertraud. »Aber unser Herrgott richt's ein, daß all' dös schlechte, was 's ihren Nebenmenschen wünschen, auf sie selber zurückfallt. An' echter Christ wünscht selbst sein' Feind nur gut's und schaut nit neidig aufs Glück von andere. Jetzt ruh wieder aus und denk, aa für di kommt noch's Glück, wennst fromm und ehrbar bleibst.«

Friedl war allein. Der Alten Rede beruhigte ihn nur teilweise. Er sehnte den Morgen herbei. Nicht eher glaubte er Ruhe zu finden, als bis er den Hexenstrang unwirksam gemacht. Die trüben Bilder, welche vor seinen Sinnen immer wieder erstanden, wurden nur manchmal erhellt durch den Gedanken an die dunkeln, glänzenden Augen der schönen Amrei. Doch das Bewußtsein, diesen Augen Thränen entlockt zu haben, machte ihn von neuem traurig, bis endlich die Natur ihr Recht verlangte und ihm der Schlaf die Augen schloß. –

Zu gleicher Stunde saß Resei weinend auf ihrem Bette 74 und konnte keinen tröstenden Gedanken finden. Die Zukunft lag trübe vor ihr.

Wendl aber hatte dem Freund ein über das andere Mal gesagt:

»Dös Glück, Freund, daß d' noch zur rechten Zeit kommen bist! I wär närrisch worn, wenn i um Griechenland kommen wär. I bleib ihr treu auf Mannswort; und sollt i General wern, so wird neamd anders mei' Generalin, wie 's Resei. Hellas nochamal! Die G'schicht kann si' guat auswachsen! – 75


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