Maximilian Schmidt
Der Bubenrichter von Mittenwald
Maximilian Schmidt

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XVI.

Nicht der Gesang der Lerche, wohl aber der kalte Umschlag, den der Krüner Ferdl auf Jakls Kopf legte, bewirkte, daß der Verunglückte die Augen aufschlug.

Ferdl war, wie vor acht Tagen, auf dem Weg in sein Jagdrevier und wollte soeben durch das Lainthal und den Steig hinauf, als er den Bubenrichter in bewußtlosem Zustand und schwer verletzt, zwischen Sand und Trümmern liegend, erblickte. Sobald er sich überzeugt, daß der Abgestürzte noch am Leben sei, netzte er sein Taschentuch im 196 Lainbach und legte es dem Kranken auf den Kopf, was zur Folge hatte, daß dieser sofort aus seiner Betäubung erwachte.

»Gott sei's gedankt!« rief Ferdl; »du kimmst zu dir. Kennst mi, Jakl?«

Dieser wußte nicht gleich, wo er sich befand und was mit ihm vorgegangen, erst nach und nach erinnerte er sich an das Geschehene. Aber er fühlte auch zugleich die heftigsten Schmerzen am ganzen Leibe, zumal am Kopfe.

»I lauf schnell zum Müller vüri um Beistand,« sagte Ferdl, »daß wir di ins Haus bringa kinna.«

»Na', na',« bat Jakl, »laß mi glei hoambringa zu meina Muatta; i gspür's, daß i's nit lang mehr treib. Und, Ferdl, laß dir sag'n, thua schnell Post ummi in d' Leutaschmühl, dort is mei' Weib, d' Marietta – laß's glei ummakemma zu mir.«

»Dei' Weib?« fragte Ferdl, als wollte er seinen Ohren nicht trauen. »Du bist verheirat't? Und no' gestern hat di d' Lisl als ihren Hochzeiter erklärt!«

»I hon's auf 'n Glauben lassen bis Nachmittag – da hon i ihr's g'sagt, wie 's is. I hätt ihr's glei' sag'n soll'n, dem liaben arma G'schöpf, aber mei', i wollt z'erst mei' Schuld abtrag'n an ihren Vata, denn woaßt, du hast scho' recht g'habt, i bin als Bettler hoamkemma und dös Geld war vom Schändl, war der Liesl ihra Heiratguat. Mei' Muatta hat's ohne mei' Wissen gnumma – i hab's durchs Paschen wieder gwinna wolln – d' Aufseher hab'n uns versprengt, i bin g'flücht't, iatz woaßt es, wie's is.«

»Sei ruhig,« tröstete Ferdl; »du sollst di in mir nit täuscht hab'n, aber jetzt halt di ruhig. Vom Paschen sagst zu neamd ebbas. Koa' Mensch hat auf di Verdacht. I hab' 197 am Herweg mit an' Aufseher g'sprochen, ma moant, lauta Tiroler sans gwen, die über'n Burgberg wieder z'ruck san; an' oanzige Kraxen, sagt er, hab'ns z'ruckg'lassen.«

»Dös is die mei',« versetzte Jakl. »Thua mir die Freundschaft und b'sorg's, daß der Springersepp die War dem Innsbrucker Kaufmann wieder zruckstellt und –«

»Dös kannst mir alles später sag'n,« unterbrach ihn Ferdl. »I hol d' Leut von der Mühl und sorg, daß d' hoamg'fahrn wirst, und wenn's grad mit a Paar Ochsen wär.«

Schnell eilte er zur nahen Mühle und kam mit dem Müller und einem Knecht alsbald wieder an Ort und Stelle. Eine Dirn eilte auf Ferdls Geheiß nach der Leutaschmühle, um Marietta zu holen.

Die Männer trugen nun den Verwundeten, der vor Schmerz laut stöhnte, zum Hause und legten ihn da auf einen Wagen, dem der Knecht sofort ein Paar Ochsen vorspannte, und auf welchem dann der Kranke nach Mittenwald in sein Haus verbracht wurde.

Trotz der frühen Morgenstunde hatte sich eine Menge Leute dem Wagen angeschlossen und laut bejammerte man das Unglück des allbeliebten Bubenrichters.

Die alte Nandl war von der Totenwache des Zundermichl heimgekehrt und war soeben bemüht, Jakls Mutter zu beschwichtigen, die gestern erst nach Nandls Entfernung die Abwesenheit ihres Sohnes bemerkt hatte, und die ganze Nacht über in Sorge und Kummer um ihn war. Nandl konnte und wollte jetzt keine Lüge mehr über den Mund bringen, und so erzählte sie der überraschten Frau alles, was sie wußte.

Diese hatte sich von ihrem Schrecken über das 198 Gehörte noch nicht erholt; sie zankte, weinte, erklärte, diese Schmach nicht überleben zu können und wünschte, daß ihr Sohn lieber gestorben oder gar nicht mehr heimgekehrt sein möchte, als ihr so viel Leid, so viel Schande anzuthun. Aber Nandl tröstete sie. Sie war ja heute nacht am Lager eines Sterbenden gewesen, sie wußte, wie das menschliche Leben ein steter Kampf mit dem Schicksal, eine Reihe von Tugenden, Fehlern und Schwächen sei und daß es nichts Schöneres in diesem Erdenleben gebe, als zu verzeihen.

Und sie hatte die empörte Mutter gerade dahin gebracht, daß sie mit den Thatsachen zu rechnen begann, da stürzte Ferdl zur Thüre herein und brachte den Weibern die traurige Botschaft von Jakls Verunglückung.

Nun war freilich jeder Groll aus dem Herzen der Mutter rasch verschwunden. Unter Jammern und Schreien eilte sie mit Nandl den Männern entgegen, die den Kranken soeben durch den Garten in das Haus und dann hinauf in seine Stube trugen.

»O, mei' Jakl,« rief die Mutter, »i bitt di, stirb mir nit – bleib da bei mir – i will ja g'wiß dei' Wei auf 'n Händen trag'n, und koa' schlimm's Wörtl sollst hör'n von mir dei' Lebta!«

Jakl sah die Mutter mit einem dankbaren Blick an und ein zufriedenes Lächeln flog über seine Lippen.

»Verzeihst mir?« fragte er leise.

»Alles, alles!« rief die Mutter unter Schluchzen, sich vor dem Bette des Kranken auf die Kniee niederlassend.

Arzt und Chirurg begannen jetzt ihre Thätigkeit, niemand außer Nandl durfte in der Stube bleiben, selbst die Mutter wurde vom Arzt ersucht, sich bis nach Anlegung der verschiedenen Verbände zu entfernen.

199 Im Nachbarhause hatte Jakls Unglück nicht weniger Aufregung hervorgerufen, als in dessen eigenem. Noch gestern nacht hatte Liesl ihrer Mutter unter Thränen entdeckt, was ihr Jakl in der Leutaschmühle mitgeteilt. Die dem Verhältnisse mit Jakl ohnedem nie hold gewesene Frau ließ ihrem Aerger freien Lauf, sie schimpfte auf Jakl und seine Mutter, wie auf Marietta, und Liesl mußte alle ihre Beredsamkeit anwenden, um zu verhindern, daß sie nicht nachts noch zur Nachbarin hinüberging und ihr, wie sie vorhatte, »die Leviten las.«

Dem Vater sollte die unerwartete Nachricht erst heute morgen beigebracht werden. Wie gewöhnlich war er bei Sonnenaufgang aufgestanden, und die herrliche Morgenbeleuchtung brachte ihn, wie so oft, auch heute in eine gehobene Stimmung, der er mit der Viola warmen Ausdruck verlieh.

Da trat Liesl zu ihm heran. Sie sah blaß aus und ihre Augen waren vom Weinen hochgerötet.

»Vaterl,« sagte sie, »dei' Spiel thuat mir wohl, mir is, als setzet dös Weh aus, so lang i di geigen hör –«

»Kind, wie siehgst du aus?« rief der Geigenmacher erschrocken. »Was fehlt dir? Bist krank? Dös is koa' Aussehgn für a Hochzeiterin.«

»G'wiß nit!« entgegnete Liesl, bitter lächelnd. »I bin aa koa' Hochzeiterin mehr. Es is besser, i sag dir's, als d' Muatta, die so hitzi drein geht. Der Jakl kann mei' Mann nit wern, weil er in Welschland drent scho' g'heirat't und sei' Wei mitbracht hat – d' Marietta.«

»Und dös soll i glaub'n?« rief der Alte. »Dös kann nit sei'! So schlecht kann der Jakl nit sei'! Na', na', dös 200 kann a Mittenwalder Bursch nit ausführ'n, so was giebt's nit!«

»Es is so, wie i g'sagt hon,« erwiderte Liesl. »I hab's aa nit glaub'n woll'n, aber der Jakl und d' Marietta hab'n mir's selm bestätigt.«

»Und er is nit in 'n Erdboden einig'sunken?« rief der Alte. »Er hat dei' Heiratsguat angnumma und –«

»Na', Vata, dös hat sei' Muatta tho', die in dera Stund no' nix von der Sach woaß. Die Schuld war aa d' Ursach, daß er si nit glei entdeckt hat, er hat dir erst dös Geld wieder z'ruck geb'n woll'n, und damit 's ehnda sei' kann, hat er si aufs Paschen verlegt. Weg'n dera Schuld sollst 'n aa nit lang sekiern.«

»Was? Dei' Heiratsguat, dös i g'spart hon mei' ganz's Leb'n lang, dös soll verlor'n sei'?«

»Er wird dir's wieder hoamzahl'n, Vaterl, nach und nach. Dös Geld is's wenigst, was mir 's Herz beschwert. Es giebt an' andern Verlust, der nimmer z' gwinna is.«

»Arm's Hascherl!« versetzte der Vater; »i versteh di. Aber i werd di aa rächen. Schand und Spott soll eam wern, für a solche That. Glei geh i ummi zu eam, und wenn er nit zamsinkt vor mir, wenn 'n sei' Schuld nit niederdruckt in Staub, so is er's nimmer wert, daß er's Sonnenlicht siehgt, so trifft 'n mei –«

»Vater, halt ein!« rief Liesl. »Er is nit so schlecht, als d' moanst. 's Herz hat's eam schier abdruckt, wie er mir gestern alles eing'standen hat. Jed's Wort von eam zittert no' in mein' Herzen nach. Er is halt in die Verhältnis einikemma, ohne daß er's ändern konnt. Fluach eam nit, i bitt di drum, Vata, er is nit so schuldi, als d' moanst.«

201 »Natürli, du machst 'n no' schö' aa, trotzdem er dir 's Herz brocha hat. Mei' liab's, arm's Deandl! O, i kenn di, i kann mir denken, wie 's ausschaugt in dein' Innern! Der schö' Altar, den dir d' Liab drin aufbaut hat, der liegt in Trümmer, und 's Glück is furt aus dein Herzen.«

»Aus die Trümmer bau i mir den Altar wieder auf, Vata; dir g'hört von nun an wieder all mei' G'fühl, dir und der Muatta, und kann i beitrag'n, daß's glückli seid's, so werd i 's aa wieder, so 's Gott's Willn is.«

»Mei' Herzensdeandl!« sagte der Alte gerührt, indem er die Tochter herzlich küßte.

Jetzt hörte man Lärm von der Straße her, und der Geigenmacher begab sich ans offene Fenster, um die vor dem Nachbarhause sich ansammelnden Leute zu fragen, was es gäbe.

»'n Bubenrichter hab'ns tot hoambracht, er hat si im Lainthal draus dafall'n,« lautete die Antwort.

Ein Schrei des Entsetzens löste sich von Liesls Lippen. Als der Vater sich nach ihr umwandte, sah er sie am Boden liegen, scheinbar tot, ähnlich der geknickten Rose im schönsten Frühlinge ihres Lebens.

Die Mutter kam herbeigeeilt; auch sie hatte bereits Kenntnis von dem Unfall Jakls, doch wußte sie auch, daß derselbe wohl lebensgefährlich verletzt, aber noch am Leben sei. Die tief bekümmerten Eltern hoben die Ohnmächtige auf das Sopha, und es gelang ihnen, sie alsbald wieder zum Bewußtsein zu bringen.

»Arm's Deandl,« sagte der alte Vater zitternd, »'s is ja koa' Wunder, wenn's d' zambrichst unter die wuchtigen Schicksalsschläg, über den gaachen Umschwung. Aber sei stark, sei stolz, Deandl, trag dei' G'schick; der Himmel 202 schickt Freud und Leid, er woaß's warum. Trag dei' G'schick mit Christenmuat!«

»Is der Jakl wirkli tot?« fragte das Mädchen.

»Na',« antwortete die Mutter, »er lebt no'; er hat si stark verletzt, aber er lebt no'.«

»Gott sei Dank!« versetzte das Mädchen. »Grüaßt's mir 'n schön. I wunsch eam, daß eam nix Schlimm's passiert is fürs Leben.«

Der Vater wollte es selbst übernehmen, im Nachbarhause nähere Erkundigungen einzuziehen. Ferdl begegnete ihm da und gab ihm von allem Kenntnis, und der Geigenmacher nahm ihm das Versprechen ab, über die Geldgeschichte nichts verlauten zu lassen.

Wieder heimgekehrt teilte er der Tochter dann mit, was er von Ferdl erfahren. Das Mädchen hatte sich etwas erholt und sandte heiße Bitten zum Himmel, daß Jakl seinen Wunden nicht erliegen möge. In banger Sorge vergingen ihr die nächsten Stunden.

Drüben aber im Nachbarhause hatte unterdessen der Priester dem Schwerverwundeten die Sterbsakramente gereicht und Marietta war erschienen, das arme, unglückliche Weib. Jakl hatte schon oft nach ihr gefragt, und die Mutter selbst führte ihm jetzt zum Zeichen, daß sie die Schwiegertochter anerkenne, die Ersehnte zu.

Es war ein erschütterndes Wiedersehen.

Nach einer Weile sagte der Kranke:

»I woaß, wie's mit mir steht; mei' Bleibens is nimmer lang auf dera Welt. Aber i tröst mi, weil i di versorgt woaß, mei' liab's Weib, weil i ausg'söhnt bin mit 'n Himmel und der Welt. Nur oans wenn i no' wüßt, 203 oans – daß i ruhi sterben kunnt – ob mir d' Liesl nit nachifluacht in d' Ewigkeit.«

Die alte Nandl drückte sich bei diesen Worten aus der Stube und eilte ins Nachbarhaus, um dem Mädchen die Rede des Sterbenden mitzuteilen.

Liesl besann sich nicht lange. Ohne daß es die Eltern hindern konnten, verließ sie das Haus und eilte nach der Stätte, an welcher sie gestern einen ganzen Himmel empfunden. Hastig hatte sie die Thüre aufgerissen. Einen Moment blieb sie auf der Schwelle stehen. Jakl, dessen Augen erwartungsvoll auf die Thüre gerichtet waren, hatte sie erblickt. Ein Freudenruf löste sich aus seiner Brust.

Sie war erschienen, – sie hatte ihm vergeben!

Der nächste Atemzug war sein letzter. Entseelt sank der erhobene Kopf wieder zurück auf die Kissen. –

Marietta und Liesl, sowie die beiden alten Frauen ließen nun ihrem Schmerz, ihren Thränen freien Lauf. Erstere umarmten sich schmerzbewegt.

»Jetzt g'hört er wieder mir!« war Liesls Gedanke. »Dem Toten därf i mei' Herz und mei' Liab weih'n, sie g'hört dei', arma Jakl, für Zeit und Ewigkeit!«

Und sie hielt ihm Wort. –

Einige Monate später vertrat der alte Schändl Patenstelle an Mariettas Söhnchen, und die schwarze Liesl überschüttete dasselbe mit Zeichen werkthätigster Liebe jetzt und fürderhin. Ein heiterer Friede folgte ihr durchs Leben, oft verklärt durch weihevolle Stunden der Kunst beim wohlgepflegten Mittenwalder Volksschauspiel. Und als die alte Nandl hochbetagt gestorben, ward Liesl, wie jene 204 ahnungsvoll vorausgesehen, zur Mutter der Rosenkranzmädchen erwählt. Dem Jugendfreunde aber blieb ihr treues Herz. Noch in späten Jahren pflegte sie die Blumen auf seinem Grabe und weilte oft in süßen Träumen dort. Sie fühlte ja die Wahrheit von der alten Nandl frommem Glauben:

»D' Liab kimmt vom Himmi, und was vom Himmi kimmt, dös dauert ewi!«

 

Mittenwald, 1886.

 

 


 << zurück