Maximilian Schmidt
Der Bubenrichter von Mittenwald
Maximilian Schmidt

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II.

Eine erquickende Bergluft streicht aus den engen Felsthälern und Schründen und verscheucht die drückende Schwüle des Julitages. Die Bewohner von Mittenwald sitzen auf der Gredbank ihrer Häuser. Ueberall herrscht laute Fröhlichkeit. Die meisten waren die ganze Woche über auf der Wiesmad, das ist, auf der Heuernte auf entlegenen Berglehnen, während der sie mit Kind und Kegel von Hause abwesend sind. Um so mehr fühlen sie sich angemutet in ihrem traulichen, wenn auch noch so einfachen Heim, in den kleinen, gemauerten, mit Legschindeldächern versehenen und bemalten Häusern mit durchweg großen Einfahrtsthoren und gewölbten Hausflötzen. Die letzteren dienten einst, als die Venetianer jahrhundertelang (1487–1697) den großen »Bozener Markt« hier abhielten, zur Niederlage der Waren.

Mittenwald war damals der wichtigste Punkt auf der ganzen Handels- oder Rottstraße, die von Italien nach Augsburg führte und welche schon von den Römern als »Heerstraße« angelegt ward. Was aus der Levante und Italien an Kaufmannsgütern durch Tirol kam, wurde zu Mittenwald niedergelegt und durch die dortigen Fuhrleute, die sogenannte »Rott«, einen Verein bürgerlicher Fuhrleute, weiter verfrachtet. Die Verlegung des Bozener Marktes nach Mittenwald wurde veranlaßt durch einen Streit, den 16 Erzherzog Sigmund 1487 zu Bozen mit den Kaufleuten Venedigs begann. Diese Zeit bildet den Glanzpunkt in der Geschichte Mittenwalds und gab dem kleinen Orte eine gewisse internationale Bedeutung.Ausführlicheres zu entnehmen aus J. Baaders trefflich geschriebener »Chronik des Marktes Mittenwald«, welche auch als Quelle benützt wurde.

Auf die sonnigen Tage, deren die Rottstraße seit alter Zeit sich erfreute, folgten aber dunkle, Unheil verkündende Wettertage. Der Bozener Markt wurde 1679 wieder verlegt; mit ihm verloren die Rottleute ihren Verdienst. Der dreißigjährige Krieg und andere widrige Schicksale halfen zusammen, daß der einst so wohlhabende Handelsplatz verarmte.

Indessen hatte ein gütiges Geschick einen Ersatz für die versiegte Einnahmequelle vorbereitet. Im 16. und 17. Jahrhundert stand nämlich die Kunst des Geigenmachens in Welschland in der höchsten Blüte. In Brescia, Cremona, Treviso, Venedig und anderen Orten lebten berühmte Meister, die viele Schüler unterrichteten. Die Kunde von ihnen drang in alle Lande, auch Mittenwald hörte davon, denn es stand ja mit Welschland vielfach in Verbindung. Zudem lebte ja ein anderer berühmter Geigenmacher fast unmittelbar in der Nähe Mittenwalds, es war dies Jakob Stainer zu Absam, der im nahen Gleirschthal und in den anderen Thälern der bayerischen Alpen, wo die Wasser der Isar zusammenrinnen, sowie an den Sonnenbergen umherschweifte und nach Resonanzholz und Haselfichte für seine Geigen spähte, indem er mit einem Hammer an die Stämme schlug, um ihren Ton zu behorchen. Dies erweckte im Jahre 1663 in dem Mittenwalder Bürger 17 Urban Klotz den Gedanken, seinen zehnjährigen Sohn Mathias auch einen Geigenmacher werden zu lassen. Der Knabe kam nach Welschland in die Werkstätte des Nicolo Amati in Cremona und nach wenigen Jahren war er einer der besten Schüler dieses Meisters. Nach vielen Wechselfällen kam Mathias Klotz nach zwanzigjähriger Abwesenheit als vollkommen ausgebildeter Meister in die Heimat zurück und gründete hier die erste Geigenmacherschule; er schuf aus Mittenwald ein deutsches Cremona, freilich ohne Torazzo, ohne Kathedrale in lombardischem Sinn, und ohne Marmorpaläste, aber in der Fabrikation der besten Geigen bald so berühmt wie jenes Cremona am Po. Die weiten Waldreviere ringsum boten das vortrefflichste Material zu diesen Instrumenten. Die Mittenwalder verpflanzten mit der Zeit ihre Kunst auch nach auswärts, selbst über den Ozean hinüber, indem sie ihre Meister hinübersandten, um dort neue Werkstätten zu gründen, und so ward Mittenwald auch in fremden Weltteilen eine Pflege deutscher Kunst und deutschen Fleißes.

Viele tausend Geigen und andere Instrumente schwimmen jetzt jährlich über den Ozean, welch unerhörter Aufschwung vorzugsweise dem Unternehmungsgeist einiger Familien wie der »Neuner« und »Bader« zu danken ist.

Die Wiesmad ausgenommen, beschäftigt sich die Mehrzahl der Mittenwalder mit der Fabrikation von Geigen; fast in jeder Stube befinden sich eine oder mehrere Hobelbänke, an denen der Meister mit Söhnen und Lehrlingen emsig schnitzt, hobelt und schabt. Mädchen und Weiber firnissen und polieren die Instrumente. In einer anderen Stube verfertigen die Drechsler große und kleine Schrauben oder Wirbel, Bogen, Saitenhalter, Hälse und 18 Stege, wieder anderswo rasselt und schnurrt es, daß man sein eigenes Wort nicht versteht; hier überziehen die Saitenspinner mittelst ihrer Räder die Seidenstränge und Darmsaiten mit leonischem Silber- und Kupferdraht.Dieser leonische Draht wird im bayerischen Städtchen Schwabach verfertigt, aber nach England verkauft und kommt von da als »englisches Fabrikat« wieder zurück. In neuester Zeit wird endlich die »deutsche Firma« gebraucht.

Auf den Dächern oben und zu den Dachluken heraus oder unten im Garten blitzt und blinkt, baumelt und dreht es sich allenthalben, indem die frisch lackierten oder gefirnißten Instrumente, groß und klein, Violas oder Bratschen, Cellos, Contrabässe von verschiedener Größe, Guitarren und Zithern in Sonne und frischer Luft getrocknet werden, wo sie, an Bindfaden hängend, ihren lustigen Tanz beginnen, dem ihr ganzes Dasein geweiht sein soll.

Die Instrumente, welche die Geigenmacher das Jahr über verfertigen, verkaufen sie an die Verleger oder bringen sie selbst in den Handel. Im letzteren Falle füllen sie ihre Kraxen oder Butten mit so viel Instrumenten, als da hineingehen mögen, und hausieren im Lande herum. Die Butte trägt an der Rückseite das Bild einer Geige, des Namenspatrons oder eines andern Schutzheiligen. Viele haben sich auch in größeren Städten als Geigenmacher niedergelassen. Die meisten dieser Hausierer sind fröhliche Bursche, die ihr Instrument nicht nur zu fertigen, sondern oft auch meisterlich zu spielen verstehen, und was die Kunst oft nicht zustande bringt, ein gutes Geschäft, das bewirkt nicht selten ihr natürlicher Witz und ihr munteres Wesen.

Ein solch hausierender Geigenmacher war auch der 19 Lautenspieler Jakl, der Sohn des Lautenmachers Blasi, eines der renommiertesten Meister, der sich, wie die längst ausgestorbenen Klotz, »Lautenmacher« nannte. Er zeichnete sich durch die Konstruktion einer eigentümlichen Gattung von Instrumenten, der sogenannten Laute, einer Art Mandoline, aus, welche er meisterlich spielte, deren Spiel er auch den Sohn lehrte und der deshalb den Namen »Lautenspieler« erhielt.

Jakl führte nach dem Tode seines Vaters das Geschäft fort, bald aber gefiel ihm die Thätigkeit in der Werkstatt nicht mehr, er griff zum Wanderstabe, nahm die Butte auf den Rücken und erzielte damit sowohl für die Instrumente, die er selbst verfertigte, wie für jene, welche ihm mehrere andere Meister zum Verkaufe überließen, einen weit höheren Preis, als die Verleger dafür bezahlen konnten. Auf diese Weise stand er auch in Geschäftsverbindung mit Liesls Vater, dem Geigenmacher Schändl. Schändls und des Lautenmachers Häuser grenzten aneinander. Die beiderseitigen Nachbarskinder lernten sich schätzen und lieben, und Jakl versprach dem Mädchen, es zu heiraten, sobald er sich durch seine Handelschaft eine entsprechende Barschaft erübrigt habe, so sehr dies auch gegen den Willen der beiderseitigen Mütter war, die sich seit ihrer Jugend anfeindeten und sich behutsam aus dem Wege gingen.

Die Ursache dieser jahrelangen Feindschaft war eine dramatische Vorstellung gewesen. In Mittenwald fand nämlich die Darstellung der heiligen Passion schon seit unvordenklichen Zeiten und früher als zu Oberammergau statt. Alljährlich am Karfreitag wurde das heilige Drama aufgeführt, und es galt als ein verdienstliches Werk, dabei mitzuwirken. Bei einer solchen Gelegenheit kamen Lisls 20 und Jakls Mutter, beide damals noch unverheiratet, wegen der Rolle der Claudia, der Gemahlin des Pilatus, in großen Streit, jede wollte die Claudia spielen; die eine, ein schwarzbraunes Mädel mit reichem schwarzem Haarschmuck und dunklen Augen, erhielt gegen ihre Rivalin, eine schlanke Blondine, den Vorzug, letztere fühlte sich dadurch tief gekränkt und entwarf gegen die Siegerin einen seltsamen Racheplan. Sie tunkte ihre Hände in Dachsfett, das bekanntlich die Haare grau färbt, um damit die Gegnerin unversehens zu überfallen, ihre Haare mit dem schädlichen Fett einzusalben und sie zur Uebernahme der Rolle untauglich zu machen. Aber das Attentat mißlang, die Bedrohte wurde gewarnt und konnte den Angriff parieren; jedoch gelang es der Attentäterin, einen kleinen Teil der Stirnhaare ihrer Feindin mit dem Fette zu berühren, diese ergrauten, und Liesls Mutter hatte zeitlebens ein Denkzeichen an die Mißgunst ihrer Rivalin.Die Passion wurde noch in den Zwanzigerjahren dieses Jahrhunderts nicht an einem festen Orte gespielt, sondern zog durch die Straßen des Marktes. Die Sprache war einfach, schlicht und edel, wie sie dem Charakter der Passion und dem Stand der Bildung der in dem Drama auftretenden Personen entsprach. Ein späterer Versuch, das Passionsspiel, wie in Ammergau, in geschlossenem Raum abzuhalten, war von keinem Bestand, weil die Sache gegen die frühere, natürliche Darstellung zu künstlich gemacht war.

Es war daher ganz natürlich, daß die wegen ihrer dunklen Gesichtsfarbe sogenannte »schwarze Liesl« ebenfalls eine eifrige Darstellerin wurde; herrscht ja in Mittenwald noch heutzutage eine ganz besondere Vorliebe für das Komödienspiel. Die Akteurs sind lauter Leute aus dem Volk. Es giebt Familien, bei denen die natürliche Anlage zur Mimik sich erblich fortpflanzt, sie kennen kein 21 größeres Vergnügen, als sich ihren Mitbürgern auf den Brettern als Helden zu zeigen, durch ihr Spiel zu fesseln und zur Belehrung und Bildung auf diese Weise beizutragen; Gelegenheit hiezu giebt es zu jeder Jahreszeit, im Winter in der großen Stube eines Wirtshauses, im Sommer unter freiem Himmel.

So unterhielten sich auch heute die Bewohner des Marktes in den Wirtsschenken und auf den Gredbänken vor den Häusern nur von dem großen Drama »Hirlanda« und lobten wiederholt die schöne Darstellerin, während diese selbst traurig und allein vor ihrem Hause saß und erwartungsvoll nach der Richtung blickte, von welcher der Ersehnte kommen mußte, wenn er sein Versprechen zur That machte.

Jakls letzter Brief war vor ungefähr drei Monaten aus einem welschen Städtchen in die Heimat gelangt, er war an seine Mutter gerichtet und enthielt nur wenige Zeilen, die besagten, daß er am Jakobitag heimkommen und alles ordnen wolle und daß er hoffe, die Verzeihung seiner Mutter und Liesls zu erlangen.

Dieser Brief hatte nichts Auffälliges für das Mädchen; der Geliebte verlangte Verzeihung für sein langes Ausbleiben, er konnte vielleicht nicht anders, er mußte die Reise weiter ausdehnen, das Geschäft verlangte dies, und zu Jakobi sollte sich ja alles aufklären. Sie zählte die Tage und Stunden, und jetzt war der Tag fast zu Ende und Jakl erschien noch immer nicht.

Wieder stieg eine düstere Ahnung in Liesls Innerem auf.

»Er wird do' nit g'storb'n sei'?« fragte sie sich plötzlich. »Oder is er mir untreu worn? Is er auf Abweg g'rat'n? Er war doch sonst so brav und ehrli, so treu und zärtli und is seiner Muatta alleweil a guata Suhn g'wesen. Ihr – mir z' liab wird er's blieb'n sein!«

Da legte sich eine Hand auf Liesls Schulter, und das Mädchen war nicht wenig überrascht, die Blasin, Jakls Mutter, neben sich sitzen zu sehen. Es war das erste Mal, daß die Nachbarin auf der Gredbank des Schändlhauses Platz nahm, wenigstens so lange Liesl dachte.

»Liesl,« sagte die schon alternde, mit rotem Kopftuch, Mieder, braunem Rock und blauer Schürze bekleidete Frau, »i kann's nimmer übers Herz bringa, i muaß dir guat sein, du hast heunt die Hirlanda g'spielt, grad so wia r i vor dreißig Jahr, und an dem Tag hat si mei' G'schick 23 erfüllt. Grad so wie du bin i auf der Gredbank g'sessen nach 'n G'spiel und hab' ausg'rast von dem Jubel. Da is der Blasi kemma und hat mir auf seiner Lauten was vorg'spielt und aa dazua g'sunga, so viel schö', gar so viel schö'! Und ehvor no' sei' G'spiel aus war, hat er mir's Herz abg'wunna und i bin sei' blieb'n bis zum Grab, bin sei' aa übers Grab außi. Heunt, wia r i di spiel'n g'sehgn hab', is mir d' Erinnerung so frisch kemma, daß i hellauf flenna hon müass'n vor Freud, vor Leid. Gieb ma d' Hand, liab's Deandl, du hast mein' Buam gern, i woaß 's; ös habt's enk z'amg'red't, daß 's a Paar werd'ts, i will von heunt an nix mehr dageg'n hab'n, mir is's recht; und d' Feindschaft mit deina Muatta, die soll aa z' End sei'; lang gnua hat's dauert.«

»Vergelt's Gott, Frau Nachbarin!« erwiderte Liesl erfreut. »Du bringst mir ja da glei a doppelte Freud, d' Einwilligung giebst zu unsern Verspruch – und aussöhna willst di mit der Muatta! So geht ja heunt nix mehr ab zum Glück, als daß der Jakl z'ruckkimmt.«

»Der kimmt scho' no' heunt,« entgegnete seine Mutter bestimmt, »er hat mir's ja g'schrieb'n; Zeit is 's! No' niermals is er so lang auswärts blieb'n, und daß eam ebbs passiert is, dessel hat mein Muattaherz scho' längst gschwant. (geahnt). Moanst denn, sunst hätt' er nit wie sunst die Gelder g'schickt? Mei', i hon so viel Sorg', daß er am End nix hoambringt. I wüßt nit, was anfanga! I müaßt 's Häusl verkaufa und betteln gehn, denn i bin schuld, daß eam d' Moasta die Instrumenten nachig'schickt hab'n, i bin verantwortli' dafür und i muaß Zahlung leisten, dös verlangt mei' ehrlicha Nam'.«

24 »Wenn er nur g'sund z'ruckkimmt, dös is ja d' Hauptsach',« meinte Liesl, »alles andere wird si scho' richten.«

»Gott geb's!« seufzte die Frau besorgt. »I bin zu nimmer viel nutz, die Gicht steckt mir in die Füaß; dös Steh'n heunt bei der Komödie hat mi so müad g'macht, daß i kaum mehr an' Fuaß heb'n kann, und die alt' Nandl is aa nimmer viel z' brauchen. Es wär' scho' hart für mi, wenn i no' im Alter d' Not und 's Elend kenna lerna muaßt.«

»Bin denn i nit da?« rief Liesl ermutigend.

Die Nachbarin drückte dem Mädchen gerührt die Hand.

Da kam ein ärmlich gekleidetes Weib die Gasse herab, und nachdem sie sich mit einer Frage an einen Vorübergehenden gewandt, schlug sie die gerade Richtung zum Hause der Blasin ein und wollte soeben in dasselbe eintreten, als sie Liesl bemerkte.

»Aber bin i jetzt erschrocken!« rief diese; »und is bloß a Bettelweib –«

Die Nachbarin folgte Liesls Blick und rief der Bettlerin zu: »'s is neamd dahoam! Kimm her zu mir, du kriegst scho' ebb's!«

»Ich will zur Frau Blasin,« antwortete das Weib.

»Die bin i!« rief erstere ihr zu.

»Gottlob!« sagte die Fremde und näherte sich den beiden auf der Gredbank sitzenden Frauen.

Es war ein noch junges, schlankes Weib von mehr als mittlerer Größe in ärmlichen, ausgewaschenen, lichten Kleidern, dessen Gesicht viel Aehnlichkeit mit demjenigen der schwarzen Liesl hatte; üppige, schwarze Haare, die aufgelöst über die Schultern hinabhingen, dunkle, große Augen, eine dunkle Gesichtsfarbe und regelmäßige, schöne Züge 25 waren auch dem jungen Weibe eigen. Auf dem Rücken trug die Fremde ein kleines Päckchen und um die Schulter hatte sie in einem alten ledernen Futteral eine Mandoline hängen.

»Iatz erschreck i aa schier!« rief die Blasin, als sie dem Weib ins Gesicht geschaut hatte; »dös is ja die reinst Doppelganglerin von dir, Lisl; nur größer is's, und so blaß – und –«

Sie konnte nicht vollenden. Die Fremde hatte einen Zettel hervorgezogen, und nachdem ihr Auge mit einem langen, prüfenden Blick auf dem Gesichte der alten Frau gehaftet, sagte sie:

»Da – der Zettel für Sie!«

»Für mi? Von wem?«

»Ein Mann mir gegeben,« erklärte die Fremde in gebrochenem Deutsch. »Aber ich bitt – ich fühlen mich sehr krank – müd –«

Die Frau wankte, Liesl kam ihr sofort zu Hilfe, hieß sie, sich auf der Bank ausruhen und sagte, sie wollte ihr zu essen und zu trinken bringen.

»Ach, gutes Mädchen,« bat die Fremde, »ein wenig Milch!«

»So kimm nur glei in d' Stub'n eina,« forderte Liesl sie auf, »du sollst krieg'n, was wir hab'n.«

Ohne viel Umstände nahm sie die Kranke am Arm und führte sie ins Haus hinein und in die Küche. Die Mutter hatte soeben das Nachtessen fertig und teilte der Fremden gerne davon mit.

Sie war nicht wenig überrascht, als die Tochter ihr erzählte, wer auf der Gredbank sitze und wie die Nachbarin, gerührt durch Liesls Spiel, sich mit ihr versöhnen wolle.

26 Frau Schändl war von dieser Nachricht ebenso freudig betroffen, wie es ihre Tochter gewesen, sie nahm sich jedoch nicht Zeit, zur Thür hinauszugehen, sondern rief der Nachbarin durchs offene Fenster der Wohnstube ein »Grüaß di Gott, Claudia!« hinaus; sie reichte ihr auf gleiche Weise die Hand, welche die Blasin mit Thränen in den Augen erfaßte.

»Woaßt,« sagte die Schändlin, »dös graue Dachsfettfleckl is jetzt nimmer auffälli, weil mei' ganzer Kopf scho' grau is, und d' Eifersucht auf a guate Komödieroll'n plagt uns alle zwoa nimmer, so is's aa nit mehr als billi, daß ma die Feindschaft aufhör'n lassen und daß ma' die paar Jahrln, die uns unser Herrgott schenkt, in Frieden und Freundschaft hinbringen und guate Nachbarschaft halt'n.«

»Grad a so soll's sei'!« erwiderte die Blasin. »Unsa Feindschaft soll aufhör'n, aber d' Liab von unsre Kinder soll an' festen B'stand hab'n; sobald der Jakl hoamkimmt, soll'n sie si heirat'n und glückli sei'. Aber schick mir d' Liesl außa, i kann den Zettl da nit lesen; es is scho' dämmeri und meine Aug'n san nix mehr nutz.«

Liesl hatte inzwischen der armen Frau Speise und Trank gegeben und eilte nun auf das Geheiß der in die Kuchel zurückkehrenden Mutter sofort zur Nachbarin hinaus. Ihre guten, hellen Augen erkannten augenblicklich die Schriftzüge des Geliebten.

»Gottlob,« rief sie, »der Zettel kimmt vom Jakl!«

»Vom Jakl?« fragte die Blasin. »Warum schreibt er? Warum kimmt er nit selm? Was steht in dem Zettel?«

Liesl hatte das Blatt durchflogen, sie erschrak sichtlich und ihre Stimme zitterte, als sie jetzt mit gedämpftem Tone dessen Inhalt der Nachbarin vorlas. Er lautete. 27

»Liebe Mutter!

Ich bin im größten Elend in der Heimat angekommen und getraue mir in dem verlumpten Anzug nicht einmal zur Nachtzeit in den Markt hinab, denn wenn mich jemand sähe, wäre es um meinen Kredit geschehen. Bring mir eine Joppe, einen Hut und ein Paar Schuhe zum Höllkapellein herauf, wo ich mich verborgen halte. Die arme Frau, welche dir dieses Briefl bringt, mußt du gut beherbergen bei uns, ohne sie wäre ich auf der Landstraße liegen geblieben und zu Grund gegangen. Thu ihr alle Ehre an. Sag keinem Menschen etwas davon, daß ich komme, nicht einmal die Liesl darf es erfahren. Ich will nicht, daß man meine Ankunft schon heut erfahrt. Also komm und bringe die Sachen. Es grüßt dich dein dankbarer Sohn Jakob.«

Die alte Blasin zitterte bei dieser schlimmen Nachricht am ganzen Leibe. Nicht das Mutterherz, sondern der Geschäftssinn gewann im ersten Momente die Oberherrschaft über sie, und so sagte sie erzürnt:

»Also kimmt er als Lump hoam, als a verschuldta – is alles hin, was i zahlt hab' für eam, hat er mi zur Bettlerin g'macht! O, dös wenn mei' Blasi wüßt, der kehret si no' im Grab um über so an' ehrvergessna Suhn! Wär' er liaba ausblieb'n! Was thua i denn mit dem Lumpen? I trag eam nix entgeg'n – dös gaang ma grad aa no' ab! D' Mittenwalder soll'ns nur sehgn, daß 's a Lump is, die ganz Welt wird's ja eh bald inna wern!«

»Aber Blasin!« fiel ihr Liesl in die Rede; »wie magst denn aufs Unglück schänden? Dös kann jeden Menschen treffen, uns so guat wie 'n Jakl. Grad im Unglück muaß man 'n Menschen nit verlassen, muaß ma eam helfen. Zu 28 was wär denn d' Liab auf der Welt? Freili bringst eam dös Gwandta; er hat ganz recht, daß er nit verlumpt hoam kemma mag; d' Leut san gar bös und der Kredit is glei weg.«

»Der is freili weg, wenn er nix als Schulden hoambringt,« versetzte die Alte unwirsch. »Mein Gott, wie wird dös wern?«

»Dös überlaßt's guatding unsan Herrgott, alles kann si no' zum Guaten schicken. Der Jakl is ja no' jung und kann arbeiten, er versteht sei' G'schäft und dahoam wird eam 's Glück wieda lacha.«

»So? Schaamest du di nit, so an' runterkommena Menschen no' z' heiraten?«

»Na', i schaamet mi nit. Weg'n sein' schlechten Gwandta? Zu was giebt's denn Schneider, als daß 's neue Kleider machen? Und weil eam 's G'schäft schlecht ganga, weil er um sei' Geld kemma is? Ja no', da müassen ma halt aa erst hör'n, wie dös kemma is; 's kann eam ja g'stohl'n worn sei', oder er is krank gwen, oder –«

»Oder er hat's vertrunka und verspielt,« ergänzte die Alte.

»Und nacha is's aa no' nit aus in alle Ewigkeit; nacha ziagn ma 'n uns halt wieder, du als Muatta, i als sei' Frau. Wir bringen 'n scho' wieder auf 'n rechten Weg. Ge zua, Muatterl, wirst jetzt am Jakl sein' Tag heunt so wüast sei'! Es is dir ja nit ernst, du stellst di nur so zwegn meiner. Hoaß'n willkomma, dein Suhn, und gwiß wird alles wieder recht wern!«

Der Alten Augen füllten sich jetzt mit Thränen, der herzliche Ton des Mädchens hatte die Schleusen geöffnet.

»Aber i bin nit im stand, bis aufs Höllkapellein auffi 29 z' geh'n, mir liegt's bleischwaar in die Glieder,« sagte die Alte. »Wenn i aa möcht, i kaannt nit.«

»So schick ma 's eam durch ebban andern auffi,« schlug das Mädchen vor.

»Aber hast's denn nit g'lesen, daß gar neamd was davon erfahr'n soll?« fiel die Alte ins Wort. »Ja, ja, er hat recht! Der Blasrjakl soll nit verlumpt im Mittenwalder Markt einziagn! Woaßt was, Liesl, geh du mit mir, alloa kann i's nit damache; du laßt mi scho' einhänga in dein' Arm. Wie moanst?«

»Recht gern geh i mit dir,« antwortete Liesl erfreut; »i muaß ja dafür sorg'n, daß ma mein' Hochzeiter nit z' hart thuat.« Und zögernd und sinnend setzte sie hinzu: »Aber neamd soll's erfahrn, daß –«

»So sag deiner Muatta, i hätt' an' Gang z' macha und hon di bitt', daß d' mit mir gehst, so hast nit g'log'n. Was dös Bettelwei anlangt, so schau, ob's d' Nacht über nit bei enk a Liegerstatt hab'n könnt, denn wenn's 'n Jakl in der Not beig'standen is, dös arm Leut, und is selber voll Elend, so is's nit mehr als billi, daß ma 's guat halt'n. Da, da, gieb ihr von mir dös Geld und morg'n kann's bei mir was z'essen hab'n. Oes seid's ja eh auf der Wiesmad. I geh jetzt und richt 's Gwanta zam für 'n Jakl aus sein' Kasten, und du hol mi ab. Wir genga glei hintnaus zum Garten, daß neamd ebbs spannt.«

Die Frau entfernte sich hierauf in ihr Haus. Liesl teilte ihrer Mutter den Auftrag der Nachbarin mit und bat sie, die Fremde in ihrem Hause übernachten zu lassen.

Dies wollte der Hausfrau zwar nicht passen, indessen konnte sie sich, wohl durch die auffallende Aehnlichkeit der Armen mit Liesl bestimmt, einer gewissen Teilnahme für 30 die Frau nicht erwehren und gestattete derselben, auf der Ofenbank, die sie mit Decken belegen wollte, zu übernachten.

Die Fremde saß eben auf dieser Bank, als Liesl zu ihr trat; sie reichte ihr die Gabe der Blasin hin, indem sie sagte:

»Dös soll i dir geb'n von der Blasin für dös Briefl und weil's d' ihrem Sohn beig'standen bist; morg'n kriegst scho' mehr.«

»Von Frau Blasin?« fragte die Fremde, das Geldstück stolz zurückweisend. »Ich nehme kein Almosen von Blasin. Wird sie thun, was ihr Sohn verlangt?«

»Bst!« machte Liesl, sich umschauend; »koa' Mensch därf's ja wissen. Verrat nix, aa meina Muatta nit! Morg'n wird dir d' Blasin scho' anders danken, heunt is koa' Zeit mehr.«

»Kann ich nicht wohnen bei Blasin?« fragte die Fremde.

»Heunt nit,« antwortete Liesl. »Es geht dir bei uns an nix ab; morg'n muaßt eh zu ihr, weil wir 's Haus abschließen und auf d' Wiesmad geh'n. Wenn's d' g'sund wärst, könntest mitgeh'n in d' Arnt (Ernte); wir braucheten so Leut', und für di waar's drauß aa g'sund in der frischen, würzigen Luft.«

»Auf Ernte?« fragte die Fremde. »Ja, da will ich mitgehen, wenn ich morgen gesund bin.«

»Und wenn's d' es nit bist, so wirst es auf der Wiesmad, da wird's dir g'fall'n, da wirst rote Back'n krieg'n.«

»Du bist so gut mit mir, und weißt nicht, wer ich bin,« sagte die Fremde.

»Geht mi aa nix an!« erwiderte Liesl. »Du brauchst a Hilf, und es is Christenpflicht, 'n Nächsten z' helfen, so 31 guat, als ma kann, zudem hast Anspruch auf unsern Dank, denn die Botschaft, die 's d' uns bracht hast, hat nit nur d' Blasin, sondern aa mi aus großer Sorg' g'rissen. Wir wern dir's vergelten.«

»Bist du verwandt zu Lautenspieler?« fragte jetzt die Fremde, Liesl mit fast erschrockenem Blick betrachtend.

»Verwandt nit,« erwiderte diese, »aber bekannt – recht guat bekannt. Und so laß dir's g'fall'n bei uns; brauchst was, so ruaf nur nach der Muatta, sie hampert in der Kuchl rum, weil's allerhand z'amricht für d' Wochen über, daß uns drauß nix abgeht. Und so b'hüat di!«

Freundlich grüßend verließ sie dann, ein leichtes Tuch über den Arm nehmend, die Stube, um die Nachbarin abzuholen, welche ihrer harrte.

Es begann bereits zu dunkeln. Schweigend schlichen die beiden durch den Garten und eilten, so rasch es anging, auf dem Leutascher Fußsteige dem Höllkapellein zu. Hatten sie auch ein solches Wiedersehen nicht erwartet, das Mutterherz, das Herz der Geliebten pochten doch freudig bei dem Bewußtsein, daß er endlich wiedergekehrt, der Langersehnte.

Die welsche, arme Frau aber blickte sinnend hinaus zum Fenster, durch welches ihr mit hundert schwarzen Augen die Dunkelheit der Nacht entgegenstarrte; ein Fieberschauer rüttelte ihre schöne Gestalt, sie wischte sich den kalten Schweiß von der Stirne und seufzend, sich selbst bemitleidend, klang es von ihren Lippen: »Arme Marietta!« 32


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