Maximilian Schmidt
Der Bubenrichter von Mittenwald
Maximilian Schmidt

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III.

Die etwa eine halbe Stunde vom Markte Mittenwald entfernte Kapelle des heiligen Jakob wird vom Volke wegen ihrer wildromantischen Lage das Höllkapellein genannt, und in den Nöten des Lebens wallt mancher dorthin. Ein schmaler Bergpfad führt durch das steil abfallende Gelände des Burgbergs zu der Kapelle, sie liegt auf einer Terrasse des Berges, an welchem auf der einen Seite die dunklen Schlünde der Leutaschklamm gähnen, während an der andern der Berg fast senkrecht emporsteigt. Das Plateau, auf dem die Kapelle steht, ist mit dunklen Tannen und Fichten bewachsen, und diese Waldeinsamkeit erregt mit ihren Schauern mächtig das Gemüt. Das aus Holz geschnitzte, auf dem Altar stehende Bild des Apostels Jakobus in Pilgertracht und einige andere Heiligenfiguren sind die einzige Zierde der kleinen Kapelle. Man vernimmt hier nichts als das Rauschen der Tannen und das dumpfe Getöse, womit sich die brandenden Wellen an den Felsenwänden der Klamm brechen.

In den Sturmjahren von 1805 und 1809 hat mancher Kriegsmann, getroffen von den Kugeln der Tiroler, hier seine Seele ausgehaucht. Gar vielerlei Erinnerungen knüpfen sich an diese einsame Kapelle. Sie ist aber auch ein Ort des Schreckens, denn in ihrer Nähe haust der Sage nach der Klamm- oder Burgberggeist in den schauerlichen Schlünden, in welchen sich die Leutasch durch hartes 33 Gestein ein Bett gegraben, das unzugänglich und wohl einige hundert Fuß tief in einer Länge von etwa zweihundert Metern sich hinzieht und deren Anfang ein hoher, wild tosender Wasserfall bildet.Die Leutaschklamm ist seit 1880 durch den Instrumentenverleger Mathias Neuner jun. zugänglich gemacht. Hinter dem Höllkapellein fällt der Burgberg wieder senkrecht abwärts in die Abgründe der Klamm, an deren Rand ein schmaler Steig, kaum einen Fuß breit, in die untere Leutasch führt.

Von diesem Steig hat der Klammgeist schon manchen Wanderer zu sich hinab in das feuchte Grab seiner Gewässer gerissen. Es vergeht kaum ein Jahr, in dem er nicht sein Opfer holt; man sieht ihn manchmal auf einer Felsenplatte stehen, oder er schwingt sich in ungeheurem Bogen herab auf die nahen Wiesen, da schüttelt er sich und sprüht wie eine Feueresse, daß der Boden glüht. Die Funken, die er zur Erde sendet, sind eitel Gold, denn er ist der Herr unendlicher Schätze, die er in den Klüften der Klamm verborgen hält. Sucht man an der Stelle nach, wo er gesehen worden, so findet man den Boden verbrannt, das Gold aber, das er zurückgelassen, ist auf einmal verwandelt in taube Schlacken, die in Asche zerfallen, wenn man sie aufheben will.

In neuerer Zeit hat man vor dem Klammgeist weniger Furcht, man hält ihn in die wildschauerliche Klamm gebannt durch das am Ausgange derselben an einer Felsenwand angebrachte Kruzifix, gleichwohl meidet man bei Nachtzeit den Weg am Höllkapellein vorüber; nur die Pascher wählen ihn gern, da sich hier die Grenze zwischen Bayern und Tirol hinzieht. Obwohl diese Grenze diesseits und jenseits scharf bewacht wird, damit kein zollbares 34 Gut auf verbotenem Weg eingeschwärzt werde, reizt der Gewinn das abenteuerlustige Volk auf beiden Seiten zu den waghalsigsten Unternehmungen. Ganze Trupps Tiroler kommen nächtlicherweile auf heimlichen Steigen über die Bergjoche, um in Mittenwald Tabak, leonische Silber- und Goldwaren in ihre großen Weidsäcke zu verpacken und über die Berge zu schleppen, während andererseits die Mittenwalder in die Scharnitz und Leutasch schleichen, um Produkte des Südens in Bayern einzuschwärzen, bei welch gefährlichem Handel es an abenteuerlichen Ereignissen nicht mangelt.

Die kranke, fremde Frau, welche Jakls Briefchen brachte, ward von der Blasin und Liesl für nichts anderes als eine zu einer Paschergesellschaft gehörige Person angesehen, weshalb man sie weder um Heimat noch Namen fragte. Das Fragen ist überhaupt in den Grenzorten nicht üblich, man begnügt sich mit dem, was der andere gern über sich sagt, und möchte oft lieber auch das nicht wissen.

Trotzdem stand dieses Weib fortwährend vor Liesls geistigem Auge, und sie begann auch, nachdem sie den Markt im Rücken hatte, das Gespräch auf sie zu bringen.

»I woaß nit, was 's is, daß mir dös Weib nimmer aus 'n Sinn will, 's is mir grad, als hätt's mir ebb's gnumma – ebb's von mein' Glück – und sie hat mir doch a Freud' bracht, a guate Botschaft.«

»Möcht dei' Ahnung nix bedeuten,« entgegnete die alte Blasin. »I halt's für a Pascherin oder a Grottenzieherin.«

Unter »Grottenzieher« versteht man einen Mann oder ein Weib, die, vor einen Karren gespannt, aus Tirol kommen, um in Bayern allerlei Waren zum Kleinhandel 35 einzukaufen; es sind wahre Nomaden, die in ihren »Grotten« gewöhnlich die ganze Familie und die Kinder mit sich schleppen, wovon die kleineren im Grotten verpackt sind, die größeren den Eltern als Vorspann dienen müssen; manchmal ist auch noch ein Eselein an den Karren gespannt.

»Bei dene Leut kimmt's scho' oft vor, daß eam ebb's abgeht, wenn's wieder furt san,« fuhr die Blasin fort;»und alleweil is 's besser, du hast d' Schlüssel im Sack als am Kasten stecken.«

»So was fürcht i nit,« sagte Liesl; »ihra G'schau is ehrli und sie hat an' Stolz. Für den Deanst, den 's 'n Jakl g'leist't hat, hat's koa' Geld gnumma, und sie siehgt wahrli nit darnach aus, als brauchet's koans.«

»No', wir wern's ja bald hör'n, was dös für a Deanst war,« meinte die Alte. »Geb nur Gott, daß 's uns nix von der bösen Kranket mitbracht hat, die derzeit im untern Tirol regieren soll! Wern ja dengerscht wir davor verschont bleib'n!«

»Du moanst die Ruhr – d' Cholera? O, die traut si nit eine in unsere g'sunden, schönen Berg!« entgegnete die Liesl.

»Gottlob, daß der Mond auffakimmt über 'n Karwendel; jetzt siehgt ma dengerscht wieder 'n Steig,« meinte die Blasin.

Die Sichel des Mondes war über das Gebirge heraufgestiegen, und sein Licht gleißte vom Felsen des Wetterschroffen wider. Vom Markte herauf hörte man den fröhlichen Gesang der jungen Burschen.

»Hörst es singa, d' Komödiespieler?« fragte die Alte. »Der Kargenjörgl hat heunt a guats G'schäft g'macht mit 36 deiner Hirlanda, jetzt halt er d' Spieler zechfrei im Postgarten. Der Jakl is sunst aa dabei gwen. No', hoff ma', daß er wieder mitspielt, wenn nach der Wiesmad d' »Isarnixe« geb'n wird, die 's du no' viel besser machst wie d' Hirlanda. Und woaßt was? An den seln Tag soll enka Verlobungsfest sei', der Jakl muaß wieder dein Ritter machen wie vor etli Jahr, und wenn's d' mit eam in der Isar versunken bist, sollt's als richtigs Brautpaar wieder aufersteh'n, und grad lusti woll'n ma nacha sei' im Postgarten; i g'freu mi scho' heunt drauf.«

Lisl hörte schweigend zu, als die Alte noch weiter ihre Träume für die nächste Zukunft ausspann. Je gesprächiger und aufgeregter diese wurde, je näher sie dem Höllkapellein kamen, desto bedrückender ward es Liesl in ihrem Herzen, und dies um so mehr, als sie in den Wald eingetreten waren, dessen hohe Fichten und Tannen dem Mondlichte, das nur auf den Gipfeln derselben flirrte, keinen Eintritt gewährten, so daß die tiefste Dunkelheit ringsum herrschte.

Auch die Alte schwieg jetzt. Sie waren endlich auf dem Plateau angelangt. Mächtig und unheimlich brauste der Wasserfall in der nahen Leutaschklamm.

Erwartungsvoll näherten sich die beiden Frauen dem Kapellein, und es ward ihnen unheimlich zu Mute, da sie den Ersehnten nicht sofort fanden.

»Schrei nach eam,« sagte Liesl leise zu der Mutter ihres Geliebten; »er woaß sunst nit, wer wir san.«

Die Alte rief jetzt nach ihrem Sohn, und da ihr keine Antwort ward, ein zweites- und drittesmal; aber nichts war hörbar, als das Tosen der Wasser aus der Klamm.

Die beiden Frauen hielten krampfhaft die Hände in 37 einander verschlungen und lauschten eine Weile, ihre Herzen pochten mächtig; Jakl nicht hier, und die Frauen allein an dieser zur Nachtzeit so verrufenen und verhängnisvollen Stelle!

Aengstlich rief die Alte nochmals nach dem Sohne; da war es ihr, als hörte sie unter einer der nächststehenden Tannen eine leise Stimme. Beide erschraken erst heftig, dann aber faßte sich Liesl und eilte zu dem nahen Baum, unter welchem sie nicht unschwer einen Mann am Boden liegend erkannte.

»Jakl, dei' Muatta is da!« rief sie dem Liegenden zu.

»Marietta, bist es du?« hastete der Mann hervor, wie es schien, soeben aus bösen Träumen aufgeschreckt. In 38 diesem Augenblick stieg der Mond so hoch, daß er die Kapelle und ihre Umgebung beleuchten konnte, und Liesl vermochte nun den Jugendfreund zu erkennen.

Dieser aber, durch des Mädchens herabwallende Haare getäuscht, glaubte die Frau vor sich zu sehen, welche seinen Auftrag an die Mutter zu besorgen hatte.

»Kimmt d' Muatta nit? Was bringst für a Botschaft?« Er hatte sich bei diesen Fragen erhoben.

»Jakl,« rief ihm jetzt seine herbeigeeilte Mutter zu, »da is dei' Muatta! Grüaß di Gott, mei' Bua!«

Mit einem freudigen Ausruf stürzte der Sohn in die Arme seiner Mutter.

»Gel, bist mir bös?« fragte der etwa dreißig Jahre alte, mittelgroße Mann. Man sah beim Mondlicht sein langes Haar, seinen dichten Vollbart, beide von dunkler Farbe, und sein blasses, müdes Gesicht. Man ersah aus dem unbeschreiblichen Zustande seiner Kleider, aus seinen bloßen Füßen die Armut, das Elend, das ihn bedrückte. Die wenigen Worte, die er sprach, kamen heiser, krankhaft hervor.

»Bös sein?« erwiderte die Mutter schluchzend. »Wie kaannt i dir – in dem Zustand – no' bös aa sei?«

»So dank i dir's tausendmal,« sagte der Sohn gerührt. »Und mit ihr kimmst?« fuhr er, auf Liesl blickend, weiter. »Du woaßt es am End? Du hast dein' Seg'n geb'n?«

»Ja, dös hon i,« antwortete die Mutter. »Als G'schenk zu dein' Namenstag gieb i dir dei' treu's Deandl. Dank's 'n heilin Jakobi da. No', Liesl, gieb eam d' Hand, dein' Hochzeiter, oder hab'n di dengerscht dö verlumpten Kloadn abg'schreckt?«

39 »D' Liesl?« fragte der Bursche erschrocken und starrte nach dem Mädchen. Jetzt erst erkannte er es; bisher glaubte er Marietta vor sich zu haben.

»Jakl!« rief jetzt Liesl; »gel, du woaßt, daß 's ma' nur um dei' Herz, um dei' Liab z' thuan is? Grüaß di Gott, mei' Bua, von heunt an mei' Hochzeiter!«

Sie schlang bei diesen Worten ihre Arme um Jakls Hals und küßte ihn auf Stirn und Mund. In ihrer Freude fühlte sie nicht, wie der Mann sich von einem gewissen Schrecken noch gar nicht erholt hatte und in keiner Weise des Mädchens Liebkosungen erwiderte.

Jetzt aber raffte er sich auf, und mit zwar zitternder, aber doch entschiedener Stimme sagte er:

»Muatta und Liesl, da muaß i enk ge glei ebbs erzähl'n, daß enk der g'freudige Grüaßgott reu'n wird –«

»Nix sollst erzähl'n!« rief die Mutter. »Dort beim Höllkapellein lieg'n die Kleider, die ziehgst an und die verlumpten wickelst wieder eini ins Tuach; dann geh'n ma awi in 'n Markt, und wenn's d' ausg'rast't hast – morg'n, nacha erzählst mir alles. Morg'n kann i di aa wieder rechtsam schimpfen, heunt is's ma nit mehr mögli und g'schimpft wirst, gel, Liesl?«

»Es wird nit gar z' streng wern,« meinte das Mädchen; »leider Gottes kann i nit dabei sein, wir genga scho' z' frühest auf d' Wiesmad; aber was's aa is, gel, Muatterl, du verzeihst eam alles, gar alles!«

»D' Muatta vielleicht scho',« sagte Jakl zögernd, »aber du, Liesl – du – du verzeihst mir's nit.«

»So laß ma's halt drauf ankemma!« erwiderte Liesl lachend.

40 Jakl eilte jetzt zur Kapelle, um die Schuhe anzuziehen und Joppe und Hut umzutauschen.

Die Alte hatte sich an den Stamm der Tanne gelehnt und ihren Arm um des Mädchens Nacken geschlungen.

»Du hast recht,« sagte die Frau leise zu Liesl, »i werd eams nit z' hoaß kocha; koa' Fäserl Zorn is mehr in mir, i könnt' nur grad woana, a so dabarmt er mi.«

»Gieb eam koa' bös's Wort; was rum is, is rum,« bat Liesl.

»So, i bin g'richt't,« sagte Jakl, herankommend, den Bund Kleider in der Hand und über der Schulter einen Sack mit seiner Laute tragend. In der andern Hand trug er einen gebogenen Stock.

»'s is mir völli frischer z' Muat,« fuhr er fort, »daß i die Lumpen vom Leib hon und d' Füaß in feste Schuah stecken. O, Muatta, d' Armut thuat weh, i hon's kenna g'lernt an mir und – sag' mir, hast der Frau an' Unterstand geb'n für d' Nacht?«

»Die is guat aufg'hob'n in unsern Haus,« antwortete Liesl statt der Alten.

»Woaßt, wer die Frau is?« fragte Jakl.

»Was geht dös mi an,« gab Liesl zur Antwort. »Sie hat uns a guate Botschaft bracht, und dafür will i 's gern hab'n, mei' Lebta.«

»Mach ma, daß ma hoamkemma,« drängte Jakl.

»Geh' nur voraus,« sagte Liesl, »i hab' dei' Muatta scho' am Arm; der Mond leucht't uns und bal san ma unt'.«

»Laßt's mi z'erst no' an' Vaterunser beten zum heilin Jakobi,« sprach die Alte; »i möcht' eam danken, daß er uns den heutin Tag no' so schö' hat außigehn lassen. Und 41 dir, Jakl, wünsch i Glück und Seg'n zu dein' Tag, und um das bet i zu dein' heilin Schutzpatron.«

Mit gemischten Empfindungen brachten dann alle drei an der Kapelle eine kurze Andacht dar und schlugen dann, meistenteils schweigend, den Heimweg ein. Niemand begegnete ihnen; durch den Garten gelangten sie zu ihren Häusern.

Als Liesl Abschied nahm, sagte Jakl, der sich auf dem Herwege manches ausgedacht hatte:

»Sag' neamd, daß i scho' z'ruck bin – laß's vorerst a G'heimnis bleib'n. Schön Dank für alles, Liesl und vergiß 's nit, daß d' g'sagt hast, du wirst mir alles wieder verzeih'n.«

Er drückte dem Mädchen die Hand, und Liesl wünschte ihm herzlich gute Nacht, dann eilte sie in ihr Haus.

Jakl aber trat mit der alten Mutter in sein freundliches Heim. Speis' und Trank berührte er nur wenig, er sehnte sich nach Ruhe – er fühlte sich krank an Leib und Seele. 42


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