Maximilian Schmidt
Der Bubenrichter von Mittenwald
Maximilian Schmidt

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I.

Mittenwald! Alle nur denkbaren Reize einer Hochgebirgsgegend vereinigen sich in diesem Namen. Auf grüner, von der schnellflutigen Isar durchrauschten Ebene in seiner unverfälschten, altehrwürdigen Bauweise gelegen, ist es fast rings umgeben von bewaldeten Vorbergen mit darüber emporragenden Felsengraten und Zinken, westlich vom schroffen Wetterstein, östlich von den steilen, bis zum Thale reichenden Abstürzen des Karwendels, südlich von den weißen Bergrippen des Solsteins und den himmelanstrebenden Reither- und Arnspitzen. Mittel- und Hochgebirge gruppieren sich in wunderbarer Harmonie. Alles, was die kühnste Phantasie träumen mag von Naturschönheit, es vereinigt sich hier, es schmilzt zusammen zu einem großen, wunderbaren Akkord, es ist ein Meisterstück des großen Bildners. Das menschliche Herz wird eigentümlich ergriffen von der gewaltigen Macht dieser herrlichen Schöpfung. Wenn da im Abendrot die Felsengipfel glühen und lodern und über die Waldgebirge duftige violette Schleier sich breiten, wenn das riesige Kreuz von der Karwendelspitze herniederglitzert ins grüne Thal, darüber die rosigen Wölkchen am lichtblauen Firmamente ziehen und allüberall die hellen Jodler fröhlicher Menschen ertönen, ja, dann erschließt sich das Herz gern all den beseligenden Eindrücken; Schmerz und Sorge verstummen, es zieht der 8 Friede ein, sei es auch nur für eine Stunde, für eine kleine Weile.

Am heutigen Sommerabend jedoch, es war am Feste des heiligen Jakob im Jahre 1836, ging für die Mehrzahl der Mittenwalder das wunderbare Schauspiel in der sie umgebenden Natur fast spurlos vorüber; sie ergötzten sich an einem profanen menschlichen Werk, einer Komödie, welche außerhalb des Marktes, am Fuße einer steil ansteigenden Bergwiese, soeben vor sich ging. Hier auf dem terrassenförmig sich erhebenden Schauplatz unter freiem Himmel wurde soeben von Leuten aus dem Volke, welches für das Komödienspiel eine besondere Vorliebe, aber auch eine natürliche, ererbte Anlage hat, unter des Kargenjörgls trefflicher Direktion das Volksstück »Hirlanda« aufgeführt.

Die ganze Leidensgeschichte dieser zweiten Genovefa ward seit Stunden der andächtig lauschenden Menge vorgespielt, und nun kam der Moment, wo die schuldlose Hirlanda unter Trommel- und Paukenschlag, begleitet von der Zuschauermenge, zum Richtplatze geführt wird, um lebendig verbrannt zu werden. Sie hatte das Gesicht mit einem Schleier bedeckt, der auf beiden Seiten bis zu den Füßen niederwallte; ihr folgte der Scharfrichter in rotem Gewand, umgeben von seinen Henkersknechten.

Der verblendete Herzog, Hirlandas Gemahl, saß mit seinen Räten und Dienern bereits auf der Schaubühne; diesen gegenüber befand sich der Scheiterhaufen.

Nun rief ein Herold mit lauter Stimme aus, daß Hirlanda wegen vieler von ihr begangener Verbrechen rechtmäßigerweise zum Feuertode verdammt sei, und forderte einen etwaigen Ehrenretter auf, gegen den Ankläger, der vom Kopf bis zu den Füßen in einen blinkenden Harnisch 9 gehüllt war, einen mächtigen schwarzen Helmbusch hatte und in der Hand einen starken Speer trug, in die Schranken zu treten, um für Hirlandas Ehre zu kämpfen.

Zweimal schon hatte der Schall der Trompete ertönt, und kein Ritter zeigte sich. Schon ward der Scheiterhaufen entzündet, hochauf loderten die Flammen und dichte Rauchsäulen stiegen empor; Hirlanda war im Begriff, den Holzstoß zu besteigen. – Da erhob sich auf der Landstraße, welche von Partenkirchen herführt, eine Staubwolke; alles blickte bange und hoffend nach jener Gegend; Pferdegetrabe wurde hörbar, man erkannte einen Ritter, der mit seinem Gefolge auf schnaubenden Rossen herangesprengt kam. Am Schauplatz angekommen, schwang sich der Ritter vom Pferd, eilte mit entblößtem Schwerte zu Hirlanda und rief dem Henker zu:

»Halt ein, halt ein, du Henkersknecht
Und lösch' die Flammen aus,
Und du, Hirlanda, ganz gerecht,
Steig herab vom Scheiterhauf!«

Der jugendliche Ritter im lichtgrünen, golddurchwirkten Gewande, mit dem Wahlspruch: »Nichts kann mich beflecken!« auf dem silbernen Schilde, kämpft nun mit Hirlandas falschem Ankläger und streckt ihn unter dem Jubel der Zuschauer, welche bei der Natürlichkeit des Spieles ganz vergessen, daß alles nur Komödie ist, zu Boden und giebt sich dann als den einst geraubten Sohn Hirlandas, Ritter Bertrand, zu erkennen.

Der Jubel des Volkes über den Sieg der Unschuld gegen die Bosheit pflanzt sich nach Beendigung des Schauspieles bis in den Markt hinein fort. Bertrand und seine Ritter geben Hirlanda und ihren Frauen zu Fuß das 10 Geleite nach Hause. Sie trägt einen ihr am Schlusse der Vorstellung überreichten prächtigen Blumenkranz am Arm und einen Eichenkranz um die Stirn. Es ist überall freudiges Drängen; alles will die schöne Darstellerin, welche durch ihr herziges Spiel so viele Thränen entlockt, in der Nähe sehen, grüßen und ihr ein Wort des Lobes und der Bewunderung sagen. Aber die Gefeierte blickt mit ihren großen, schwarzen, träumerischen Augen ernst nach beiden Seiten, statt der vielen Hunderte sucht sie nur einen Gruß, aber einen Gruß von demjenigen, der ihr vor dem geistigen Auge schwebt.

Das mittelgroße Mädchen mit dem runden, dunklen Gesicht und den üppigen, aufgelöst über die Schultern niederwallenden schwarzen Haaren war »die schwarze Liesl«, die Tochter und das einzige Kind des Geigenmachers Schändl, und mochte zwanzig und einige Jahre zählen. Trotzdem sie heute die Mutter eines jungen Ritters spielen mußte, ließ es ihre leicht verzeihliche Eitelkeit nicht zu, die Jugendfrische auf ihrem Gesicht etwas zu mildern. Zudem war ihr dunkelfarbiges Gesicht vor Erregung gerötet. Der Jubel der sie begleitenden Menge aber ließ sie kalt. Es war ihr das nichts Seltenes, sie war gewohnt, bewundert zu werden. Sie wußte selbst nicht recht, wie ihr das Spiel so leicht gelang, wie sie immer den richtigen Ton, den richtigen Ausdruck fand. Das Geheimnis ihrer Kunst war eben nichts anderes, als ihre Natürlichkeit, war die Herzlichkeit und Wahrheit, welche sie in das Spiel zu legen wußte.

So hatte sie schon der Reihe nach in »Genovefa«, »Heinrich von Eichenfels« und anderen Volksstücken große Triumphe gefeiert. Für die Thränen, welche sie als 11 Hirlanda heute den Leuten entlockte, dankten ihr diese mit Lobsprüchen und Hochrufen; aber das Mädchen blieb ernst trotz des lebhaften Gesprächs ihres Ritters, in dessen Arm sie nur leicht ihre linke Hand legte.

Dieser Ritter war der Krüner Ferdl, der Sohn eines vermöglichen Kaufmanns und auch als solcher herangebildet, ein ziemlich großer Mann mit hellblondem Haar und starkem Schnurrbart. Er wußte, daß er hübsch war, und seine blauen Augen schweiften siegesbewußt nach allen Seiten, vorzugsweise aber blieben sie auf seiner Begleiterin haften, der er viel Verbindliches sagte, wobei er manch zärtliches Wort einfließen ließ. Das Mädchen schien aber nichts davon zu hören.

So gelangte der Zug an das bescheidene Haus von Liesls Eltern. Die Ritter verabschiedeten sich mit aller ihnen zu Gebote stehenden Galanterie, besonders Ferdl, der hierauf das ihm nachgeführte Pferd bestieg und unter einigen Kabriolen stolz von dannen ritt. Das Mädchen aber eilte in sein stilles Heim. Die Mutter, eine noch hübsche und rüstige Frau, erwartete sie an der Thüre.

»Liesl,« sagte sie zu der mit ihr in die Wohnstube eintretenden Tochter, »du hast heunt alle Leut narrisch g'macht, so schön hast g'spielt. Alles hat di g'lobt und g'jubelt über di, und du machst so an' ernsthaft's G'sicht, trotz daß der Krüner Ferdl dir alle Ehr' erwiesen. Di g'freut's wohl gar nit?«

»Was liegt mir am Jubel von all den Leuten und an dem G'red vom Krüner!« entgegnete die Tochter. »Der, von dem mi a Lob g'freut hätt, der Lautenspieler Jakl, der war ja nit da. Er is nit komma, hat drauf vergessen, daß heunt sei' Tag is; mei', er hat auf alles vergessen.«

12 Die Mutter war auf diese Klage von seiten der Tochter schon gefaßt. Auch sie machte sich schon den ganzen Tag über sorgende Gedanken, daß der Genannte, welcher als Instrumentenhändler schon Jahr und Tag in der Welt herumwanderte, heute, an seinem Namenstage, nicht, wie man allgemein erwartete, heimkam. Aber nicht wegen Liesls Herzensangelegenheit, anderer, triftigerer Gründe wegen erwarteten Liesls Eltern und mehrere Geigenmacher die Rückkehr des Hausierers, denn seit mehr als einem halben Jahre blieb das Geld für die ihm übersandten Instrumente ausständig, und dies machte die auf ihren Verdienst angewiesenen Leute bereits etwas unruhig.

»I verhoff, er kommt no',« tröstete die Mutter, »andernfalls wär' doch a Botschaft kemma. Er hat ja g'schrieb'n, er kehrt am Jakobitag über Telfs und Luitasch hoam; warum sollt' er nit heunt no' kemma?«

»Heunt no'?« fragte Liesl mit zweifelndem Ausdruck. »Heunt kimmt er nimmer!«

»Dös macht a bös's Bluat im Markt,« sagte die Mutter; »da woaß ma dann nimmer, was ma denka muaß.«

»Auf jeden Fall nix Schlecht's,« fiel Liesl, die sich mit Hilfe der Mutter umkleidete, rasch ein; »'n Jakl sei' Charakter is guat, und auf sein Schild steht aa: »Nichts kann mich beflecken!«

»Dessel wern ma ja inna wern,« sagte die Mutter spöttisch.

»Woaßt, Muatta, du tragst halt dein Haß, den's d' auf 'n Jakl sei' Muatta hast, auf 'n Suhn über. Was kann der dafür, daß 's enk ös nit leiden könnt's? Dafür hab'n wir Kinder uns gern fürs Leben, und der Vata hat 13 aa nix dageg'n. Der Jakl is ja brav und ehrli! Wär er denn sunst nit neuerdings einstimmi wieder zum Bubenrichter g'wählt worn von der Bubenbruderschaft? Dös beweist, daß er in Respekt steht im ganzen Markt bei jung und alt!«

»No', was dös anbelangt, so is aa der Krüner Ferdl, bis der Jakl hoamkimmt, Bubenrichter,« warf die Mutter ein. »Der is nit nur ang'seh'n, sondern aa vermögli und braucht nit mit der Butt'n rumz'vagieren in der Welt, um a paar Groschen z'gwinna. Woaßt, Liesl, i red dir nit zua und nit ab, du hast dein' frei'n Will'n. Mei' Wunsch und 'n Vata der sei' is, daß d' glückli wirst, und Gott mög dös geb'n! Wie moanst aber, wenn wir vüri ganga in'n Postgarten? Der Vater erwart' uns, und der Kargenjörgel und alle Komödiespieler san durt. Du, die Hauptperson, solltest nit fehl'n bei dem Lätizl.«

»Muatta, i bitt di, laß mi dahoamt,« sagte Liesl, »i mag heunt nirgends mehr hin. I bin müad vom G'spiel und –«

»Und willst 'n Jakl dawarten!« ergänzte die Mutter. »No', in Gott'snam! Mir is aa nit drum z' thuan; es giebt no' viel herz'richten für d' Wiesmad. Rast di aus auf der Gredbank draus und denk an die Ehren, die 's d' heunt kriegt hast. I g'freu mi drüber, als wär'ns just mir widerfahr'n.«

Damit verließ die Mutter die Stube.

Liesl hatte ihr Kostüm mit einem blauleinenen Kleide vertauscht; die dunklen Haare ließ sie aufgelöst. Sie blickte durch das offene Fenster nach den Schroffen des Karwendels, die noch vor wenigen Minuten so zauberisch beleuchtet gewesen. Schon waren die lichten Farben 14 verblaßt, höher stiegen die Schatten, unerbittlich höher, das letzte Licht entfloh. Wo es vorhin leuchtete wie Gold und Silber, da starrten verwitterte, ausgezackte Karrenfelder herab und die Felsenzinken ragten kalt und unheimlich empor über die schwarzgrauen Tiefen.

»Is mir dengerst, als wenn aa mei' Glück verblaßt wär' auf ewige Zeit,« sagte das Mädchen. »Auf ewi? Na', na'! Morg'n fruah leuchten d' Berg wieder, und – mir sagt's mei' Herz: mei' Bua is nimmer weit und mit eam's Glück, der Frieden, d' Seligkeit!« 15


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