Alfred Schirokauer
Der erste Mann
Alfred Schirokauer

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XIV

Just ging in sein Arbeitszimmer zurück. Als er die Tür schloß, taumelte er. Plötzlich kreiste das Zimmer um ihn wie ein Karussell. Die geistige Anspannung der Beherrschung hatte seine Kräfte erschöpft. Mit geknickten Knien schleppte er sich zum Sessel am Schreibtisch, sank schwer und klotzig hinein. Seine Stirn war eiskalt, er fühlte es und hatte das Empfinden, in einem luftleeren, nebeldichten Raum zu schweben.

Die Welt, in der er bis zu dieser Stunde gelebt und gearbeitet und gewirkt hatte, war eingestürzt. Es war ihm, als höre er noch den Nachhall dieses vernichtenden Bebens, das sein Ende zusammengeschmettert hatte. Es war das Blut, das in seinen Ohren brauste.

Doch trotz der Betäubtheit, in der er dahintrieb, wußte er alles, was geschehen war, umspannte sein Hirn die Tragweite des Unheils, das als Blitzschlag des Schicksals in sein Haus eingeschlagen hatte.

Er dachte mühsam, wie durch Wolken, doch klar und zielbewußt.

Wenn er der Lockung dieses exotischen Banditen nicht folgte – Unsinn! – es lag außerhalb jeder Möglichkeit, diesen Schurkenstreich auszuführen – dann war Ute verloren. Der Direktor würde sie ohne Gnade von der Schule verweisen. Er kannte Börner.

Plötzlich stand die Szene in der Klasse damals visionär vor seinem geistigen Auge. Die Verwarnung an Ute, als sie sich unbotmäßig gegenüber der Lehrerin Wolter benommen hatte. Wenn Börner nachher auch seinen jähzornigen Verweis zurückgenommen hatte – jetzt würde alles wieder aufleben. Er kannte diese rückwirkende Kraft neuer Verfehlung. Jetzt würde es heißen: aufsässig, frech und – unzüchtig. Er kannte das.

Dann war Ute verloren. Dann war es mit ihrem Studium zu Ende. Herrgott, Herrgott, sie wollte doch Ärztin werden! Sobald als möglich die Mutter entlasten! Vorbei. Kein anderes Gymnasium nahm sie mit dem Abgangszeugnis dann auf. Ihre Lebenspläne waren zerstört. Ihre Hoffnungen gescheitert. Dieses kluge Mädel vom Studium ausgeschlossen.

Und das andere! Bloßgestellt vor der Schule – den Mitschülerinnen – eine – Schande – denn trotz aller Modernisierung war es im letzten Grunde noch genau wie vor fünfzig Jahren, wenn ein »Fehltritt« in einem engumgrenzten Bezirk wie der Schule geschah. Nein, das war nicht möglich. Er konnte Ute nicht an den Pranger stellen vor der Schule und aller Welt.

Seine Gedanken sprangen. Und Julie? Er riß am Kragen. Es würgte ihn. Er sprang auf, öffnete das Fenster. Ah, die kalte Luft tat gut. Er würde weggejagt werden. Sicher. Er sann. Nein, in seiner Praxis war ihm nie ein ähnlicher Fall bekannt geworden. Merkwürdig. Geschah so etwas so selten? War er eine solche ruchlose Ausnahme? Seltsam? Ja, Börner würde ihn voller Entsetzen und Unbegreifen hinauswerfen. Und er sollte zu Ostern Direktor werden!

Er mußte sich wieder setzen. Aber schon im nächsten Augenblick schnellte er wieder empor und rannte zum Bücherregal. Er wußte dunkel, hatte es gleich gewußt, im Strafgesetzbuch stand etwas darüber.

Wo stand das Strafgesetzbuch? Er suchte mit irrenden Augen unter den vom Vater, der Kammergerichtsrat gewesen war, ererbten juristischen Büchern. Da – endlich.

Er klopfte imaginären Staub von dem kleinen dicken Kompendium. Es war eine Gewohnheitsgeste. Julie hatte jedes Buch während seiner Abwesenheit gesäubert und wieder an seinen gewohnten altehrwürdigen Platz gestellt.

Er blätterte mit zittrigen Fingern, fand endlich die Stelle. Zuerst hatte er sie deutlich gelesen. Dann verschwamm der Text vor seinen schreckenfeuchten Augen.

»§ 174. Mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren werden bestraft:

Vormünder, welche mit ihren Pflegebefohlenen, Adoptiv- und Pflegeeltern, welche mit ihren Kindern, Geistliche, Lehrer und Erzieher, welche mit ihren minderjährigen Schülern oder Zöglingen unzüchtige Handlungen vornehmen.

Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein.«

Das Buch polterte zu Boden. Erschreckt fuhr er empor. Hob es auf. Stellte es hastig ins Fach, den Blick voll Angst auf die Tür gerichtet. Oft, wenn sie etwas fallen hörte, stürzte Gaby hilfsbereit herein, es aufzuheben. Doch alles blieb still.

Wie ein Dieb schlich er zum Stuhl zurück. Saß zusammengeduckt, verfallen. Ein Verbrecher. So also sah es von außen aus! Ein Verbrechen. Zuchthaus. Aus. Das Leben war aus. Absolut aus. Daß er an das Strafgesetzbuch nie gedacht hatte! Hatte doch dunkel gewußt, daß etwas über Lehrer und Schüler darin stand. Nie scharf daran gedacht.

Lag wohl daran, daß er sich seit Beginn seiner Liebe zu Ute niemals einer bösen Tat bewußt war.

Zuchthaus. Julie! Gaby! Er federte vom Stuhl auf. Fühlte einen Druck auf der Brust, als atme er schon in der stickigen Zellenluft. Zuchthaus.

Da schallte das fröhliche Kinderlachen Gabys aus dem Wohnzimmer herein. Es schnitt ihm wie ein scharfes Messer ins Gemüt. Sie lachte. Armes Kind. Wenn sie wüßte! Wenn Julie wüßte, daß er mit einem Fuß schon im Zuchthaus – nein, nein, das war nicht möglich! Das konnte nicht sein.

Er hatte doch nichts Furchtbares, Entehrendes getan. Fünf Jahre Zuchthaus wie ein Räuber, ein Brandstifter, ein bestochener Beamter! Er! Weil er Ute liebte. Weil sie ihn liebte und sich ihm gegeben hatte. Deshalb sollte er ins Zuchthaus und Weib und Kind zum Weib und Kind eines Zuchthäuslers werden!

Das ließ die Vernunft nicht zu. So konnte das Leben nicht sein. So konnten die Menschen und die Gesellschaft nicht sein. Deshalb sollte alles zertrampelt und zertrümmert werden: Julies Leben, Gabys Leben, Utes Leben, sein Leben? Das konnte der Geist der waltenden Gerechtigkeit nicht verlangen.

Er kroch wieder zurück in den Sessel. Plötzlich schüttelte ihn ein Fieberfrost. Der Gedanke hatte ihn berührt: Rache der Ehe. Er hatte sich größenwahnsinnig über Satzung und Heiligkeit der Ehe hinweggesetzt. Hatte sich über ihre engen Schranken erhaben gedünkt und geglaubt, er breche sie nicht, wenn er aus ihr ausbreche, er nehme Julie nichts durch seine Liebe zu Ute. Und jetzt griff die Ehe nach ihm, ihrem Verleugner.

Er raffte sich auf, zornig über den Aberglauben, der ihn rüttelte. Und dennoch, grübelte er, wird die Ehe mich erwürgen. Ein verheirateter Lehrer, der sich an einer Schülerin vergangen hat, wird es heißen. Sehr erschwerend, sehr belastend. Keine mildernden Umstände zu gewähren. Ganz anders wäre das, wenn er unverehelicht wäre. Ganz anders. Dann hätte er Ute heiraten können. Hätte sie auch geheiratet, fraglos. Dann wäre alles gut. Hätte sich sofort mit ihr verlobt – gleich nach dem Examen geheiratet. Alles gut. Bei einem Umgang mit der Braut hätten sie die Augen zugedrückt – vielleicht ein bißchen zweideutig gegrinst – aber so – so lag alles anders – grausam – Rache der beleidigten Ehe – unentrinnbar.

Er schüttelte den geisterhaften Schauder von sich. Keine törichte Schwäche. Denken! Überlegen. Er mußte handeln. Es mußte einen Ausweg aus diesem Labyrinth der Vernichtung geben. Er mußte ihn suchen. Nicht verzagen und alles aufgeben bei der ersten Überrumpelung. Handeln. Nicht wie dieses kleine Biest, die Quenz, es sich dachte.

So ein Luderchen! Diese verwegene Frechheit von dem Mädel! Woher sie den Mut nahm? Sie riskierte doch einfach alles, wenn er den Spieß umkehrte und sie anzeigte. Freilich, sie war ihrer Sache sicher. Glaubte bestimmt, er würde sich durch ihre Drohung einschüchtern lassen. Woher sie es wußte? Hatte jedenfalls spioniert und Ute zu ihm an den Strand gehen sehen. Hatte die Unverfrorenheit, dieser kleine Balg, ihm ihren Geliebten ins Haus zu schicken. Unglaublich. So hatte er sie nicht eingeschätzt. Hm, vielleicht doch. Arrogant und von sich eingenommen war sie immer gewesen, glaubte daher auch jetzt an ihre Unfehlbarkeit und den zweifellosen Erfolg. Nun, diesmal verrechnete sie sich. Hatte einen Geliebten. Sowas!

Da fiel ihm ein, daß auch Ute, seine angebetete Ute, einen Geliebten hatte. Kleinlaut sammelte er seine Gedanken ein. Nicht abschweifen. Ruhig denken. Das Leben von vier Menschen stand auf dem Spiele. Vier Leben gegen das eine Leben dieser kleinen faulen, unnützen Bestie.

Er starrte vor sich hin und wußte von diesem Augenblick ab, wie einer zum Mörder wird. Wenn Dina Quenz nicht lebte, war alles nicht. Existierte diese Angst nicht mehr. War alles aus dieser Welt ausgelöscht, getilgt, nie gewesen. Der junge Mann hatte allen Grund zu schweigen. Dina töten!!

Er stieß die Versuchung entsetzt von sich. Wahnwitz. Aber so wurden Schwächere, erblich Belastete, Angenagte zum Mörder. Er hatte es immer gewußt, in jedem ist jede Möglichkeit zu jeder Gemeinheit. Nur die Hemmungsvorstellungen ...

Wie man auf so niederträchtige Abwege der Gedanken kommen konnte. Sonderbar, sowie man einmal auf die abschüssige Bahn geriet, glitt man in Untiefen hinab. Richter müßten diese Stunde an sich erleben, um Irregegangene zu verstehen.

Jetzt war ihm sehr heiß. Sein Kopf brannte. Einen anderen Ausweg finden? Wo? Wenn er sich das Leben nahm, nicht dieser unglückseligen Angeberin? Was war dann? Durchdenken bis zum letzten Ende: Damit rettete er Ute nicht. Das heißt, vielleicht doch. Dina Quenz würde dann Erbarmen und Mitleid mit ihr haben. Wenn aber nicht? Wenn die Quenz auch vor seiner Bahre nicht haltmachte und die Anzeige erstattete? Dann galt er als der Mann, der mutig die letzten Konsequenzen gezogen, und Ute war das lasterhafte Geschöpf, das den Lehrer umgarnt und in den Tod getrieben hatte. Er wußte, wie verrückt Dinge sich verdrehen lassen.

Trotzdem ließ der Gedanke an den Selbstmord ihn nicht wieder los.

Julie? Gaby? Sie mußten seinen Tod hinnehmen. Er konnte ja auch so jeden Tag an einer Krankheit, einem Unfall sterben. Für sie war gesorgt. Julie bekam die Pension. Und von seinen Einnahmen aus seinen Büchern hatte er eine Lebensversicherung unterhalten. Die zahlte nun auch schon bei Selbstmord. In jedem Fall konnte er ja einen Unfall fingieren – unter einen Autobus geraten. Er wog alles Für und Wider, unparteiisch, wie ein Unbeteiligter.

Sicher würde Dina Quenz dann schweigen. Es hatte doch keinen Sinn mehr für sie, ihn und Ute zu verraten. Es konnte ihr dann doch nicht mehr helfen. Sie würde sich auch fürchten, weil sie ihn in den Tod gehetzt hatte. Sie würde schon wissen, wieso er grade jetzt verunglückt war. Das also war ein Weg ins Freie.

Er saß und grübelte. Und wurde immer gewisser, daß dieser Weg der einzige war, der ihm blieb. Plötzlich dachte er an den Selbstmord der Studienrätin Doktor Wolter. Kaum drei Wochen her. Damals hatte er nicht geahnt, daß er sobald dort stehen würde, wo die Ärmste gestanden hatte.

Er riß die Schublade des Schreibtisches auf, kramte den Abschiedsbrief der Lehrerin hervor. Sie hatte es geahnt. »Möge es Ihnen erspart bleiben, dort zu stehen, wo heute steht Ihre Marta Wolter.«

Sie hatte es geahnt, in der Hellsichtigkeit der Sterbestunde! Etwas wie Neid kroch in ihm auf. Die hatte es überstanden. Die war nichts mehr als ein Häufchen Asche. Pah – nicht feig sein! Er würde auch vollenden können, was eine schwache Frau ...

Gaby stürmte herein. »Abendbrot!« meldete sie wichtig und ergriff seine Hand.

»Uh, bist du kalt!« staunte sie. Dann lachte sie hell auf. »Aber du hast ja auch das Fenster offen.« Wie eine kleine, umsichtige Hausfrau schloß sie es und zog ihn mit sich in die Wohnstube. Willenlos ließ er es geschehen.

Julie stand am Eßtisch. »Na, was war mit dem Spanier?« begann sie. Da wandte sie sich um. »Ulli, was ist dir?!« schrie sie auf und kam rasch auf ihn zu.

»Nichts«, murmelte er und versuchte zu lächeln.

Sie befühlte ihn. »Du hast doch Fieber! Dein Kopf ist ganz heiß und deine Hände eiskalt.«

»Papsel hat auch das Fenster offen gehabt«, klagte Gaby vorwurfsvoll an.

»Aber Ulli, wie kannst du so unvorsichtig sein!« Julie schüttelte über soviel Mannesunverstand den Kopf. Das laue Sommerwetter war einer nassen Kälte gewichen. »Du mußt sofort ins Bett.«

»Ich fühle mich sehr wohl«, beharrte er. »Bitte, macht nicht soviel Geschichten mit mir. Ich habe heute noch viel zu tun.« Damit setzte er sich und würgte einige Bissen hinunter.

Plötzlich konnte er die tastenden besorgten Blicke der beiden geliebten Geschöpfe nicht ertragen.

»Ich muß arbeiten. Entschuldigt mich.«

Er floh in sein Zimmer. Mutter und Kind sahen sich bestürzt an. »Was hat Papsel?« fragte Gaby verstört. Ohne zu antworten, folgte Julie ihm in das Arbeitszimmer.

»Was ist dir, Ulli?« Ihre Stimme war erstickt von Angst und Zärtlichkeit.

»Nichts, Liebes«, tröstete er sehr weich. »Ich steck' nur mitten in der Vorbereitung auf morgen. Ich ruf dich, sowie ich fertig bin.« Er saß schon am Schreibtisch, wie vertieft.

Zögernd ging sie hinaus.

Als er wieder allein war, sprang er plötzlich auf. Ein Einfall hatte ihn mit solcher Wucht getroffen, daß er aufschnellte.

Er konnte ja alles leugnen! Das Einfachste von der Welt. Daß sich ihm diese Lösung nicht gleich gezeigt hatte! Alles leugnen. Wer konnte ihnen etwas beweisen! Die Quenz war die einzige Zeugin. Wahrhaftig, eine sehr verdächtige Zeugin. Eine Erpresserin. Gegen ihr Zeugnis stand sein Leben als Lehrer, seine ehrenvolle Laufbahn, sein Ruf. Die Oberin des Heims, alle anderen Mädchen würden bekunden, daß es höchst unwahrscheinlich, unglaubhaft, unmöglich sei. Rettung! Erlösung! Das Leben dämmerte wieder!

Alle Nerven freudig gespannt, marschierte er auf und nieder. Julie hörte den kraftvollen Tritt, war beruhigt und glaubte, er arbeite wirklich für morgen. Den Schritt kannte sie.

Just überflog alle Weiten des neuen Plans. Er mußte sich nur so bald als möglich mit Ute in Verbindung setzen. Morgen nachmittag traf er sie. Er mußte ihr alles sagen und sie bewegen, zu leugnen – alles zu leugnen ...

Sein Schritt wurde langsamer und zaudernder. Er sollte Ute zur Lüge verführen, zu falschem Zeugnis? Er, der die Wahrheit als höchste Ehrenpflicht gelehrt hatte! Er sollte sich so weit erniedrigen, Ute zur Lüge anzustiften?

Er blieb stehen. Wahrheit – Lüge –! Worte! Hier ging es um das Leben. Hier ging es nicht um Ehre und Anstand und Wahrhaftigkeit. Zu viel stand auf dem Spiel. Er konnte sich in diesem würgenden Verhängnis nicht den Luxus der Wahrheit leisten. Mit einem Wort, einem unwahren freilich – wenn auch! – war eine mörderische Katastrophe beseitigt.

Dina Quenz war dann allerdings gerichtet. Als erpresserische Verleumderin gebrandmarkt. Wenn auch! Ihre tückische Gemeinheit hatte jede Strafe reichlich verdient. Auf sie brauchte er keine Rücksicht zu nehmen. Sie hatte keinen Anspruch auf Schonung. Hier war Lüge erlaubteste Notwehr.

Und doch, allen Vernunftgründen zum Trotz, ein übles, widerstrebendes Gefühl brodelte in ihm. Das also war sein Wahrheitsfanatismus? Bei der ersten ernsten Probe zerbrach er. Grade jetzt, wo sich die Ethik, die er seit Jahren gelehrt hatte, zum erstenmal sieghaft bewähren sollte, zerbarst sie?

Er ging mit leisen Schritten auf und nieder. ›Nein‹, erkannte er mutlos. ›Ich kann es nicht. Kann meine Achtung vor der Wahrheit und Redlichkeit und Ehrlichkeit nicht mit Füßen treten. Und wenn es ans Leben geht, nicht. Ich bin kein feiger Lügner und erbärmlicher Anstifter zum Betrug.‹ Zuchthäusler, flüsterte eine Stimme in seiner Brust. Ja, ja, begehrte er auf, Zuchthäusler vielleicht, wenn sie das, was ich getan habe, mit Zuchthaus bestrafen wollen – deshalb bleibe ich doch der, der ich immer gewesen bin, vor mir, vor Ute – vielleicht auch vor Julie.

Sein Denken schweifte wieder ab. Warum unbedingt Zuchthaus? Die Richter würden erkennen – sie waren doch fühlende Menschen. Er machte eine wegwerfende Geste. Gewiß, Richter waren oft mitfühlende Menschen. Er kannte sie, sein Vater war ein bedeutender Richter und ein herrlicher Mann.

Aber er wußte auch, wie anders, wie kahl, wie gerupft und nackt die Dinge vor Gericht aussahen. Grade weil er in einem Juristenhaus aufgewachsen war, wußte er es. Vater hatte oft darüber geklagt. Vor Gericht würde er nichts sein als ein ehrloser Ehebrecher. »Dieser wundervollen schönen Frau hat er die Ehe gebrochen!« Er hörte das Flüstern des Publikums, mit dem Blick auf Julie. Als infamer Verbrecher und ruchloser Verführer einer Schülerin würde er vor Gericht stehen. Das Menschliche, das Undeutbare, das Zarte, das Zwingende, alles blieb draußen, fand nicht Einlaß in die Tore des Gerichts.

Nein, nicht irre werden. Er hatte zu sterben. Basta.

Da umklammerte ihn eine Angst, wie er sie nie erlebt hatte, auch nicht im Schützengraben vor dem Stürmen, bei Trommelfeuer. Keine Furcht vor dem Sterben war es, nur vor dem Walten einer unheimlichen, unbegreiflichen Macht. Er hatte das Empfinden, aus seinem Dasein herausgefallen zu sein ins Leere, ins Bodenlose, ins Abgründige. Was war in wenigen Minuten aus seinem gesicherten, soliden, gut bürgerlichen Leben geworden! In wenigen Viertelstunden war er aus festbegründetem Glück in Verbrechertum und Todeszwang hinabgeglitten. Aber seine sechsunddreißig Jahre, sein Lebenswille, der Wunsch, sich für die Seinen zu erhalten, rang sich dennoch wieder empor. Vielleicht sah er in dem ersten Aufruhr des Umsturzes alles zu schwarz. Vielleicht kam er gar nicht vor Gericht. Mußte er nicht abwarten, wie die Dinge liefen, ehe er das Letzte, das Allerletzte tat?

Noch einmal alles durchdenken!

Die Anzeige erfolgte. Von Börner war keine Gnade zu erhoffen. Er würde Ute sofort ausweisen und die Sache an das Provinzial-Schulkollegium weiterleiten. Das stand fest. Damit mußte er rechnen, wenn er sich nicht selbst täuschen wollte. Aber das genügte schon. Er konnte und durfte Ute nicht an den Pranger stellen lassen. Nie und nimmer ihre Liebe, ihr tiefstes junges Erleben an die Öffentlichkeit zerren lassen. Das würde sie seelisch auf alle Zeit vernichten. Ihr intimstes Gefühl würden sie mit klobigen Etikettennamen besudeln: »Unzucht« – »Verhältnis mit einem verheirateten Mann« – »Ehebruch« auch auf ihrer Seite – nein. Was wußten die davon, was sie dazu getrieben hatte? Uralte Mädchennot. »Doch alles, was dazu mich trieb, Gott, war so gut! ach, war so lieb!« Wider Willen kamen die Verse ihm in den Sinn.

Und Julie! Herrgott, welche grausigen Folgen hatte alles auf einmal! Aus allen Winkeln kroch Unausdenkbares drohend und klebrig schmutzig hervor. Auch Julie würde der Bestie Öffentlichkeit hingeworfen werden. Das ›betrogene Opfer‹, ›das Weib des Mädchenschänders‹. Nein, auch sie würde ihn nie begreifen. Trotz aller heldenmütigen Sprüche von Urlaub aus der Ehe und Ferien von ihr. Seine Tat an einer Schülerin würde als etwas Ungeheuerliches, Unmenschliches auch vor ihr stehen, und Gaby als Kind eines verjagten, gezeichneten Lehrers aufwachsen – mit Fingern würde man auf sie zeigen –, seine kleine froh-wichtige Gaby!

Er rannte gehetzt im Zimmer hin und her. Woher war dieses Wahnwitzige, Unfaßbare jäh geboren? Woher? Alles war doch schon seit Tagen geschehen und vorbei. Alles war doch schon wieder in die alte Ordnung der Dinge zurückgekehrt. Und plötzlich barst die Erde auf und spie Schmach und Untergang.

Er setzte sich atemlos und ausgelaugt nieder. Und jetzt schwankte seine Verzweiflung wieder nach dem Ausweg, den der Mann ihm vorhin gewiesen hatte. Nein, keine Möglichkeit für ihn. Die Schule verraten, sein Amt verraten, eine erbärmliche Schülerin durchlassen, mit ihr gemeinsame Sache machen – ausgeschlossen. Tempelstürmerisch wüten gegen alles, was ihm bisher das Heiligste und Unantastbarste gewesen war. Nein. Kein Weg.

Und wenn er es doch täte?! Konnte er dann noch vor eine Klasse hintreten und von Ehre und Moral, von Gerechtigkeit und Größe des Menschen sprechen, ohne vor Scham in den Boden zu versinken? Nein. Schade, einen Augenblick an diese Unmöglichkeit zu verschwenden.

Also doch sterben.

Er sann tiefer, suchte die Schuld für diese tödliche Verstrickung in sich. Hatte er denn wirklich so frevelhaft gesündigt, daß er die Todesstrafe verdiente, bloß weil er einmal im Rausch die Vernunft verloren hatte? Ein einziges Mal! War es ein solches Verbrechen, ein neunzehnjähriges, über seine Jahre reifes und verständiges Mädchen, das zufällig seine Schülerin war, zu lieben? Wenn sie nicht seine Schülerin wäre, auf ein anderes Gymnasium ginge, wäre er frei von öffentlicher Schuld.

Er hob verzweifelt die Arme und ließ ste wieder schlaff verzagt niederfallen. Verhängnis! Er fühlte kein Vergehen, das so schwer war, daß es vier Menschen vernichten mußte. Mehr: Utes Eltern, den Maler und die Ärztin, fällte es auch. Sechs Menschen wurden vernichtet, wenn er nicht starb und Julie und Gaby als Opfer zurückließ. Vielleicht auch Ute. Doch sie war jung, sie würde verwinden. Auch Gaby. Aber Julie!

Es gab kein Entrinnen. Zwecklos, sich das Hirn zu zermartern. Er hatte zu sterben. Dabei blieb es. Er biß die Lippen zusammen, daß sie weiß wurden. Er grübelte. Ja, dann konnte Ute noch der Falle entschlüpfen. Sie mußte sofort die Schule verlassen. Sofort.

Er rannte erregt dem neuen Gedanken nach. So ging es. Sie mußte zu Haus alles beichten. Das konnte sie. Sie hatte ihm erzählt, wie nah sie der Mutter stand. Ja. Bis Donnerstag hatte sie Schonzeit. Sofort abgehen von der Schule mußte sie, übermorgen früh, ehe die Anzeige wirksam wurde.

Donnerstag vormittag hatte Börner von acht bis zwölf Uhr Unterricht. Das war sein »schwarzer Tag«, wie er ihn oft scherzend nannte. Vor zwölf Uhr sah er die Eingänge nicht. Bis dahin mußte alles erledigt sein. Dann konnte die Schule Ute nichts mehr tun. Das Abgangszeugnis erhielt sie sofort. Das konnte er sogar vielleicht noch Donnerstag vormittag erledigen. Dann stand ihr jede Schule offen. Am besten außerhalb Berlins. Auch das war kaum nötig. Jedenfalls war sie dann geborgen. So blieb Ute aus allem draußen. Das war die Rettung. Die einzige Rettung. Morgen nachmittag, wenn er sie traf, mußte er ihr schonend die Gefahr vorstellen. Nichts von seinem Tod verraten, natürlich. Nur ihr nahelegen, sich schleunigst abmelden zu lassen. Nach Gründen und Anlaß würde keiner fragen. Dann wollte er, ehe der Sturm losbrach, sterben. Durch einen Unfall. Mit dem Tod sühnen.

Nein! Er bäumte sich mit letzter trotziger Verbissenheit dagegen auf, daß er zu sühnen hatte. Er hatte vor sich nichts verbrochen. Er wollte für ein Glück zahlen, wenn es sein mußte, mit seinem reichen gesegneten Leben. Zahlen, aber nicht zu Kreuze kriechen, nicht zugeben, daß er zum Verbrecher geworden war, weil er Ute geliebt hatte.

Das Opfer blieb Julie. Arme Julie. Er wurde weich. Sah plötzlich längst vergangene Glücksmomente mit ihr. Arme geliebte Julie. Sie mußte das Glück, das er außer der Ehe gesucht hatte, bezahlen. Sie am schwersten.

Er stutzte. Also wurde jedes böse Tun eines der Eheleute doch in der Ehe gebüßt. Also war die Ehe doch mehr, doch einheitlicher, doch verbindender, als er gemeint hatte. Also hatte er im letzten Grunde doch unrecht gehabt mit allem, was er über die Ehe gedacht und gefabelt hatte? Zu spät!

Er zahlte ja alles, was er je Falsches gedacht und getan hatte, mit dem Leben. Mehr konnte er nicht geben.

Sein Entschluß war gefaßt. Die Klarheit des Willens gab ihm seine Haltung und Sicherheit zurück. Er hatte sich abgefunden. Wie ein Mann wollte er das Unabänderliche vollbringen.

Als Julies Kopf fragend im Spalt der Schiebetür erschien, versuchte er, ruhig, wie immer, zu lächeln. Vielleicht etwas gewaltsam, aber da er außerhalb des Lichtscheins der Tischlampe stand, sah sie es nicht.

»Wie geht es dir jetzt?«

»Sehr gut.«

Sie kam näher. »Wirklich wieder ganz all right?«

»Yes, Mylady.«

Er setzte sich auf den Klubsessel, ihren Lieblingsplatz, und zog sie auf seine Knie. Da riß es an seinem Herzen. In wenigen Stunden, übermorgen, würde er nicht mehr hier sitzen und sie fühlen. Dann lag er zermalmt ...

Er zog sie an sich und küßte sie, wie er nie eine Frau geküßt hatte, wie nur ein Mensch küßt, der weiß, daß er durch das dunkle Tor schreiten muß, schon abschiednehmend, schon um Vergebung flehend für den bitteren Schmerz, den er antun muß, schon in der wehen Verzweiflung des Verlustes für immer, schon in dem dunklen Bangen vor dem Letzten, Allerletzten.

Sie begriff seine ekstatische Leidenschaft nicht. Sie fühlte nur die durchbrechende, fassungslose Liebe. Und gab sich ahnungslos jauchzend dieser überraschenden Glut hin, die eine Scheiterhaufenflamme war ihres Glückes und ihres Lebens.

Just ging am Mittwochmorgen zur Schule, als ein Mann, der abgeschlossen hat, der bereit ist, einzustehen mit seinem Dasein für die Folgen seines Tuns.

Gaby ging neben ihm her und plauderte lebhaft. Erzählte ein Märchen, das sie sich ausgedacht hatte. Mit vielen An- und Entlehnungen aus Grimm und Andersen, aber doch auch mit eigener possierlicher Erfindungsgabe und durchströmt vom Odem ihrer Gegenwart und ihrer kindlichen Erlebnisse.

Just hörte ihr gesammelt zu. Jede freie Sekunde wollte er ihr und Julie geben, sich ihnen bis zum letzten Herzschlag darbringen.

»Sehr hübsch«, lobte er, »und dann?«

Sie erzählte, beglückt von seiner Anerkennung – der höchsten dieser Erde –, weiter. Eine kleine Dichterin wächst in ihr heran, dachte er, und ich werde es nicht erleben. Eine Wehmut quoll in ihm auf. Und wieder das Grauen vor diesem Unfaßlichen, daß er, der jetzt in Saft und Kraft dahinging, morgen – ja morgen abend, nicht mehr sein würde. Ausgelöscht. Nicht daran denken. Stark bleiben!

Er gab alle Aufmerksamkeit an Gabys lustiges kleines Märchen von dem Liftboy, dem es doch gelang, ein König zu werden, ein König der Piloten.

Mit einem heißen, quellenden, unbestimmbaren Gefühl in der Brust betrat er die O Ia. Wie sollte er unbefangen vor Ute treten mit dem mordenden Beschluß im Kopf – und dem lauernden Unheil im Herzen? Und wie sollte er dem bösen Geist dieser Katastrophe, Dina Quenz, entgegentreten?

Er hatte sein Verhalten ihr gegenüber sorgfältig bedacht und übersonnen. Er wollte sie schneiden. Tun, als wäre sie nicht vorhanden. Sie übersehen. Und doch sah er auf den ersten Blick, magisch angezogen, daß ihr Platz leer war.

Sie hatte nach reiflicher Überlegung mit ihrem Berater beschlossen, der Schule und dem Objekt ihrer Erpressung fernzubleiben, bis die Entscheidung gefallen war. Aus Feigheit. Wer konnte wissen, was Just ihr heute antat!

Schickte er heute abend das Aufsatzthema an die Postlager-Adresse, dann war alles gut. Dann fürchtete sie ihn nicht mehr. Dann war er ihr Bundesgenosse und ihr Gefangener, hatte sie ihn in der Hand. Dann würde sie mit einem ihrer häufigen, selbstfabrizierten Entschuldigungszettel am Donnerstag wieder antreten und den Aufsatz nur so hinlegen.

Wenn sie die Disposition hatte, konnte sie das Kunststück genau so gut wie die Haink und die Mayer. Nur diese verflixte Einteilung des Stoffes! Reden und schreiben konnte sie schon, wenn man sie nur auf den Weg stieß. Aber allein vor ein Thema gestellt, stand sie da wie vor einem steilen Gebirgsmassiv, das sie erklimmen sollte und zu dem, für ihr Auge, kein Kletterpfad führte. Doch mit einer Inhaltsanweisung als Bergführer ging es vortrefflich.

Ihr Sessel starrte Just leer und verlassen entgegen. Dann glitt sein Blick zu Utes Platz. Ihre Augen trafen sich in geheimem Gruß. Sie sah verhärmt und bleich aus, wie gestern. Noch schmäler schien ihm das Oval ihres Gesichts. Du Armes! dachte er, während er die Pflichten des Klassenlehrers erfüllte, Dina Quenz als fehlend eintrug und Irma Kiesel begrüßte, die heute nach glücklich überstandener Blinddarmoperation zum erstenmal wieder zur Schule gekommen war – du Armes! Wie wirst du erst leiden, wenn du heut nachmittag erfährst, daß unsere Liebe verraten ist, daß du die Schule verlassen mußt als Flüchtling, und wenn du Freitag hörst, daß ich einem Unfall erlegen bin!

Vielleicht bin ich aber nicht tot? wich sein Denken plötzlich ab, vielleicht bin ich nur zum Krüppel zerschunden. Oh, er würde es schon so einrichten, daß er ganze Arbeit tat. Autobusse rädern nachdrücklich. Ob Ute es glauben oder die Absicht durchschauen würde?

Die Klasse wurde unruhig. Ohne es zu wissen, hatte er, in entrücktes Sinnen verloren, vor ihr gestanden. Er raffte sich gewaltsam auf.

»Fräulein Mayer«, rief er überlaut, »bitte, beginnen Sie mit der Übersetzung!«

*

Um halb vier Uhr ging er zu der Konditorei in der Joachimsthaler Straße. So gern er seiner Familie die letzten Tage und Stunden seines Lebens widmen wollte, das Wissen um unwiderrufliche Trennung für immer quälte ihn in Julies und Gabys Gegenwart. Die Verstellung ging über menschliches Maß. Er hatte sich eine Aufgabe gestellt, die kaum durchzuführen war.

Noch lebten sie in froher Ahnungslosigkeit dahin. Aber wie lange würde er noch die Kraft haben, heiter und sorglos zu plaudern und jeden Verdacht bei Julie zu ersticken!

Er empfand den Weg zu seinem Stelldichein mit Ute als Befreiung von zermarternder Überwindung.

Sie würde bestimmt kommen. Ihr Blick am Schluß der letzten Stunde hatte es ihm gesagt. Er ging langsam. Es war noch früh. Er brauchte kaum eine Viertelstunde für den Weg. Er wollte an etwas Großes und Schönes denken in diesen letzten Stunden. Morgen, an seinem Todestage, wollte er den Mädeln noch einmal von Goethe sprechen. Ihnen Goethe als die letzte Vollendung des humanistischen Manschen schildern, des Menschen mit der Leidenschaft zum Leben und zum Ich. Und einige Lehren und Mahnungen daran knüpfen, daß sie in ihren engeren Grenzen dem großen Vorbild nacheiferten, immer strebend an sich arbeiteten, sich immer mehr zu vervollkommnen.

Da brachen seine Gedanken aus. Ein Autobus, der vorüberrasselte, riß sie an sich. Nein, nicht daran denken! Aber die aufgeschreckten Gedanken ließen sich nicht wieder einfangen. Plötzlich grübelte er darüber, wie es sein würde.

Den Stoß, den Zusammenprall, den kurzen tödlichen Schmerz konnte er sich noch vorstellen. Aber nachher – nachher, wenn dieses Irdische vorüber war! Unvorstellbar dieses Nichts. Ja. Ausgelöscht. Und Autos würden durch die Straßen tuten und Menschen gehen, wie die zwei da vor ihm, die Hände ineinandergeschlungen. Ja, die Liebe würde sein, die Liebe, die ihn ermordet hatte. Und Sorge – wie der Bettler dort – er gab ihm ein Markstück. Ja, auch die Sorge und Not würde weiter sich blähen und ihre Opfer fordern.

Er blieb an einer Straßenkreuzung stehen. Konnte nicht weitergehen. Ein Schreck wurzelte ihm die Beine in den Boden. In dieser Zeit der Unsicherheit, der furchtbarsten Krise wollte er Weib und Kind zurücklassen? Sie hatten eine Pension und die Versicherungssumme.

Wenn auch. Was bedeutete in dieser Periode eine kleine Geldsumme? Waren sie damit gegen die Wechselfälle dieser Notzeit gesichert? Er trotzte seinen Weg weiter. Wenn er ins Zuchthaus käme, blieben sie auch allein zurück. Schlimmer. Tragischer. Schmachvoll. Ohne Pension, ohne Versicherungssumme, geächtet, und mußten auch weiterleben. Er hatte alle Möglichkeiten geprüft und verworfen. Es blieb nichts anderes.

Er betrat die Konditorei, sie war fast leer. Er sah sofort, daß Ute noch nicht da war. Ganz hinten in einer Ecke wählte er den Platz, die Kellnerin kam. Ach so, natürlich, er mußte etwas bestellen. Das Leben ging noch weiter seinen gewohnten Gang. »Tee, bitte.« Er sah auf die Uhr. Es fehlten noch fünf Minuten bis vier. Gleich würde sie kommen. Ein Mensch ihrer exakten Tüchtigkeit war sicher pünktlich.

Er blickte zur Tür. Und dachte unvermittelt: bald wird Dina mit ihrem Geliebten auf das Postamt gehen, meinen Brief abzuholen. Bestien! Aber in Wahrheit empfand er keinen Haß gegen die Vernichter seines Lebens. Über Haß und Empörung war er nun hinaus. Menschen waren nun einmal gut und böse, beuteten einander aus. Vorbei.

Er blickte wieder auf die Uhr. Vier. Die Kellnerin brachte den Tee. »Danke sehr.« Er ließ ihn unberührt stehen. Seine Gedanken wanderten. Wenn man nur noch vierundzwanzig Stunden zu leben hat, gibt es noch viel zu denken.

Seltsam, er hatte doch, seitdem er verantwortlich denken konnte, seit den Studententagen schon, immer nach Läuterung, nach Vervollkommnung gerungen und endete nun so – tief im Morast. Mußte sterben, um nicht vom Amt gejagt, ins Zuchthaus geworfen zu werden, er, dessen höchstes Ziel es immer gewesen war, geistig und seelisch wertvolle Glieder der menschlichen Gesellschaft heranzubilden und zu erziehen. Und mußte im Straßendreck verrecken, bloß weil er ein schönes und edles Mädchen geliebt hatte. Deshalb mußte er sich in Schmach und Verachtung aus dieser verschrobenen Welt davonschleichen. Deshalb ein Leben der Selbstzucht und Lauterkeit verleugnen! Sonderbare Welt. Unverständlich doch im Letzten.

Er verlor sich in Grübeleien. Es wurde halb fünf, fünf. Kam Ute etwa nicht?! Dann war alles verrannt und verloren. Dann konnte er es morgen nicht tun, dann war alles zu spät, dann blieb Ute im Netz hängen, auch wenn er starb. Sie mußte die Schule verlassen haben, wenn der Brief sein Gift auszuströmen begann.

Er mußte sie sprechen, unbedingt. Alles hing davon ab. Wenn sie nicht kam? Mein Gott, warum kam sie bloß nicht? Vergessen? Ausgeschlossen. Wie konnte sie das vergessen? Etwas Zwingendes mußte sie zurückhalten. Ob er zu ihr gehen sollte? Selbst mit der Mutter sprechen? Wenn Frau Doktor Haink aber nicht zu Hause war? Ute hatte erzählt, sie käme immer erst spät aus der Praxis. Aber er mußte wenigstens Ute sprechen. Auf jeden Fall.

Er wartete, die Augen auf die Eingangstür geheftet. Er faßte Beschlüsse. Bis um halb sechs wollte er noch warten. Wenn sie dann nicht gekommen war ...

Da wurde die Tür des Lokals aufgestoßen, als werfe sich jemand mit dem vollen Gewicht seines Körpers gegen sie. Ute taumelte in den Raum.

Doch nicht die Ute, die er erwartete. Eine Ute, die offenbar alles schon wußte, was er ihr hier enthüllen wollte. Sie, die immer die Gepflegtheit in Person war, die stets vor Blankheit schimmerte, stürmte herein, den Kopf unbedeckt, das Haar stumpf und zerwühlt, den Mantel offen und flatternd, das feine Gesicht gerötet und entstellt.

Die Konditorei war jetzt leer. Nur die Kellnerin starrte verdutzt und neugierig auf den verwilderten Gast.

Just sprang auf, war bei ihr.

»Ute!«

»Ulrich – etwas Grauenvolles –« Sie sank in einen Stuhl.

Er begriff nicht, woher sie es erfahren hatte. Sollte Dina Quenz ... um durch Ute einen Druck auf ihn auszuüben?! Ehe er fragen konnte, stöhnte sie: »– Meine Mutter – ist – verhaftet – worden!«

Die jähe Schreckenskunde warf Just in den Stuhl zurück. Er vergaß im Augenblick, daß er auf eine ganz andere Nachricht von ihr gefaßt war. Ihr Elend scheuchte sofort alles andere Leid in Dunkel und Vergessenheit.

»Deine Mutter?!« fragte er leise und entsetzt.

Ute warf den Kopf zurück, daß die Haare im Licht der Deckenbeleuchtung silberten wie die weißen Flügel einer Möwe, die im Sonnenschein ihre Kurven schlägt.

Die Kellnerin kam. »Einen Augenblick«, wehrte Just und winkte sie beiseite. Sie ging ungern. Mit dem Mädchen da war doch was los! Wahrscheinlich bekam sie von dem hübschen Mann ein Kind oder so. Das kannte man schon.

»Ute – faß dich – erzähl mir«, bat er.

»Eben haben sie Mutter – geholt.«

»Ute!« Verworren mischte sich in seinem aufgescheuchten Hirn sein Vergehen mit dieser Verhaftung. Duplizität der Ereignisse, dachte er benommen, wie oft, wie immer fast.

Ute sprach jetzt stockend und stammelnd. Sie suchte sich zu meistern. Aber ihre Fassungslosigkeit über das Ungeheuerliche, das vor wenigen Minuten in ihr junges Dasein hereingewirbelt war, stand jenseits der Beherrschung.

Sie erzählte alles. Wiederholte die Beichte, die ihr die Mutter am Tage der Heimkehr von der Ostsee abgelegt hatte. Erzählte von der Tat der Mutter in ihren jungen Tagen.

Just lauschte wortlos in Erregung und Ergriffenheit.

»Und heut nacht war es Mutter, als höre sie Vater rufen. Sie schläft im Nebenzimmer. Eilte zu ihm.«

Eine neue Tränenflut überspülte die Worte. Just streichelte stumm die Hand, die zuckend auf der Tischplatte lag.

Mutter hatte sich geirrt. Vater schlief. Sie merkte es erst, als sie sich über ihn beugte. Auch die Schwester war eingeschlafen. Er ist ja in Wirklichkeit kein Schwerkranker.

Da wachte Vater auf. Sah die Mutter über sich gebeugt. Schrie furchtbar auf. Entsetzen schüttelte ihn. Er glaubte, sie wolle ihm etwas zuleide tun. Ihn heimlich umbringen – aus Liebe. Ihn von seinen Qualen – seinen eingebildeten Qualen – erlösen. Mutter sah es. Beruhigte ihn und hastete hinaus. Er selbst hat mir alles erzählt, als sie die Mutter weggeführt hatten.«

Wieder weinte sie. Er streichelte ihre Hand. Sein eigenes Leid war verblaßt.

»Und dann, als die Mutter aus dem Schlafzimmer gegangen war, hat die Todesangst ihn übermannt. Ihn wirr und sinnlos gemacht. Jetzt begreift er selbst nicht mehr, daß er es hat verraten können. Die Schwester war von seinem Schreckensschrei aufgewacht. Da hat er aufgeheult: ›Meine Frau will mich töten!‹ Die Schwester hat natürlich geglaubt, er habe Wahnvorstellungen. Hat versucht, ihm den Wahnwitz auszureden. Da hat er geschrien – die Schwester hat es mir jetzt zu ihrer Verteidigung wörtlich berichtet – ›ich sage Ihnen doch, ich weiß genau: aus Liebe will sie mich umbringen‹. Dann hat er ihr in seiner irren Todesangst alles erzählt.«

Sie schöpfte aufschluchzend Atem. Just nickte, begriff.

»Heute früh hat die Schwester, klatschhaft war sie immer, unserem Dienstmädchen die Sensationsnachricht überbracht. ›Denken Sie, Frau Doktor hat ihre Mutter ermordet‹. Jetzt sind sie alle außer sich vor Reue. Keiner hat sich etwas dabei gedacht.«

»Natürlich.«

»Das Mädchen hat es, als sie einholen ging, der Portierfrau weitergegeben. Die hat es brühheiß ihrer Gemüsefrau auf dem Markt zugetragen. Von ihr hat es die Kriminalpolizei erfahren.«

Just nickte wieder.

»Heut nachmittag gegen drei, als Mutter grade in die Sprechstunde fahren wollte – sie war schon zum Ausgehen angezogen – kamen zwei Herren.«

Ute griff nach der Tasse Tee, die er sich während des Wartens eingegossen hatte, und trank gierig den kalten Inhalt. Sie sprach keuchend weiter.

»Ich öffnete die Tür. Einer der Männer fragte, ob Mutter zu Hause sei. Ich glaubte, es wären Patienten, die sich in unsere Privatwohnung verirrt haben. Wollte Mutter rufen. Ich hatte keine Ahnung, daß das, was sie mir erzählt hatte, die Polizei anging. Aber die Männer drängten in den Flur, Mutter war grade bei Vater, ihm adieu sagen. Sie folgten mir, kamen hinter mir her bis ins Schlafzimmer. Ich hatte die krause Vorstellung eines Einbruchs. Wollte mich ihnen entgegenstellen.

Da sagte der eine von ihnen:›Kriminalpolizei‹ und zeigte etwas vor. Wir standen in der Tür des Schlafzimmers. Da schrie Vater auf. Er wußte sofort, was dieser Auftritt bedeutete. Mutter auch.«

Just wollte etwas sagen, fand aber keine Worte. Auch er hatte die Vision einer uralten griechischen Schicksals-Tragödie. Wieder nahm Ute die Tasse. Sie war leer. Er goß rasch ein. Ute fuhr fort:

»›Es ist der Polizei zu Ohren gekommen‹, sagte der eine, ›Sie haben Ihre Mutter getötet, Frau Doktor Haink.‹

Vater rief: ›Es ist nicht wahr‹. ›Doch‹, sagte Mutter. Sie war ganz weiß im Gesicht, aber unbegreiflich ruhig. ›Es ist nicht wahr!‹ schrie Vater. ›Ich habe gelogen. Es ist nicht wahr!‹

›Es ist wahr‹, sagte Mutter. Sie sah wunderbar aus. Viel größer als sonst. ›Ich werde dafür einstehen.‹

Vater gebärdete sich verzweifelt. Die Schwester drückte sich schuldbewußt in eine Ecke. Mutter suchte Vater zu beruhigen. Ich weiß nicht mehr, was sie gesagt hat. Ich stand dabei und hatte das Gefühl, daß ich träume, daß alles gar nicht wirklich geschah.

Dann fragte der eine Beamte: ›Wann ist Ihre Frau Mutter ... gestorben?‹ ›1912, am 5. März‹, sagte Mutter. ›Also fehlen fünf Monate an der Verjährung‹, stellte der Mann fest, bedauernd, glaube ich. Und dann sagte er: ›Ich muß Sie leider wegen dringenden Verdachts des ...‹ Ute ächzte, als stöhne sie ihr Herz mit heraus – ›Muttermordes verhaften‹.«

Just umklammerte Utes Hand.

»Ich war so betäubt«, jetzt weinte Ute hemmungslos, »daß ich nichts weiter deutlich weiß. Mutter küßte Vater – er klammerte sich weinend an sie, flehte um Vergebung – man mußte Mutter von ihm losreißen – dann küßte sie mich, sagte etwas. Ich hörte alles nur wie durch dicke Wände.«

Er nickte stumm vor sich hin.

»Dann hatten Männer sie weggeführt. Es ging alles so schnell. Ich kam erst zur Besinnung, als sie schon weg war. Stürzte hinterher. Aber sie saß schon im Auto, als ich auf die Straße kam, und fuhr ab. Ich sah noch, wie sie mir zuwinkte. Die Portierfrau und einige andere Menschen standen zusammengeklumpt vor der Tür. Jemand sagte mir, er hätte gehört, daß einer der Kommissare zum Schofför gesagt habe: Polizeipräsidium.«

Ihre letzten Worte ertranken in ersticktem Weinen.

»Furchtbar«, flüsterte Just.

Die Kellnerin war ganz nah an den Tisch herangeschlichen und nahm mit Auge und Ohr an der Erzählung teil. Das war allerdings etwas Neues. Eine Mordgeschichte! Das hatte sie in ihrer kleinen Konditorei im Berliner Westen denn doch nicht erwartet.

Ute schleppte ihre Bürde weiter. »Ich war völlig ratlos. Rannte hinauf, Vater zu trösten. Er war aufgestanden – zum erstenmal – seit Wochen – schien ganz gesund, nur im Bann seiner Hypochondrie – er raste – verfluchte sich und die Schwester – sie suchte sich heulend zu verteidigen – er warf sie hinaus – seit Jahren habe ich ihn nicht so tatkräftig gesehen – er erzählte mir alles – dann brach er zusammen, ich brachte ihn zu Bett und lief zu dir.«

»Ute – mein Kind – mein Geliebtes«, raunte er erschüttert, fassungslos.

»Was soll geschehen? Ich muß handeln. Mutter helfen. Du mußt mir raten!«

Doch da zerbrach ihre Kraft, sie fiel, jetzt, nachdem sie alles gesagt hatte, an dem Helfer und Schirmer zusammen. Er hielt ihr feuchtes Gesicht in beiden Händen, zu einer Vorsicht vor der Kellnerin war die Lage zu groß und zu ernst.

»Ich werde dir helfen, Ute«, flüsterte er eindringlich. »Alles wird noch gut werden. Das ist kein Mord. Wir werden kämpfen. Das ist Menschengröße und letzte Pflicht des Arztes.«

Sie hob ihr Gesicht aus seinen Händen. »Auf Vater können wir nicht rechnen«, klagte sie und sah ihn doch erwartungsvoll an. Die Tränen an ihren langen Wimpern glänzten.

»Ich mach schon alles«, tröstete er. »Laß mich überlegen. Das ist kein Mord. Das kann kein Mord sein. Das wäre die empörendste Ungerechtigkeit.«

Der Streiter für Freiheit des Gedankens und Menschenrechte stand in dem Manne auf, der morgen sterben mußte. »Vor allem müssen wir einen hervorragenden Verteidiger bestellen.«

»Daran habe ich auch schon gedacht.«

In diesem Augenblick erst fror die Erinnerung an sein verlorenes Leben Just durch das Rückenmark! Das Gefühl war grausig unerträglich. Herr im Himmel! Er mußte Ute doch von dem Verrat Dinas erzählen und allen seinen entsetzlichen Folgen! Daß sie die Schule sofort, morgen schon, verlassen mußte. Und er mußte morgen sterben, wenn er nicht auch verhaftet werden wollte, um dann ins Zuchthaus zu wandern. Und sie, Ute, würde zu all dem Schmerz um die Mutter noch an den Pranger gestellt werden, wenn er sich nicht vor den Autobus warf!

Blitzhaft sah er alles Weitere. »Eine feine Familie!« würden sie quieken, die Menschenratten. Die Mutter eine Mörderin, die Tochter eine Dirne. Entsetzlich. Aber ganz unmöglich, ihr das jetzt zu sagen. Zu viel Unglück durfte man auf einen Menschen nicht häufen. Wie sollte sie es ertragen, mit ihren neunzehn Jahren – diese Katastrophen, unter denen ein ausgereifter Mensch zusammenbrechen muß? Unmöglich, ihr das jetzt auch noch ins Gesicht zu schleudern. Völlig unmöglich. Das war Mord.

»Laß mich überlegen«, wiederholte er und legte die Hände wie ein Schutzdach gegen seinen verratenden Gram vor das Gesicht.

»Du wirst sicher Hilfe finden«, sagte sie ruhiger, kindlich andächtig.

Er sann scharf und rasch. Die furchtbare Not des Augenblicks gab ihm übernatürliche Kraft und Helle des Geistes. Selten war ein Mensch in gefährlichere Enge getrieben worden. Nein, sagen konnte er es ihr nicht, Gemeinheit. Feigheit. Brutalität. Alles sah im Augenblick anders aus. Er durfte nicht sterben, konnte sie in ihrem Kummer und ihrer Hilflosigkeit nicht verlassen. Er war ihr einziger Beschützer und Beistand.

Aber was! Aber was, um Himmels willen?! Es war jetzt nach sechs. Um sieben, wenn die Post geschlossen wurde, lief die Frist ab, die Dina Quenz ihm gesetzt hatte. Wenn sie seinen Brief mit dem Aufsatzthema bis dahin nicht vorfand, würde sie an Börner schreiben. Dieses Schreiben an den Direktor mußte verhindert werden. Unter allen Umständen.

Dieses eine drohende Unglück mußte weggeräumt werden, koste es, was es wolle. Es war noch nicht geschehen. Durfte nicht geschehen. Das andere war schon geschehen. Ging schon unaufhaltsam seinen schicksalsschweren Gang. Das hier mußte noch im Keime erstickt werden. War noch am Start. Durfte nicht abgelassen werden. Zwei solche Katastrophen zugleich waren zuviel – zuviel für jede menschliche Tragfähigkeit.

Er hörte Utes leisen Atem. Sie schwieg, voller Vertrauen und Hoffen in seine Helferkraft. Er war so sicher, so besonnen, so weise. Er spürte ihre Gedanken. Wie sollte er helfen? Er war doch ein toter Mann, nur noch hier auf Urlaub vom Tode. Urlaub von der Ehe, spukte es ihm narrend durchs Hirn. Weg damit! Denken. Tiefer denken, hinabsteigen zu den letzten, allerletzten Möglichkeiten.

Ein Mann kam herein. Just nahm die Hände vom Gesicht. Es war ein fahles Märtyrerantlitz. Ute sah es. »Du Armer«, flüsterte sie, »so hat es dich ergriffen!«

Er hörte sie nicht. Er sah nur den Zeitungshändler hinter Ute, der ihm das Abendblatt anbot. Er sah nur die fettgedruckte Schlagzeile:

Eine bekannte Berliner Ärztin
verhaftet.

Er winkte den Mann hastig weg. Ute hatte nichts bemerkt.

Die Verhaftung war also schon öffentlich bekannt. Die Minuten stäubten davon. Bis um sieben mußte alles entschieden sein. Dina Quenz hieß die fordernde Losung. Ach, dieses Biest! Er mußte verhindern, daß sie den Brief schrieb. Klein beigeben? Ihr das Aufsatzthema verraten? Unmöglich. Auch jetzt noch unmöglich. Betrügen, die anderen Schülerinnen betrügen, sein Amt in den Dreck trampeln, sein Leben als Erzieher – nein, nein, nein! Das konnte kein grausamstes Schicksal von ihm verlangen. Das nicht. Aber wie – wie?

Und plötzlich brach Licht in das mörderische Dunkel, das ihn umrauschte. Eine göttliche, eine menschliche Erleuchtung. Das! Daß er daran nie gedacht hatte, bis zu diesem Augenblick! Daß er verbohrt und verstockt darauf nicht sofort gekommen war! Weil Zorn und Haß, ja, doch Haß, und Überhebung und Verachtung ihn geblendet hatten. –

Natürlich. Er mußte Dina an dem Postamt abfassen. Ruhig und vernünftig mit ihr sprechen. An das Gute in ihr appellieren. Gutes steckt in jedem Menschen. Verschüttet vielleicht, verschmutzt, angerostet von Schlechtigkeit. Aber wozu war er Erzieher? Wozu? Warum hatte er gleich in Erbitterung und Hochmut die Flinte ins Korn geworfen und nur an Flucht und Entrinnen gedacht, statt an Mühe und Arbeit und seine Erzieherpflicht? Er würde Dina Utes verzweifelte Lage vorstellen. Er durfte darüber sprechen. Es stand heute abend in allen Zeitungen. Aber wenn er Dinas menschliches Gefühl packen wollte, mußte er ganz Mensch sein, weiter nichts sein, als was alle schließlich sind auf dieser Nußschale Erde: armer, demütiger, hilfebedürftiger Mensch.

»Was ist?« fuhr Ute auf, erschreckt über die Heftigkeit des Aufbruchs.

»Ich muß weg, Ute. Frag nicht. Etwas ungeheuer Wichtiges – auch für deine Mutter und dich.«

»Warum sollte ich fragen?« sagt sie schlicht. »Du weißt sicher, was zu tun ist.«

»Ich rufe jetzt zunächst einen Verteidiger an. Melde uns für – sagen wir acht Uhr an.«

»Wie du meinst.« Sie hatte ihrer Mutter und ihr eigenes Los in seinen Händen geborgen.

»Wo wollen wir uns treffen, Ute?«

»Wenn es dir recht ist, möchte ich nach Haus – sehen, was Vater macht.«

»Gut. Ich hole dich ab, sowie ich fertig bin. Etwa in einer Stunde. Und, Ute, wenn du das Geld für den Vorschuß bei dem Anwalt nicht zur Hand hast, ich habe Geld bei mir.«

»Nein, danke, du Lieber«, wehrte sie hastig. »Wir haben Geld zu Haus.«

Er zahlte. Sie gingen. Er setzte sie in ein Auto.

»In deiner Nähe habe ich so große Hoffnung, daß alles gut geht«, sagte sie, als er den Wagenschlag schloß.

*

Er fuhr zum Postamt. Die Welt hatte ein anderes Gesicht. Utes Not hatte alles verwandelt. Schranken waren umgestürzt, Schranken von seinem Denken und Gefühl. Er sah wieder neue Wege.

Dina Quenz war doch kein Unhold. Das Mädel war betört, vielleicht verführt von dem schlimmen, europafremden Einfluß ihres Verführers in der Liebe. (Nicht auf andere Steine werfen. Verführer war grade für ihn ein sehr gefährlicher Ausdruck. Hatte er Ute »verführt«? Nicht verurteilen.)

Er zwang sein Denken zurück auf die verlassene Fährte.

Plötzlich aus dem Rasseln des Autos, summte ihm das Wort seines Schutzpatrons Goethe entgegen:

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß.

Oh, er würde sich die Freiheit, die Freiheit von Zuchthausmauern, erobern und das Leben. Jetzt hatte er alle Kleinheit und Feigheit und Verzagtheit überwunden.

Und dann – trotz allem – um sich zu retten, hätte er sich nie so weit überwunden und gedemütigt, mit der Erpresserin zu verhandeln und zu paktieren. Nur für Ute konnte er es tun.

Und für Julie? Für Julie nicht?! Er fühlte einen Stich tödlicher Schuld tief in der Brust.

Plötzlich fiel ihm ein, welches Unheil verhütet, wie viele Leben gerettet werden könnten, wenn Selbstmörder ihre letzte Energie auf die Erhaltung, statt auf die Vernichtung ihres Daseins richten wollten.

Der Wagen hielt. Er eilte in das Postamt. Dina Quenz war nicht dort. Sie kommt, dachte er ohne Bestürzung. Sie war gewiß schon einmal, vielleicht schon öfter hier gewesen. Aber vor sieben kommt sie sicher noch einmal. Jeder würde es bis zum letzten Augenblick versuchen. Leicht fällt ihr die Gemeinheit sicher nicht. Sie will sich retten, sie wird bis zur letzten Sekunde hoffen, daß die Rettung aus ihrer Examensmisere doch noch eintrifft und der Sprung in das Böse ihr erspart bleibt. Ein Bösewicht aus Anlage ist sie so wenig wie ich, dachte er bitter. Nur eine Gelegenheitsverbrecherin – wie ich – wie so viele – viele, wenn ein Zwang, eine Leidenschaft sie treibt.

Er ging hinaus auf die Straße, schritt auf und nieder. Da ergriff ihn Staunen über sich, über das Leben. Wenn dieses Unheil mit Utes Mutter nicht eingetreten wäre, würde er blind in den Tod gerannt sein. Unfehlbar. Ja, aber was war mit den Menschen, daß sie im nächsten Augenblick alles anders sahen, lebensentscheidende Dinge aus ganz anderen Gesichtswinkeln betrachteten? Um Haaresbreite war er am Tod vorbeigegangen. Durch den Zufall der Verhaftung Frau Hainks. Durch den unglaubhaften Zufall, daß neunzehn Jahre und sieben Monate nach dem Tode ihrer Mutter ihre Tat aufkam.

Zufall? War das alles blöder, irrer Zufall? Oder Bestimmung? Doch Bestimmung in der Hand einer unheimlichen titanischen Macht? Oder war es doch nur das Leben, das eben grotesk ist und bunt, ein Kaleidoskop?

Er blickte die Straße hinab. Nichts zu sehen. Wenn Dina nicht kam? Wenn sie schon dagewesen war und in Trotz und Wut – wie er, wie er – nicht wiederkam, sondern zu nie wieder gutzumachendem Tun stürmte, wie er, wie er es geplant hatte! Was dann? Konnte er zu ihr gehen? Im Telefonbuch die Adresse nachsehen und hineilen?

Ja, jetzt konnte er alles tun. Aber sie war sicher nicht zu Haus. Sie war ohne Zweifel bei dem Mann. Beriet mit ihm, verfaßte das Unglücksschreiben mit ihm. Er hatte keine Ahnung, wie der Mensch hieß und wo er wohnte. Bei ihr anfragen, war unausführbar, auch zwecklos. Wenn sie nicht kam! Morgen früh war es sicher zu spät. Sie kam bestimmt auch morgen nicht zur Schule.

Er ging wieder auf und ab. Mit der wachsenden Angst um ihr Ausbleiben schwand auch seine Zuversicht und sein Glaube an das ewig siegreiche Edle im Menschen. Wenn sie gar kam und seine Worte an ihrer gepanzerten Schlechtigkeit abprallten? Wenn ...

»Guten Abend, Herr Doktor«, rief laut und selbstbewußt wie immer Dinas Stimme hinter ihm.

Just wandte sich um, nicht so verräterisch hastig, wie der Reflex in seinem Gehirn es wollte. Er bewahrte Besinnung und Beherrschung genug zu scheinbarer Gleichgültigkeit. Wenige Schritte hinter ihm stand klein und zierlich und keß Dina Quenz ohne ein Zeichen der Gespanntheit oder Verwirrung. Donnerwetter, hat das Mädel Nerven! Sie imponierte ihm, gegen seinen Willen. Doch als er auf sie zuging, zuckten ihre Lider, als erwarte sie Schläge, aber Schläge, die sie erwidern würde.

Neben ihr stand, lang, elegant, schlank, geschniegelt, Don Felipe. Er zog mit südländischer Grandezza die schwarze Melone.

Just grüßte artig, aber zurückhaltend, mit einer gewissen Würde, die er selbst sofort als töricht empfand. Dann gab er beiden die Hand.

»Ich bin selbst gekommen, wie Sie sehen«, begann er mit einem kleinen, nachsichtigen Lächeln, »diese verfahrene Angelegenheit ins Gleis zu bringen.«

Serrano verbeugte sich höflich. »Wir würdigen Ihr Entgegenkommen sehr.«

»Ich möchte mit Fräulein Quenz allein sprechen«, erklärte Just verbindlich.

Ihr wurde unbehaglich. »Ich möchte doch, daß Herr Serrano –«

»Ich habe mit Ihnen allein zu sprechen«, wiederholte Just nachdrücklicher. Der Lehrer in ihm, der gewohnt war, zu befehlen und Gehorsam zu finden, reckte sich unwillkürlich.

»Ich versteh das sehr gut. Ich werde mich verabschieden«, erledigte Don Felipe den Zwischenfall.

Er war im Grunde seines Herzens froh, zu entkommen. Die ganze Sache war ihm mehr als peinlich. Man war in Berlin und hatte das Ansehen der Gesandtschaft immerhin zu wahren. Er hatte seine Pflicht als cavaliere servente getan. Der Feind kam, sich auf Gnade und Ungnade zu unterwerfen. Dabei war er überflüssig. Er zog den Hut und ging davon, etwas schneller, als ein gewiegter Diplomat gehen sollte, wenn er nicht verraten will, wie gern er sich aus dem Staube macht.

Dina lief ihm rasch entschlossen nach. Hemmte seine Flucht.

»Du kannst mich doch jetzt nicht mit ihm allein lassen!« fuhr sie ihn zornig an.

»Siehst du nicht, daß ich störe nur?« stellte er ihr einsichtig vor. »Was soll ich dabei? Er ist gekommen. Bien. Mehr als wir erwartet haben. Er zeigt mit seinem Kommen, er will alles tun, was wir verlangen. Was brauchst du mich bei das Aufsatzthema?«

Sie erwog. Felipe hatte im Grunde recht. Daß er persönlich gekommen war, bedeutete völlige Kapitulation. Was sollte Felipe wirklich dabei!

»Laß ihn nicht warten«, mahnte der Attaché. »Gegen den geschlagenen Feind ist Ritterlichkeit eine Pflicht und Ehre.«

»Bis morgen«, flüsterte sie und eilte zurück.

»Gehen wir ein Stück«, schlug Just harmlos vor und nahm die Richtung auf Utes Wohnung. Das verkürzte ihre Wartezeit.

Er sprach noch nicht.

Dina ging forsch und unbefangen neben ihm her. Doch in Wahrheit war ihr plötzlich durchaus nicht geheuer zumute. Ihre Keckheit entglitt ihr. Jetzt, da sie mit ihm allein war in dieser Straße Berlins, war Just durch eine mystische Verwandlung nicht mehr der Parlamentär mit der weißen Fahne, der gekommen war, die Festung zu übergeben. Er war plötzlich wieder der Studienrat Doktor Just, ihr Klassenlehrer, der die vernichtende Macht der Fünfen, wie Zeus die Blitze, handhabte, der Inhaber der Schulgewalt, unter die sie sich fast dreizehn lange Jahre – in Obertertia war sie sitzengeblieben – gebeugt hatte. Gewohnheit, Disziplin, lang trainiertes Untertanentum übten ihre magische Gewalt.

Aber sie wollte sich nicht unterkriegen lassen. Dummheit! Sie hatte ihn doch in der Hand. Sie hatte endlich ihre große Chance. Nicht sich ducken lassen! Aber sie erkannte ohne Freude, daß es doch viel leichter war, aus der Ferne und Geborgenheit zu drohen und andere Personen mit Erpressungen und Ultimaten an Just zu entsenden, als ihm Gesicht zu Gesicht entgegenzutreten.

Da begann Just zu sprechen. Ganz ruhig, ganz gelassen, wie er in der Klasse bei nichtigen Anlässen redete. Nicht wie er sprach, wenn er Vortrag hielt. Da brannte die Stimme. Es klang, als wenn er fragte: wer fehlt heute, Klassenerste?

»Sie haben mir durch den Herrn, der soeben die Liebenswürdigkeit hatte, sich von uns zu verabschieden, einige seltsame Dinge sagen lassen, Dina Quenz?«

Sie nickte übertrieben resolut.

»Ich meine, es ist unter unserer beider Würde, diese Dinge zu berühren.«

»Wie meinen Sie das, Herr Doktor?« Sie sah verdutzt zu ihm auf, merkte selbst ihre bestürzte Verblüffung, ärgerte sich und fügte deshalb barsch hinzu: »Ich verstehe Sie nicht.«

»Sie werden schon verstehen. Ich verstehe Sie ja auch. Sie sind in Verzweiflung wegen Ihrer Prüfung. Sehr begreiflich. Aber Sie haben sich in Ihrer Examensangst – sagen wir – vergaloppiert.« Just sah aus seiner körperlichen Höhe auf die kleine Person herab. Wegen dieses Mädels wäre er beinahe in den Tod gerannt. Es erschien ihm schon ganz unwahrscheinlich und grotesk. Wie sie da neben ihm herging, den Kopf gewollt frech hochgereckt, das Kinn possierlich keck herausgespitzt, war sie gewiß kein ebenbürtiger Gegner und sicher kein Grund zum Sterben.

»Wieso? Weil Sie auf dem Holzwege sind, mein Kind.«

»Ich –«

»Lassen Sie mich gefälligst aussprechen. Dann kommen Sie an die Reihe. Oder wollen Sie zuerst reden?«

Sie überlegte, fand noch nichts zu sagen und suchte zu scherzen: »Nach Ihnen, Herr Doktor.«

»Sie inszenieren da eine gewaltige Affäre um Dinge, die Sie auf anderem anständigerem Wege viel leichter erreichen könnten. Wenn Sie ...«

»Wie denn?« schnitt sie ihm ins Wort.

»Indem Sie sich auf Ihre werte Sitzgelegenheit setzen und Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit tun.«

Da wandte Dina das Gesicht, das sie bisher gradeaus gerichtet hatte, zu ihm auf. Seine Ruhe und Überlegenheit erboste sie. »Mit Ratschlägen bin ich versehen«, heuchelte sie Frechheit, aus Furcht vor einer Niederlage. »Wenn Sie nur gekommen sind, mir das zu sagen –«

»Oh, nein. Ich habe Ihnen noch allerhand zu sagen.«

»Bitte!« Sie schob den Kopf unverschämt erwartungsvoll vor.

»Sie sind begabt. Sehr begabt. Aber faul. Sie brauchen, um das Erstrebte auf ehrliche Art zu erreichen, nichts weiter zu tun, als unter Anspannung aller Ihrer Fähigkeiten zu arbeiten und –«

Sie unterbrach wieder. »Glauben Sie nicht, Herr Doktor Just, daß ich mir alles das mit einiger Selbsterkenntnis selbst hätte sagen können? Dazu brauchte ich Sie wirklich nicht zu bemühen.«

»Schade, daß Sie dieses bißchen Selbsterkenntnis nicht aufgewendet haben.«

Sie schluckte erbittert, wandte den Kopf mit dem schicken Jägerhütchen hin und her und sagte gepreßt:

»Herr Doktor, ich bin nicht gekommen, mich von Ihnen verhöhnen zu lassen.«

»Ich verhöhne Sie nicht.«

»Sie verkennen anscheinend die Lage. Es ist mir durchaus ernst mit dem, was ich Ihnen habe sagen lassen. Ich habe nicht die geringste Lust, mich noch ein Jahr auf der Schule herumzudrücken. Verstehen Sie?«

»Sehr verständlich.«

»Also?!«

»Müssen Sie arbeiten.«

»Das nützt mir nichts.«

»Haben Sie es schon versucht?«

Sie blieb stehen. »Herr Doktor, so kommen wir nicht weiter. Ich bin keine dumme Jöhre, die Sie hier auf der Straße mit Ihrem überlegenen Spott abtun können. Ich kenne die Stärke meiner Position genau. Wollen Sie mir helfen oder nicht?«

»Ich will. Aber deshalb brauchen wir nicht mitten auf dem Bürgersteig stehenzubleiben.« Er ging weiter, sie folgte zaudernd.

»Sie wollen?« rief sie zwischen Hoffen und Zweifel.

»Natürlich will ich. Deshalb bin ich doch gekommen.«

»Sie wollen mir das Aufsatzthema geben?«

»Das glauben Sie doch wohl selbst nicht.«

»Was denn?«

»Kommen Sie, kommen Sie. Bleiben Sie nicht immerzu stehen. Können Sie nicht im Gehen sprechen?«

»Wohin führen Sie mich?« fragte sie und hatte Vorstellungen von Polizei und Verrat und Arglist.

»Irgendwohin.«

»Ich geh nicht einen Schritt weiter. Sie wollen mich in eine Falle locken. Aber ich durchschaue Sie. So dumm, wie Sie denken, bin ich nicht.«

»Ich fürchte, dümmer. Denn ich hielt Sie bisher für klug.«

»Lassen Sie jetzt diese Scherze. Sagen Sie mir klipp und klar, ob Sie mir den Aufsatz geben wollen oder nicht.«

Er ging weiter. Sie lief hinter ihm her.

»Aber bitte, jetzt: ja oder nein!«

Er empfand längst, daß die Unterhaltung einen anderen Kurs nahm, als er gedacht und geplant hatte. Er war ohne Wollen zum schulmeisternden Lehrer geworden. Das lag nicht in seiner Absicht. Er wollte als Mensch zum Menschen sprechen. Weiter nichts. Daher sagte er ernst einlenkend: »Würden Sie das an meiner Stelle tun, Dina Quenz?«

»Ich bin kein Studienrat.«

Ihre Frechheit stachelte ihn wieder auf.

»Dieser Umstand ist mir nicht entgangen«, entgegnete er rückfällig werdend. »Aber, wenn Sie einer wären.«

»Das weiß ich nicht.«

»Doch, Sie wissen schon.«

»Wenn ich müßte, würde ich es tun.«

»Aber ich muß nicht.«

»Doch müssen Sie«, flammte sie auf. »Glauben Sie nicht, daß ich spaße.«

»Das glaube ich gar nicht. Dazu ist die Sache viel zu ernst.«

»Warum scherzen Sie dann in einem fort?«

»Ich scherze nicht. Ich nehme Ihre Drohung nur nicht tragisch.«

»Es wäre aber gut, Sie nähmen sie tragisch. Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen. Sie wollen mich dumm reden. Aber Sie unterschätzen mich. Ich bin nicht so weit gegangen, um nun einen Zurückzieher zu machen. Wollen Sie mir jetzt den Aufsatz geben oder –?«

Er riß sie zurück. Sie überquerten grade den Damm. Im unachtsamen Eifer ihrer neuen Drohung wäre sie beinahe von einem Auto erfaßt worden. Es durchzuckte ihn, daß er gestern sekundenlang ihren Tod erwogen hatte.

»Nein«, sagte er fest, »das Aufsatzthema gebe ich Ihnen nicht.«

»So. Und wenn ich wieder eine Fünf schreibe?«

Er zuckte die Achseln.

»Dann stellen Sie mich vom Examen zurück.«

»Es bleibt mir keine andere Wahl.«

Sie blieb wieder stehen. »Danke«, stieß sie hervor, »dann weiß ich Bescheid.«

»Kommen Sie, ich muß Ihnen noch etwas sagen.«

»Wohin führen Sie mich?« Der Argwohn stand wieder in ihren stumpfen, dunklen Augen.

»Wenn Sie es durchaus wissen müssen, zu Ute Haink.«

»Was soll ich da?« entsetzte sie sich.

»Sie, gar nichts. Sie begleiten mich nur bis zu ihrem Haus, weil ich eilig zu ihr gehen muß. Wir können unterwegs ebensogut plaudern wie anderswo. Ich gehe zu Ute Haink, weil ihr etwas Furchtbares zugestoßen ist.«

»Ute Haink?!«

»Da.« Er reichte ihr die Abendzeitung, die er während des Wartens gekauft hatte.

Dina las unter einer Laterne. Ihre Augen weiteten sich. Dann gab sie Just das Blatt zurück.

»So was!« stammelte sie. »So was! Die eigene Mutter – hat ihre Mutter umgebracht! Ich habe immer das Gefühl gehabt, daß an Ute irgend was Unheimliches ist.«

»Reden Sie keinen Blödsinn!« herrschte er sie an.» Nichts haben Sie gefühlt. Sprechen Sie doch nicht so albern daher. Erstens ist es, meiner Meinung nach, überhaupt kein Mord. Zweitens –«

»Glauben Sie, daß es dabei auf Ihre Meinung ankommt?«

Da ging Just endlich zum Angriff vor. »Dina Quenz«, fragte er leise, aber sehr eindringlich, »wollen Sie zu diesem Unglück Ihrer Mitschülerin noch ein anderes schweres Leid fügen?«

»Aber Herr Doktor«, trotzte sie, »ich kann doch nichts dafür, daß ihre Mutter eine Mörderin ist!«

»Sie ist keine Mörderin. Aber sonst haben Sie durchaus recht. Sie können nichts für diese Tragödie im Hause Haink. Sie können aber alles dafür, wenn Sie jetzt hingehen und Ute Haink neuen Kummer bereiten.«

»Das will ich doch nicht«, wehrte sie sich heftig. »Sie wollen es, Sie, der Ute tausendmal näher steht als ich.«

Sie fühlte, daß sie Oberwasser hatte. »Warum reden wir solange hin und her. Ich will Ihnen und Ute doch nichts tun. Wozu? Warum? Ich will mein Examen Ostern machen und von der Schule kommen. Weiter nichts. Ute interessiert mich dabei nicht soviel. Von mir aus kann sie sich dem Gram um ihre Mutter hingeben, soviel sie will. Komplizieren Sie doch die Dinge nicht. Geben Sie mir den Aufsatz, und alles –«

»Halt, Dina. Sie verlangen etwas von mir, was kein Lehrer gewähren kann. Darüber brauchen wir nicht ein Wort weiter zu verlieren. Sie kennen mich. Ich mache keine leeren Worte. Das Aufsatzthema bekommen Sie nicht. Die Hoffnung geben Sie ein für allemal auf! Halt, hiergeblieben, mein Fräulein! Sie werden mich aussprechen lassen. Ich schlage Ihnen Ihre – Bitte also ab. Was nun? Überlegen wir einmal zusammen die Folgen.«

»Die kenn' ich. Die brauch' ich nicht erst zu überlegen«, bockte sie, ging aber doch weiter neben ihm her.

»Sie kennen die Folgen für sich. Haben Sie aber schon einmal die Folgen Ihrer Drohung für Ute Haink und mich überdacht?«

»Nein«, knurrte sie störrisch.

»Sie wollen also etwas tun, dessen Tragweite Sie nicht absehen können? Sehr leichtfertig und sehr fahrlässig. Dann werde ich es Ihnen einmal sagen. Nur sagen. Nur nackte Tatsachen vor Ihnen aufrollen. Ich bitte nicht. Nicht für Ute, nicht für mich. Obwohl ich auch das nicht für unmännlich oder demütigend halten würde. Sie sollen aber wissen, was Sie anrichten, und dann entscheiden.«

»Ich weiß es ja.« Sie machte eine ungeduldige Geste.

»Ich denke, Sie wissen es nicht?«

»So ungefähr.«

»Dann sollen Sie es in seiner ganzen grellen Wirklichkeit wissen. Ein Mensch soll nicht bloß ungefähr wissen, was er tut. Hören Sie gut zu: Ute wird zu allem ihren Schmerz von der Schule gejagt und kann das Examen an keiner anderen –«

»Das weiß ich«, murrte Dina.

»Aber Sie wußten nicht, als Sie mir Ihr Ultimatum stellten, daß Ihr Schlag ein zweiter Schicksalsschlag sein würde, der Ihre Schulgenossin in ihrer jetzigen Lage vernichten müßte.«

»Dafür kann ich nicht.«

»Das ist nicht wahr. Aber kommen wir zu mir. Es wird mir nicht ganz leicht, von mir zu Ihnen zu sprechen. Aber Sie sind trotz Ihres bösen Trotzes innerlich nicht roh und gemein. Darum schäme ich mich nicht, mit Ihnen wie ein Mensch zum andern zu sprechen.«

Er machte eine Pause der Selbstbeherrschung, Dinas Gesicht blieb hart und verschlossen.

»Sie zeigen mich an. Dann verliere ich mein Amt.«

»Also geben Sie alles zu?« rief sie triumphierend.

»Darüber red' ich mit Ihnen nicht«, brauste er auf. »Das ist meine Privatsache. Da hinein haben Sie Ihre schmierigen Finger nicht zu stecken. Verstanden!«

Sie zog eine zynische Grimasse.

»Jawohl«, wetterte er und vergaß, daß die Passanten sich nach ihm umdrehten, »es ist eine widerliche Gemeinheit, sich in die intimsten Angelegenheiten anderer zu stehlen.«

»Schreien Sie nicht so. Sie erregen Aufsehen«, stellte sie eisig fest.

Leiser fuhr er fort. »Zartgefühl ist Ihnen fremd. Schade. Gehen wir darüber hinweg. Ich verliere mein Amt. Werde mit Schimpf und Schande vom Gymnasium verjagt. Bin brotlos.«

Sie duckte das Kinn in den Mantel.

»Und nun noch etwas. Ich sage Ihnen alles, damit Sie klar entscheiden können. Nach § 174 des deutschen Strafgesetzbuches wird ein Lehrer, der eine Schülerin – liebt, mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft.«

»Nein!« schrie sie atemlos auf und blieb stehen.

»Doch. Auf Ihre Meinung wird es, um ein schönes Wort von Ihnen zu gebrauchen, dabei nicht ankommen. Es ist so. Und Ihrem Entschluß bleibt es überlassen, ob Sie mich wegen eines Jahres, das Sie noch auf der Schule bleiben müßten, auf viele Jahre vielleicht ins Zuchthaus bringen wollen.«

Sie schwieg.

Da sprach er weiter: »Ich bitte nun indirekt doch. Ich suche auf Ihr Mitgefühl zu drücken. Meinetwegen. Ich weiß keinen anderen Weg.«

Sie ging gesenkten Hauptes, ganz klein, neben ihm her. »Ist das wirklich wahr?« fragte sie nach einer Weile.

»Das mit dem Zuchthaus?« »Ja.«

Er sah, wie sie mit sich rang.

»Dina«, sagte er schwer, »ich will nicht Ihr Erbarmen oder Ihr Mitleid. Ob Sie es glauben oder nicht. Ich will nur, daß Sie handeln, wie es Ihr Charakter und Ihr innerstes Wesen fordert. Und deshalb frage ich Sie: wollen Sie sich im Laufe der nächsten fünf Jahre in jeder frohen Minute Ihres Lebens sagen: in diesem Augenblick sitzt im Zuchthaus ein Mann, den ich dort hingebracht habe, weil ich zu faul war, meine Pflicht zu tun? Wenn Sie das sagen wollen, sagen Sie es mir. Dann gehe ich. Dann haben wir uns nichts mehr zu sagen.«

Ihm wurde bitter im Munde. Er hatte das Bewußtsein, sich maßlos zu erniedrigen. Gut, empörte er sich zornig. Utes Leben und meins ist eine Demütigung wert. Leben ist gut und reich und süß, und für kein Opfer, außer der Ehre vor sich selbst, zu teuer.

Sie schwieg gequält. Dann schrie sie auf: »Aber das will ich doch alles nicht! Es liegt doch in Ihrer Hand! Ich bringe Sie doch nicht ins Zuchthaus. Sie tun es, durch Ihre Verstocktheit. Geben Sie mir den Aufsatz und helfen Sie mir durch das Examen. Keiner braucht es zu wissen. Dann ist doch alles gut.«

»Nein, Dina«, sagte er wieder ruhiger, »dann ist alles schlecht. Man brauchte nicht ins Zuchthaus zu gehen. Man könnte vorher sterben. Das kann man natürlich. Aber etwas kann man nicht: ein Schuft werden kann man nicht.«

Sie lächelte anzüglich: »Das hätte ein Lehrer sich vorher überlegen müssen.«

»Ach, so. Natürlich haben Sie recht. Als Lehrer hätte ich mehr Beherrschung zeigen müssen. Aber, Dina, Sie lieben ja auch. Ich hoffe jedenfalls zu Ihrer Ehre, daß Sie den Mann aus ganzem Gemüte lieben. Dann können Sie entscheiden: ist Liebe – auch die Liebe eines Lehrers zu seiner Schülerin – ein so schweres Verbrechen?«

Sie schwieg.

»Ich gebe offen zu: mein Fall liegt anders. Zugegeben. Aber hat meine Liebe wirklich die Todesstrafe verdient?«

»Nein«, entfuhr es ihr, vielleicht wider Willen.

»Und trotzdem wollen Sie ...?«

»Aber um alles in der Welt, was soll denn nun geschehen?«

»Wir wollen den Besuch Ihres Freundes bei mir vergessen.«

»Und ich?«

»Sie arbeiten.«

»Ich kann nicht.«

»Sie können sehr gut. Versuchen Sie es nur. Sie waren doch in Unterprima noch eine sehr brauchbare Schülerin.«

»Aber jetzt kann ich nicht mehr!«

»Und da wollen Sie studieren? Woran hapert es denn? Nimmt diese Liebe Sie so in Anspruch? Dann werde ich mal freundschaftlich mit dem jungen Herrn sprechen.«

»Nein!«

»Dann sprechen Sie mit ihm und vor allem mit sich. Setzen Sie sich hin und arbeiten Sie. Fassen Sie erst mal wieder Mut zu sich. Na, na, Kindchen, heulen Sie nicht. Es ist doch gar nicht so schlimm. Sie können es doch.«

»Ich schreib' morgen bestimmt wieder eine Fünf«, schluchzte sie.

»Unsinn. Nur ruhig überlegen, aber haarscharf: welche Fragen stellt das Thema an mich? Und die dann beantworten. Ist doch ganz leicht, wenn man nur das Vertrauen zu sich hat. Nicht?«

Sie fragte durch die Tränen hindurch: »Können Sie mir das Thema nicht ein ganz kleines bißchen verraten?«

Er mußte lächeln, so kindlich-drollig war dieser letzte Verführungsversuch.

»Nein, Dina. Das kann ich nicht. Aber auch ohne das bin ich überzeugt, Sie kommen Ostern durch – wenn Sie wollen.«

»Ist das Ihre ehrliche Überzeugung, Herr Doktor?«

»Ja, Dina. Ich gebe Ihnen mein Wort, Sie können es noch schaffen, wenn Sie den festen Willen haben und arbeiten. Wollen Sie zielbewußt Ihre Pflicht tun?«

Er hielt ihr die Hand hin.

Sie schlug mit einem zaghaften Lächeln ein.

»Na also!« sagte er warm. »Der Spaziergang hat sich gelohnt. Ich glaube, wir haben sieben Menschen das Leben neu gewonnen.«

»Sieben?«

»Ja. Ute, ihrer Mutter, ihrem Vater. Denn nun kann ich meine ganze Kraft für diese arme große Frau einsetzen. Sind drei. Meine Frau, meine Tochter, ich. Sind sechs.«

»Und wer ist der siebente?«

»Sie, Dina Quenz.«


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