Alfred Schirokauer
Der erste Mann
Alfred Schirokauer

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VII

Am nächsten Tage änderte sich nichts. Es war, als wäre für Ute alles, was die Nacht gebracht hatte, Spuk aus den Jahrmillionen gewesen. Harmlos munter begrüßte sie ihn, den Verwirrten, beim Frühstück, unbefangen beantwortete sie seine Fragen beim Unterricht. Vergebens wartete er auf einen Lidschlag ihres geheimen Erlebens, auf einen raschen Blick ihres nächtlichen Bundes. Zweifel packten ihn. War alles gestern abend nur ein nichtiges Spiel für sie gewesen, oder war sie so durchtrieben – pfui Teufel, ein gemeines Wort! Nein, sie war so beherrscht und ruhte so fest in sich und ihrer Liebe, daß sie sich und ihn nicht verriet. Ihm fiel es schwer, seine Stimme vor jedem zärtlichen Unterton zu behüten, wenn er sie ansprach.

Mittags schwamm sie wortlos neben ihm hinaus. Er sprach nicht. Wenn sie wirklich sein Bekenntnis im Nachtwind verhallen lassen wollte ... doch grade da hob sich die blaue Badekappe aus dem Wasser, ihr nasses, von der Kraftleistung gerötetes Gesicht wandte sich ihm zu.

»Hier draußen kann ich Ihnen endlich danken für das, was Sie mir gestern abend gesagt haben«, rief ste über die Wogenkämme hin. »Es hat mich tief beglückt.«

Er antwortete: »Ich danke dir für das, was du mir gegeben hast. Es war das große Wunder meines Lebens.«

Dann schwammen sie zurück.

Am Abend erwartete er sie vergeblich im Strandkorb. Als sie sich wegstehlen wollte, traf sie auf Esther Mayer, die sie zu einem Spaziergang mit einigen anderen einlud. Es war eine helle Mondscheinnacht.

Sie konnte nicht ablehnen, ohne Verdacht zu erwecken. Man schritt die weiße Landstraße hinab. Der Strand war abends unbeliebt. Er galt als kalt, unheimlich und nicht ganz geheuer.

Ute hielt wacker mit den anderen Schritt. Man marschierte eingehakt und nahm die ganze Breite der Chaussee ein. Sie sang die Soldaten- und Studentenlieder mit und plauderte mit. Doch ihre Sinne blieben zurück bei dem einsamen Strandkorb vorn an der See. Sie wußte ohne Verabredung, daß er sie erwartete. Ihn zu enttäuschen erschien ihr Treubruch.

Die Rede kam, wie immer, wenn einige seiner Oberprimanerinnen beisammen waren, auf Just. »Was treibt der denn jetzt abends immer? Er hat sich doch so selten gemacht?« fragte eine Gekränkte. »Der hockt in seinem Zimmer und kliert ein neues Buch über ›Karlchen Miesnick und sein Einfluß auf die Schule‹«, antwortete eine Lustige. Alles lachte. »Woher weißt du, daß er schreibt?« zweifelte später eine Ungläubige. »Ich hab's von der Oberin. Der hat er es gestanden.«

Er hat vorgebeugt, lächelte Ute in sich hinein und biß gleich darauf die Zähne zusammen in Zorn und Schmerz, daß sie ihn warten ließ. Als sie heimkamen, wollte sie ihm ein Zeichen geben, daß sie mit den andern war und sich nicht loslösen konnte. Seine Klugheit würde sofort alles erraten. Sie sandte einen gellen Jauchzer zum Himmel. Das Beispiel zündete. Ein Feuerwerk junger Stimmen prasselte auf.

Just hörte es und begriff sofort. Sein Groll verpuffte. Er hatte sie zuerst mit knabenhafter Erwartung und Ungeduld, dann mit Erbitterung und eingebildetem Verzichten erharrt. Hatte auf jedes Sträuben des Sandes, auf jeden Laut der Nacht gelauscht, hatte immer gemeint, sie zu hören. Hatte alle Strandkörbe abgesucht und war dann in den kalten zornigen Schmerz des Zurückgewiesenen versunken.

Sie wollte keine Wiederholung, keine Fortsetzung. Sie hatte seine Beichte höflich quittiert. Die Sache war erledigt. Sie hatte sich bedankt – sie bedankt sich für meine Liebe. Das Wortspiel tat seiner Bitterkeit wohl. Aber er begriff sie nicht und wußte, daß er ihr unrecht tat.

Das Signal riß ihn zu ihr zurück.

Am folgenden Tag war das Schwimmen unmöglich geworden. Die See ging hoch. Die Wellen hatten der Nordsee zur Ehre gereicht. In den weißen hohen Brechern, dicht am Strand, tummelten sich viele mit Geschrei. Doch jede Möglichkeit des Alleinseins zwischen ihr und ihm fehlte.

Am Abend gelang es Ute zu entschlüpfen. Er hörte ihren Schritt sofort, trotz der Dämpfung in dem losen Sand.

Sie streckte ihm leidenschaftlich beide Arme entgegen. Er nahm ihre Hände und zog das Mädchen an sich. Sie taumelte nieder auf die Knie, vor ihm in den Sand, und so küßten sie sich lange, lange. Wieder spürte er diesen sonnenwarmen Hauch von wogendem Korn ihrer Haut entströmen. Sie lag gegen seinen Körper gelehnt, er hielt sie fest umschlossen. Heute war er der Führende.

Dann saßen sie nebeneinander, umhegt von dem schirmenden Wall des Korbes, Hand in Hand, und sagten einander all die Worte, die ewig sind und bleiben wie das Meer, die Worte, die durch die Jahrmillionen von den Lippen aller Menschen tropfen, wenn sie sich lieben und es sich gestehen. Sinn und Inhalt dieser ersten Laute des Findens bleiben immer die gleichen über die weite Erde hin, ob er und sie klug ist, ob beschränkt, ob arm, ob reich, ob er ein weiser Lehrer und Erzieher der Jugend und sie ein zur Liebe verwundert erwachendes junges Weib und seine Schülerin ist.

Als Vernunft wiederkehrte, erzählte sie auf sein Verlangen von sich und ihren Eltern.

»Wem siehst du ähnlich?«

»Mutter und Vater, glaube ich. Ich bin vom großen Mixer Natur gut gemischt«, lächelte sie, noch in der Verklärung seiner Küsse.

»Von wem hast du deine warmblütige Intelligenz?«

»Jetzt müßte ich bescheiden tun und ›oh‹ sagen. Aber ich kann mich nicht zieren.«

»Sollst du auch nicht. Paßt gar nicht zu dir.«

»Daß du mich liebst, ist ja schon das höchste Zeichen meiner Begabtheit«, scherzte sie.

Hier war Zwang und Gelegenheit zu neuen Küssen. Sie fügten sich und nahmen sie wahr.

Dann berichtete sie ernsthafter: »Vater ist Maler, Mutter Ärztin.«

»So?« rief er überrascht. »Daher!«

»Was daher?« echote sie.

Er staunte über ihre sprudelnde Gelöstheit. In ihm war die Liebe schicksalhaft und tragisch. In ihr brach eine Froheit durch, die er nie vorher an ihr bemerkt, noch in ihr geahnt hatte.

»Was daher?« wiederholte sie. »Willst du damit sagen, die Leichtlebigkeit des Künstlers und das Wissen um das, was der Gesundheit des Menschen besonders zuträglich ist, hat mich zu einer so verliebten Küsserin gemacht?«

Als sein Mund wieder frei war und er ein neues Staunen darüber überwunden hatte, daß sie sofort jede Scheu vor dem Lehrer über Bord geworfen hatte und nur noch den liebenden Mann in ihm sah, antwortete er: »Nein, Ute, ich meine ...«

Sie unterbrach zärtlich: »Aber ich verstehe doch, Ulrich. Natürlich bin ich auch seelisch und geistig eine Mischung aus Phantasie und exaktem Wissen. Vater war einmal ein berühmter Maler.«

»Ich weiß. Ich kenne seine Bilder in der Nationalgalerie. Ich wußte nur nicht, daß dieser Haink dein Vater ist.«

Ihre Stimme wurde dunkel. »Es ist lange her, daß er ein großer Maler war. Der Krieg hat ihn gebrochen. Er war vier Jahre an der Front wie du. Dann, ehe sein Schönheitsgefühl sich noch von den Greueln erholt hatte, kam die Not. Er verkaufte nichts mehr.«

»Wer verkauft heute Bilder?«

»Nicht wahr? Aber ihm hat diese Erfolglosigkeit den Halt genommen. Er hält sie für seinen persönlichen Niedergang als Künstler. Glaubt, er kann nichts mehr. Rührt keinen Pinsel mehr an.«

»Oh«, bedauerte Just.

Sie sprach hastig. »Es klingt unkindlich. Aber ich darf doch ganz ehrlich zu dir sein und kann dir alles sagen, auch das Dunkelste in mir?«

»Aber, Ute, das ist doch das mystische Wunder der Liebe, daß aus zwei getrennten Menschenwelten plötzlich eine neue Welt entsteht.«

»Wie aus dem Zusammenprall zweier kosmischer Nebel eine neue funkelnde Sternenwelt«, nickte sie nachdenklich. Dann zwang sie sich in das Gespräch zurück.

»Ich glaube – ich verachte Vater.«

»Ute!«

»Siehst du, du bist über mich entsetzt. Ich hätte es doch nicht sagen sollen.«

»Doch. Aber ›verachten‹ ist ein sehr schweres und hartes Wort.«

»Ich weiß. Aber du sollst mich ganz kennen, wie ich bin. Ich will nichts an mir beschönigen. Wenn du sehen könntest, wie dieser Mann, der nur elf Jahre älter ist als du, im Hause schlaff umherschlürft, nichts tut als nörgeln und klagen und jammern und Mutter das Leben vergällt und sein prachtvolles Talent verrecken läßt – es kommt doch nicht darauf an«, rief sie heftig, »daß man verkauft! Im Schaffen liegt doch die Befriedigung.«

»Menschen sind verschieden«, sagte er begütigend.

»Mutter achte ich hoch – wie dich. Sie arbeitet und schafft und beglückt. Sie hat eine Riesen-Frauenpraxis. Nur Kassenpatienten. Aber sie ernährt uns damit, erliegt fast der Arbeit. Und wenn sie abgerackert heimkommt, klagt der Vater ihr vor, reißt an ihren Nerven, prophezeit nahen Untergang. Und jetzt ist er zu allem andern noch ein fanatischer Hypochonder geworden. Er redet sich fest und steif ein, er sei schwerkrank. Fühlt jeden Tag ein anderes tödliches Leiden. Glaubt Mutter nicht, an die hundert Fremde inbrünstig glauben. Läuft zu fremden Ärzten. Aber ich langweile dich.« Sie brach schuldbewußt ab.

»Ute! Etwas, was dich so nah berührt, soll nicht meine lebhafteste Teilnahme wecken! Erzähl weiter.«

»Wir haben während meiner ganzen Kindheit im Osten Berlins gewohnt. Dort hat Mutter ihre Praxis aufgebaut. Plötzlich bildete der Vater sich ein, die Luft dort bekomme seiner angegriffenen Lunge nicht. Da sind wir in den Westen gezogen.«

Just lächelte. »Siehst du, wie ungerecht du bist.«

»Wieso?« fragte sie verdutzt.

»Mußt deinem Vater doch dankbar sein. Ich bin es.«

»Ach so!« Ihr rascher Verstand folgte seinem Gedankensprung sofort nach. »Natürlich. Sonst hätte ich dich nie gefunden!«

»Und ich nicht dich!«

Sie bestätigten diesen glücklichen Egoismus in neuer Umarmung. Sie lechzte an seinem Munde, schmiegte sich triebhaft an ihn. Sie war kein Mensch der Halbheiten. Alles tat sie ganz, unter vollem Einsatz ihrer Lebenskraft und Daseinsinnigkeit, die nicht mit sich feilschen noch sparen konnte.

Er fühlte den Willen ihres Wesens zur Hingabe. Drängte sie mit aller Energie seiner Verantwortung behutsam von sich, ihre lautere Natürlichkeit nicht zu verletzen. Wußte, daß sie ihm gehörte, wenn er die Hand ausstreckte, in der nur vom Instinkt beherrschten Ungebundenheit und Hemmungslosigkeit der jungen Menschen dieser neuen Zeit.

Der Rausch verebbte. Sie saß, wieder zur Besonnenheit erwacht, neben ihm und erzählte. Er sah ihre schmalen Lippen nicht wirklich sich im Sprechen bewegen, aber er sah sie doch, in ihrer Lebhaftigkeit, ihrem beweglichen Eifer, ihrem feuchten Schmelz und ihrer wachgeküßten roten Glut.

»Ich will Ärztin werden«, erzählte sie, »Mutter zu helfen. Entsetzlich, wie lange das dauert! Noch mindestens – das Examen werde ich ja wohl bestehen, Herr Doktor?«

Er sah visionär ihren humorvoll fragenden Blick. »Examina sind Glückssache«, neckte er.

»Ich hab' ja Glück«, lachte sie und strich liebevoll über seinen Arm. »Dann noch fünf Jahre Studium – ich fürchte immer, Mutter bricht mir vorher zusammen. Eine bezahlte Assistentin trägt die Praxis nicht, jetzt, wo sie alles allein bestreiten muß.«

»Lockt dich die Medizin nur, weil du deiner Mutter ...?«

»Nein, nein«, wehrte sie heftig. »Weißt du, du mußt dir Mutter so denken wie Käte Kollwitz. Ihre Art zu zeichnen in ärztlichen Helferwillen übersetzt. Verstehst du, was ich meine?«

»Genau.«

»Solch eine weitherzige, gütige Helferin möchte ich auch werden.« Sie sagte es ganz schlicht, aber aus tiefstem Gemüt.

Er suchte ihre Hand. Sie lag schlaff in ihrem Schoß und kam ihm sofort willig entgegen. Er preßte sie. Sie war heiß und feucht, trotz der sanften Kühle der Nacht.

Leise sprach sie weiter: »Darum bin ich dir so dankbar.«

Er richtete sich erstaunt auf. »Mir? Wofür nun schon wieder?«

»Oder dem Geschick, das dich mir zum Lehrer gegeben hat.«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Ein Mensch, der Kranken und Beladenen helfen will, das sehe ich an Mutter, muß innerlich groß und frei und darum voller Wissen sein. Denn – das weißt du tausendmal besser als ich, nur Wissen macht großzügig und frei. Mutter hat für mich wenig Zeit. Die paar Stunden, die sie zu Hause ist, gehören Vater. Ich bin mir selbst überlassen. Jetzt – ich meine nicht hier, auch schon in Berlin, hatte ich dich.«

»Mädel!« flüsterte er aufgewühlt.

»Du kannst nicht wissen, was du mir gegeben hast. Seitdem ich in deiner Klasse bin, sehe ich anders, höre ich anders, bin ich erst ein denkender und« – die Stimme sank – »ich glaube auch ein größerer und besserer Mensch geworden.«

Er küßte ihre Hand, doch rasch bot sie ihm auch den Mund. Dann sagte er: »Du machst mich sehr stolz, Ute. Aber ich fürchte, du bist in deinem Urteil über meinen Einfluß auf dich nicht ganz unbefangen.«

»Nanu!« empörte sie sich launig.

»Vielleicht empfindest du das alles nur so überwirklich, weil die Liebe zu mir schon immer unbewußt in dir gelebt hat.«

»Das sicher. Aber trotzdem ...«

»Laß den weisen Magister ausreden.«

»Bitte, Herr Studienrat.«

»Es ist auch sehr möglich, daß ich grade auf deine geistige Entwicklung so lösend und befreiend gewirkt habe, weil wir – das beweist doch unsere Liebe – irgendwie Ergänzung zueinander sind und ...«

»Ha, Verräter!« fuhr sie drollig auf. »Bist du also auch verliebt in ›Ergänzung‹ zu Esther Mayer und Irma Kiesel und Anne-Marie Kunz und all den andern? Schurke! Alle sprechen von dir wie ich. Keiner bist du nur ein Lehrer wie – ich will keine Namen nennen. Jeder Intelligenten bist du Führer und Erwecker. Du, der Mann, der mich liebt!«

Ihre Stimme verebbte in Unbegreifen und Überschwang.

Er schwieg eine Weile.

Dann sagte er sehr leise:

»Es ist gut, das einmal zu hören. Es ist eine Art Erfüllung meines Wollens – und, fast könnte ich sagen, meines Lebens.«

»Du mußt sehr glücklich sein«, flüsterte sie andächtig überzeugt.

»Seitdem ich dich liebe, ja.«

»Ulrich!« Ihr ehrliches Temperament flammte auf. »Bist du nicht verheiratet? Bist du nicht glücklich verheiratet? Ich habe dich einigemal mit deinem kleinen Mädel gesehen. Ein entzückender Balg. Das Kind sieht aus, als sähe es nur Glück und Harmonie zu Hause.«

Es dauerte lange, bis er antwortete. Er spürte ihr atemschweres Warten.

»Du hast recht gesehen, du Kluges, Scharfsichtiges. Bis vor kurzem – ja, bis du auf die Schule kamst, war alles eitel Glück. Dann kam eine Zerrissenheit, eine Unzufriedenheit mit dem Seienden, Bestehenden, Gegebenen. Ich liebe meine Frau deswegen nicht weniger. Glaub das ja nicht. Aber ich sehnte mich hinaus über die engen Grenzen der Ehe. Verstehst du das?«

»Schwer.«

»Ja, es ist schwer zu begreifen. Weil um die Ehe soviel Lüge ist. Man hat Dogmen über sie aufgestellt, die man dummgläubig hinnehmen soll: Menschen in der Ehe lieben nur noch einander, sind immun gegen jede Liebe von außen, sind Verbrecher und Abtrünnige, wenn sie sich doch unterfangen, ihr Herz und ihre Sinne aus diesem Käfig herauszurecken. Aber das ist ja alles lebensunwahr!« schrie er gedämpft auf. »Im luftleeren Raum ausgetüftelt. So ist es doch nicht. Ein Ehemensch hört nicht auf, auf dieser Erde zu wandeln und sich zu wandeln. Ein Ehemensch ist nicht durch den lächerlichen Akt des Standesamtes herausgeschält aus der Menschheit mit ihren Leidenschaften und Wirrnissen und ihrem Verlangen. Das ist Scheuklappenborniertheit, die das wahre Leben nicht sehen will und es darum verleugnet. Ich bestreite, daß ein verheirateter Mann ein Galeerensträfling ist, der auf Lebenszeit an eine Gefährtin gekettet ist.«

»Gilt das alles auch für die Frau?«

»Ja«, sagte er ohne Zögern.

»Und was wird dann aus der Ehe?«

»Es ist erlogen«, schrie er wieder, aus der Qual in seiner Brust, daß man nur einen Menschen lieben kann ein ganzes Leben lang. Das ist Vogel-Strauß-Politik. Menschen leben weiter, auch in der Ehe. Wenn die Ehe darüber jedesmal zersplittert, ist sie ein lebensunfähiges Unding. Dann ist sie nicht die Form für dauernde Gemeinschaft zwischen Mann und Weib.«

Sie sann, den linken Arm auf den Schenkel gestützt, das Kinn in der Handfläche, vor sich hin.

»Du sprichst jetzt aus Unsicherheiten heraus. Das höre ich deiner Stimme an. Du sprichst nicht, wie du sonst sprichst, wenn du uns etwas erklärst, mit dieser überlegenen, durchdachten, selbstsicheren Geistigkeit. Du stehst nicht über deinem Stoff«, urteilte aus ihr die unerbittlich grausame, unbestechliche Jugend.

»Vielleicht«, stieß er trotzig hervor.

»Ulrich«, sie legte die rechte Hand auf sein Knie, »ich verlange nichts von dir, begehre nichts, will nichts als deine Liebe, solange du sie mir schenkst. Und weil du sie mir schenkst, frage ich nicht, ob du es mit Recht oder Unrecht tust. Ich denke nicht an deine Frau. Ich bin nicht altruistisch. Ich packe mit beiden Händen das Glück, das du mir gibst. Ich schiele nicht in die Zukunft. Will nur diese berauschend kurze Gegenwart. Ich frage nicht, was dann wird und kommt. Aber, um ganz unpersönlich zu sprechen, nur um zu lernen und zu erfahren, frage ich: Was sollte aus der zweiten Frau werden – also mir, nur als Beispiel –, wenn sie dann ohne dich nicht mehr leben könnte. Liebe ist doch ausschließlich und ausschließend. Liebe duldet doch keinen neben sich. Liebe ist wie der Gott des alten Testamentes: ›Ich, dein Gott, bin der eine und der einzige Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.‹«

Er schwieg gequält.

Da sprach sie weiter. »Denn du willst doch nicht sagen, daß Ehe nur eine Wirtschaftsordnung ist ohne Liebe.«

»Nein«, erwiderte er fest. »Auch das wäre in meinem Falle eine Lüge. In Ehesachen kann man nur persönlich sprechen. Ich liebe Julie. Anders als dich ...«

Lange saßen sie stumm. Ihre Gedanken trieben.

»Ist dir nicht kalt?« fragte er einmal, nur um etwas zu sagen.

»Nein, mein Mantel ist sehr warm.«

Endlich brach er das Schweigen. »Du hast recht, Ute, wie immer. Ich weiß mir keinen Rat. Ich stehe mitten in dem Wirrsal, durchaus noch nicht darüber. Ich habe bis vor kurzem nie über die Ehe nachgedacht. Ich lebte sie, war glücklich, nahm sie als gegeben hin. Heute ahne ich, wie viele Männer und Frauen sich an diesem Problem die Stirnen eingerannt haben. Wieviel Menschenjammer an diesen Fragen klebt. Denn Scheidung ist keine Lösung, sondern eine Verneinung der Ehe.«

»Denkst du etwa – daran?« Sie schnellte auf.

»Nein, Ute. Ich sagte doch, bis ich dich erlebte, bin ich in meiner Ehe sehr glücklich gewesen. Es wäre Betrug an dir, dir vorzureden, daß sich daran irgend etwas geändert hat. Ich liebe Julie. Anders als dich. Aber ich liebe sie.«

Sie sagte nichts.

»Tut dir das weh?« fragte er scheu.

»Weh? Im Gegenteil. Es nimmt mir jedes Gefühl der Schuld. Ich danke dir. Es ist mir, als ob du mich in diesem Bekenntnis höher gestellt und dir ebenbürtig gemacht hättest. Es verklärt mich vor mir.«

Da riß er sie wieder in die Arme. Und wieder beglückte ihn tief ihre erdhafte Lebensfülle und Unteilbarkeit des Gefühls. Er merkte, daß er schwach wurde. Er stand auf. Sie glitt von ihm ab.

»Wir wollen gehn, Ute«, mahnte er rauh. »Es wird zu kühl.«

»Geh du voran«, gebot er. »Ich folge in einiger Zeit. Gute Nacht, Ute.«

Sie küßte ihn wieder und ging. Es gelang ihr, unbeachtet in den Schlafraum zu gelangen. Als ihre Stubengefährtinnen kamen, lag sie schon eingemummelt in ihrem Bett.

»Seht die Schlafmütze!« rief eine. »Wir denken, du bist mit den Kilometerfressern unterwegs, dabei schlemmst du Schlaf in deiner Kiste!«

Die andern lachten und foppten sie. Nur Dina Quenz schöpfte Verdacht. Sie war die Durchtriebenste von allen und war durch die Beziehungen zu ihrem Attaché geübt und gerissen in Ausflüchten und Verstellung. Ute Haink, diese Lebhaftigkeit und Springlebendigkeit in Person, kroch früher als alle anderen in die Klappe? Dahinter steckte was. Die liebte Just, wenn die andern auch darüber spotteten. Das war sicher. Liebte ihn anders als die Klasse. Sie hatte gesehen, wie Ute ihm nachgeblickt hatte, als er den Speisesaal verließ. Ihr machte man in Dingen der Erotik nichts vor. Sie kannte solche Blicke. Und daß Just ausgerechnet hier draußen ein Buch schrieb und sich deshalb zurückzog, konnte man andern weismachen. Ihr nicht! Sie wollte den beiden mal ein bißchen auf die Finger sehen.

Sie war ein mißgünstiges Geschöpf und ein eingebildetes. Und Just, der ihr schon in Obersekunda schwüle Träume verursacht, dem sie sich – vergeblich – täppisch aufzudrängen versucht hatte, gönnte sie keiner andern. Keiner.

Und dann, es war ihr ein spannender Sport und ein aufpeitschender, die leidenschaftlichen Geheimnisse anderer auszuspüren.


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