Alfred Schirokauer
Der erste Mann
Alfred Schirokauer

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V

Tage später erlebte das Gottfried-Keller-Gymnasium eine neue Erschütterung. Am Morgen kam die Nachricht, daß Fräulein Wolter in der Nacht Selbstmord begangen hatte.

Jugend ist grausam. Die Schülerinnen atmeten befreit auf. Die Lehrerschaft schwieg oder flüsterte. Just war ins Mark getroffen.

Ihm war, als habe er den Tod dieser zerquälten Frau verschuldet durch sein Eintreten für Ute Haink. Den Brief, den er erhielt, ehe er an diesem schicksalsschweren Morgen zur Schule ging, zeigte er keinem. Auch Julie nicht.

»Mein lieber Herr Kollege«, hatte die freudlose Frau in ihrer letzten Nacht geschrieben, »ich werfe dieses Leben von mir. Ich habe genug davon. Was kann es mir noch bringen als neuen Haß und neue Demütigung! Sie haben mich durchschaut. Ja, ich habe diese jungen glücksgierigen, glücksgewissen, glücksbestimmten Dinger gefoltert. Aus Neid und Schmerz ... Genug davon. Aber auch ich habe Sie – als Vergeltung vielleicht, wenn es so etwas gibt – durchschaut. Sterbende sind prophetisch und eifersüchtige Sterbende sehen den Zurückbleibenden bis ins Herz. Hüten Sie sich! Als Sie für Ute Haink sprachen, war in Ihren Augen nicht das heilige Feuer der Gerechtigkeit – nein –, das falsche Licht der Verliebtheit flackerte darin. Ich habe es gesehen. Mich konnten Sie nicht täuschen. Ich habe Sie geliebt. Es wird Ihnen gleichgültig sein – wie auch mir in diesem Augenblick, in dem die Erde mit ihren kleinen Wichtigkeiten vor mir zurücksinkt. Vorbei.

Ich habe Böses getan, gegen mein Gefühl. In einem dunklen, grimmen Zwang. Die Verzweiflung der Ausgeschlossenen hat in mir gefressen. Vorbei, nur etwas Gutes will ich noch tun: Sie warnen. Lassen Sie das Mädel in Frieden! Was wollen Sie von ihr? Wohin soll das führen? Setzen Sie nicht Ihren Beruf, Ihre Stellung, Ihr Leben aufs Spiel. Kein Mädel ist dieses Opfer wert. Das sage ich nicht in Neid und Eifersucht. Ich bin mit allem fertig. Mit allem versöhnt, wenn Sie es so nennen wollen. Ich gehe in das große Nichts zurück, ganz still und ohne Weh. Wirklich. Seien Sie vernünftig. Und möge es Ihnen erspart bleiben, dort zu stehen, wo heute steht

Ihre Marta Wolter.«

Um Viertel vor acht erhielt er den Brief. Um acht hatte er Stunde. Er raste nicht in die Wohnung der Frau. Er wußte, sie hatte ihren Entschluß ausgeführt und so umsichtig ausgeführt, daß jede Hilfe zu spät kam. Und war eine Wiedererweckung, eine Störung ihres Willens wirklich berechtigte Hilfe?

In der Schule hieb ihm sofort die Nachricht von ihrem Tod entgegen.

Dann vergaß er den Brief im ehrlichen Schmerz um dieses einsame verirrte Leben in dem Bewußtsein, daß sein unbedachtes heftiges Wort den letzten Anstoß zu ihrem tragischen Entschluß gegeben hatte, und in den Bemühungen um das Begräbnis, dessen Ordnung er übernahm. Sie stand völlig allein.

Erst am Sonntag, als alles vorüber war, während Julie seine Sachen für den zehntägigen Aufenthalt an der See packte, wurde das Schreiben der Toten wieder in ihm lebendig.

Es war im Schlafzimmer. Julie legte die Wäsche, die Gaby unterstützungseifrig herbeitrug, in den Koffer. Just saß auf dem Bett, das eine Knie von den gefalteten Händen umspannt, und sah geruhsam mit müßiger Verwöhntheit den umsichtigen Bewegungen der schönen, großen, dunklen Frau zu.

Immer wenn sie ins Zimmer trat, war sie ihm noch eine Überraschung und ein ästhetischer Genuß. Ihre edlen Züge wurden mit den Jahren immer reiner, immer vergeistigter, trotz der schweren körperlichen Arbeit, die sie auf sich nahm. Nie hörte er das Klappern der Wirtschaftsmaschinerie. Alles im Hause richtete sich nach ihm, nach seinen Gewohnheiten, seinen Bedürfnissen, seinen Launen. Sie lebte nur seinem Behagen und Wohlbefinden. Dabei nahm sie fördernden, spornenden Anteil an seinem Beruf, seinen Arbeiten, seinem Erfolge.

Sie war die Tochter eines berühmten Germanisten in Freiburg. Als Student hatte er sie dort kennengelernt, bald darauf geheiratet.

Er sah ihr Profil, rührend herb gegen das Licht des Fensters. Sein empfänglicher Sinn berauschte sich an der noblen Linie der Nase, der Stirn, der Kopfform mit dem glänzenden blauschwarzen Haar. Und plötzlich, mitten hinein in die genießende Freude an seinem Weib, tauchte hinter dem reifen Antlitz der fünfunddreißigjährigen Frau der schattenhafte Umriß eines schmalen, ovalen Gesichts auf im Flimmer und Zauber stürmender, drängender Neunzehn.

In diesem Augenblick gedachte Just des Briefes der Toten, die sie gestern im Krematorium zu Wilmersdorf den Flammen übergeben hatten. Seltsam, daß diese Frau ihn durchschaut hatte wie er sie. Seltsam! War er schon so tief in diese Liebe verstrickt, daß sie ihm die Zeichen aufgedrückt hatte, daß Fremde sie sehen oder erahnen konnten? Ob Julie ...?

Sie bückte sich grade über den Koffer. Ihr Rücken baute einen reizvollen Bogen der Kraft und Anmut. Er sah zu und dachte: Warum, warum strebe ich mit jedem Pulsschlag zu der andern? Warum fiebere ich bei dem Gedanken an diese Reise?

Er prüfte wieder sein Gefühl. Er liebte Julie nicht weniger, seitdem diese neue Leidenschaft ihn überkommen hatte. Sicher nicht. Ohne jede Täuschung. Nichts hatte sich zwischen ihnen geändert. Er hatte Julie gegenüber auch nicht das Schuldbewußtsein eines Raubes oder Verrats. Er glaubte, ihr nichts zu nehmen, was ihr gehörte.

An Ute entzückten ihn Gaben, die Julie nicht zu verschenken, nicht mehr zu spenden hatte – diese Frische, dieses Erwartende, dieses Impulsive, Hemmungslose, sich grandios Verschwendende – ihre Jugend. Daß er damit Julie am schmerzlichsten verriet, kam ihm nicht in den Sinn.

Abends, nachdem Gaby zu Bett gegangen war, saß er in seinem Zimmer auf dem Lieblingsplatz der Mußestunden, dem Klubsessel am Lampentisch. Julie saß ihm gegenüber, ein Buch im Schoß. Sie hatten beide lange in ihre Gedanken hinein geschwiegen. Da winkte er sie mit den Augen zu sich heran.

Sie setzte sich auf seine Knie, wie immer. Sie schmiegte sich an ihn und fragte wie immer: »Bin ich dir auch nicht zu schwer?«

Er lachte wie immer und nahm sie ans Herz. Sie preßte das Gesicht an seine Schulter. Die Angst um ihn war in den letzten Tagen riesenhaft in ihr gewachsen. Er war ihr fast fremd geworden in seinen Stimmungsschwankungen, seiner Rastlosigkeit und nervösen Überreiztheit.

Ihr Gemüt, der feinste Seismograph für jede Seelenerschütterung dieses Mannes, registrierte und empfand, daß ihn etwas Unausgesprochenes erregte und bedrückte, ahnte die fremde Frau mit dem untrüglichsten Instinkt der Liebe und wagte nicht zu fragen, vielleicht auch aus Angst vor einer Wahrheit.

Sie hob den Mund an seinen Hals und flüsterte: »Ich bin so froh, daß du endlich einmal hinauskommst. Du bist arg überarbeitet.« Sie log bewußt. »Und dieser Selbstmord hat dir den Rest gegeben.«

Er schwieg.

»Du wirst dich an der See fein erholen. Glaubst du nicht?« Sie wartete bang auf eine Antwort. Und wußte selbst nicht, auf welche.

»Natürlich«, sagte er obenhin, »aber im Grunde fehlt mir doch nichts.«

Da preßte sie sich leidenschaftlich an ihn, ihr Körper drängte sich zu ihm, sie stieß hervor: »Mir ist so angst um dich!«

Er fühlte eine Träne an seiner Backe.

»Aber Julie!«

Es sollte scherzhaft klingen, klang aber hohl und geisterhaft. Der Brief der Toten stand wieder vor ihm mit seiner gespenstischen Warnung.

Aber es war doch alles unsinnig! Was sollte denn Schreckhaftes geschehen? Was konnte denn Schlimmes daraus werden? Er wollte doch Ute zu nichts verführen und verleiten. Sehen wollte er sie, sich an ihrer Erscheinung, ihrem Wesen, ihrem Wissen laben, ja, sie von fern genießen wie ein Kunstwerk, ihre Jugend in sein Leben funkeln lassen, weiter doch nichts.

Und dann, in einigen Monaten, war der Rausch vorbei. Ostern machte sie ihr Examen. Dann verlor er sie aus seinem Bereich, aus den Augen, aus seinem Dasein.

Wo lag die Gefahr? Wo lag die drohende Tragödie?! Und da packte ihn das Verlangen, alles zu beichten. Vielleicht regte sich in ihm auch der Wunsch, durch ein Geständnis eine Schutzwehr zu bauen zwischen Ute und sich. Für alle undenkbaren Zufälle.

Er suchte nach Worten. Aber was sollte er Julie bekennen? Was eigentlich? Was Greifbares, Sagbares lag denn eigentlich vor? Sollte er stammeln: ich liebe eine meiner Schülerinnen? Unmöglich. Das klang lächerlich, unreif, jungenhaft. Julie würde es gar nicht fassen und nicht ernst nehmen. In ihren Augen – auch in seinen bis vor wenigen Wochen – waren Schülerinnen keine Geschlechtswesen, sondern Objekte seiner Unterweisung und Erziehungskunst. Ein neutraler Massenbegriff, mehr nicht. Julie würde ihn für ernstlich krank halten, geistig und seelisch. Dabei war diese Liebe so natürlich, so selbstverständlich. Nein, Julie würde Schwierigkeiten machen, ihn nicht fahren lassen, nicht aus Sorge um die Schülerin, die würde sie niemals als gefährdet ansehen, die zählte nicht mit als Frau. Aber ihn würde sie für geistesschwach durch Überanstrengung halten und – nein, nein, sich nicht lächerlich benehmen! Nicht folgeschwere Wichtigkeiten aus dieser Liebe machen, sie nicht aufbauschen durch Wort und Bekenntnis.

Da sprach Julie. Sie beichtete. Beichtete Erkenntnisse, zu denen sich ihre Angst und Sorge um ihn in wachen Nachtstunden durchgerungen hatte. Sagte Dinge, die nur ihre Klugheit sprach, gegen die ihr Gefühl sich empörte. »Es ist sicher sehr gut, daß du wieder einmal von mir wegkommst.«

Er zog sich im Stuhl überrascht von ihr zurück.

»Bleib nur«, es gelang ihr zu lächeln, »ich meine es ganz ehrlich. Ich habe viel über Ehe – unsere Ehe, wenn du willst – in letzter Zeit nachgedacht.«

»Was du so alles heimlich treibst«, scherzte er gequält.

»In den elf Jahren unserer Ehe waren wir immer nur die Tage getrennt, die du mit deiner Klasse an der See warst. Das zählt nicht, da du dort keine Gelegenheit hattest, andere Frauen kennenzulernen.«

»Ich verstehe nicht.«

Er rückte unruhig auf dem Lederpolster umher.

Unbeirrt sprach sie weiter. »Ich wünschte, du könntest ohne die Klasse fahren.«

»Warum?« fragte er betroffen, als wäre er ertappt.

»Damit du ganz frei wärst für ein neues Erlebnis.«

»Ich verstehe wirklich nicht.«

»Ein Mann muß von Zeit zu Zeit Urlaub aus der Ehe haben.«

Bestürzt hörte er seine geheimsten Gedanken.

»Er muß von Zeit zu Zeit aus der ewigen Gleichheit der Gewohnheit herausgerissen werden, muß neue Sehnsucht nach seiner Frau – tanken.«

Sie lachte und hatte sich mit diesem Lachen über sich und ihre Feigheit erhoben. Jetzt wurde sie ganz sie, wie sie gewesen war, ehe die Furcht des Verlustes ihr vornehmes Herz zermürbt und den Adel ihrer Gesinnung getrübt hatte. »Man muß so ein Weibstück ja überkriegen, das einem ewig auf der Pelle sitzt.«

Sie sprach absichtlich burschikos, um sich und ihm die Echtheit ihrer Erkenntnis zu beweisen.

»Aber Julie!«

»Doch.«

»Und die Frau?«

»Frauen sind anders und fühlen anders. Männer sind doch nur wider Willen und wider ihre innerste Natur monogam.«

Er setzte sich straff auf und warf sie beinahe von den Knien. »Wie kommst du hinterrücks zu diesen ehestürzlerischen Ketzereien?«

»So. Frauen sind von Natur einmännig und dankbar für ein gefestigtes häusliches Glück. Mit Ausnahmen natürlich. Aber die Abenteuerinnen unter uns haben wohl alle einen starken männlichen Einschlag. Der Mann aber ist, seiner Bestimmung in der Maschinerie dieser Erde nach, Eroberer. Die sogenannte Kultur hat ihn verweichlicht, entmannt zum Ehemann.«

Er lachte kurz auf.

»Aber der alte Adam steckt doch in ihm und rumort in ihm und will sein altes Naturrecht haben. Er löckt immer noch gegen den Stachel. Wenn er es auch grade seiner Frau aus Ritterlichkeit nicht eingesteht.«

»Habe ich dir jemals Grund...?«

»Nein, aber ich fühle es doch von Zeit zu Zeit in dir durchbrechen.«

»Jetzt zum Beispiel?«

»Vielleicht.«

»Du irrst dich absolut und ...«

»Sag nichts. Ich verlange kein Geständnis. Ich weiß nur, wenn wir Frauen klug wären – aber wir sind es leider nicht ...«

»Diese Verleumdung widerlegst du schlagend ...«

»Laß mich ausreden, sonst verliere ich den Faden und bringe meine neue Weisheit nicht an den Mann, für den sie bestimmt ist.« Sie sprach ganz leicht, aber das Herz war ihr nicht leicht. »Wenn wir Frauen klug wären, würden wir euch gesetzliche Ferien von der Ehe aufzwingen.«

»Julie«, seine Verblüffung ließ sich nicht länger stauen, »was hast du heute?«

»Eine Anwandlung von Verstand und Ehrlichkeit. Man müßte euch Männerbande zwingen, eine gewisse Zeit in jedem Jahr fern von uns auf Abenteuer auszuziehen und eure Eroberer-Instinkte auszutoben.«

Es schien ihm das Vernünftigste, auf ihre Idee einzugehen. »Ein gefährliches Experiment, mein Kind«, überlegte er. »Und wenn das Abenteuer so fesselnd wäre, daß der Mann nach Ablauf der ›Ferien‹ das Wiederkehren vergäße? Was dann, erlauchte Reformatorin?«

»Darin sehe ich keine Gefahr. Ihr, die ihr uns wirklich liebt, würdet bestimmt zurückkehren, und an den andern hätte die Frau nichts verloren. Das ist mein Glaubensbekenntnis. Denn das heißt doch Ehe: Bindungen über das Abenteuer hinaus.«

Er schwieg beklommen. Er wußte nicht, ob es Zufall war, daß sie grade heute abend so sprach. Oder wußte und ahnte ihre Liebe und Größe alles, sah sie in der Schülerin doch eine ebenbürtige Frau und wollte sie ihm die Erniedrigung des Verrates ersparen und ihm ihr Verstehen und Verzeihen mitgeben auf die Reise?

Wieder wollte er bekennen. Er unterdrückte es. Denn er wußte sowenig wie irgendein Mann – ob Weisheiten, die Frauen in hohen Augenblicken sprechen, gelebte Wahrheiten sind oder nur ein Spiel mit Worten, Versuchungen und der Angst in ihrem Herzen.


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