Alfred Schirokauer
Der erste Mann
Alfred Schirokauer

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XI

Ute schlief wenig diese Nacht. Ihr eigenes Erlebnis erschien ihr nichtig neben dem Geschick ihrer Mutter.

Der Mann, den Mutter trotz allem, ja, vielleicht grade wegen seines Verfalls, seines jähen Abstiegs von höchster Künstlerschaft zur kläglichen Schwäche um so schmerzlicher, daher um so leidenschaftlicher liebte, fürchtete in ihr seine – Mörderin. Sah dasselbe Los für sich bereitet, das die Mitleidige ihrer Mutter ...

So sehr Ute sich gegen diese Ungeheuerlichkeit sträubte – auch sie sah die Mutter jetzt anders.

Nicht als Mörderin. Nein, nein!! Aber langsam wurde Ute in seiner vollen Bedeutung bewußt, was die Mutter getan hatte. Sie empfand nichts von Abscheu oder Grauen. Nur eine niederzwingende Verehrung und ein ganz leises Unbegreifen vor dieser überwältigenden Kraft und Energie, vor diesem Übergewöhnlichen, über alles kleinliche Alltagsmaß Hinausragenden, das in Mutter walten mußte.

Es ist Güte, lautere Güte, die keine Grenzen kennt, keine Grenzen und keine letzte feige Hemmung, grübelte sie. Güte und Erbarmen in letzter, höchster Vollendung.

Sie reifte an dieser Tragik rascher zum Weibe heran als an ihrer Liebe, die ihr vor Stunden noch das Wichtigste und Umgestaltendste ihres Lebens zu sein schien. –

Am Montag war sie, die sonst »jung und morgenschön« erwachte, marode und übernächtigt und gezeichnet von der Sorge, die im Hause umging.

Just sah bei seinem Eintritt in die Oberprima sofort Utes sinnfällige Veränderung. Er stutzte bestürzt, wollte etwas sagen, beherrschte sich und trat nur dicht an ihren Tisch heran, als könne seine Nähe sie heilen und behüten.

Ute war ihm mit den Blicken entgegengestürmt, als er in die Tür trat. Sie floh zu ihm, als ihrem natürlichen Beschützer, vor den Schrecken daheim. Jetzt spürte sie seine Ausstrahlung körperlich nah, sah das geliebte Gesicht dicht vor sich und fühlte sich geborgen und beschirmt gegen das Ungemach, das sie bedrohte.

Die Bedrücktheit, die sofort von ihr auf ihn übergeströmt war, ihre Blässe und die müde Stumpfheit ihrer Augen quälten ihn, häuften Schuld auf ihn und lenkten ihn vom Unterricht ab. Er litt unter dem Wahn, den er vergeblich abzuwehren suchte, daß Ute unter dem Schmerz über seine Rückkehr in die Ehe niedergebrochen sei.

Mit Mühe errang er sich die Freiheit des Geistes, die sein Vortrag forderte.

Er sprach über Napoleon. Oder eigentlich über Josephine, seine Frau. Die berückende, nach Paris verschlagene Kreolin mit ihrer geistigen Noblesse, ihrer weiblichen Naivität und Notwehr-List, ihren Reizen und Schwächen, mit dem exotischen Duft ihres Körpers und dem tropischen Zauber ihres Wesens stellte er geistig greifbar, in scharfen Konturen umrissen, vor die Mädchen hin, mit seiner dichterischen Kraft des genialen Historikers, der aus der Vergangenheit Menschen von Fleisch und Blut auferstehen läßt und zu gegenwärtigstem Leben erweckt. Eine Schwester zeigte er seiner O Ia, eine von ihnen, eine Frau mit ihren Vorzügen und Fehlern, voller Sehnsucht, voller Triebhaftigkeit, voller Verlangen an das Dasein, so daß ste mitfühlten und begriffen, weil alles, trotz der Unterschiede von Zeit, Rang und Lebensumständen, über diese Zufälligkeiten der Geburt hinauswuchs zu dem Ewig-Menschlichen und Ewig-Weiblichen.

Dabei irrten seine Gedanken immer wieder ab, brachen aus wie Schafe aus der Herde. Mußten vom Wachhund der Pflicht zurückgeholt werden.

Er war nun inmitten des turbulenten, beispiellosen Lebensweges dieses jungen temperamentvoll-lässigen Mädchens aus Trois-Hets auf Martinique. Sie erstand in ihrer verführerischen Anmut und der spielerischen Grazie ihrer Glieder und der erotischen Leichtlebigkeit ihrer heißen verliebten Heimat. Ihre Ehe mit Alexander Beauharnais, ihre Scheidung, die Schreckenszeit, die sie im Gefängnis der Karmeliter, stets am Rande des Todes, in den Armen eines mitverdammten Galans vertändelte. Ihre Rettung im letzten märchenhaften Augenblick – in einer grandiosen Milieu- und Zeitschilderung lud Just die hingerissen lauschenden Mädchen zu Gast auf dem Fest im Palais des Revolutionsschiebers Duvrard, bei dem der kleine abgerissene, dienstentlassene General Bonaparte Josephine zum erstenmal sah und sich wie ein Leutnant in sie verliebte.

Bei dieser Liebesromantik tauschte Just einen raschen beredten Blick mit Ute.

Weiter, 1795. Das Direktoriums-Mitglied Barras verkuppelt die Geliebte, deren er überdrüssig ist, an diesen komisch grotesken, häßlichen, verliebten, kleinen General. Sofort nach der Hochzeitsnacht wird er auf Josephines dringenden Wunsch nach Italien abgeschoben. Sie betrügt ihn, antwortet auf keinen der glühenden Liebesbriefe des Siegers von Lodi. Er kehrt als erster Mann Frankreichs zurück, Grimm im Herzen, und wird durch eine klassische Komödie der Liebe übertölpelt und zurückerobert.

Durch das bunt-blitzende Prisma dieses Frauenlebens hindurch ließ Just vor seinen Schülerinnen das Schicksal des größten Menschen des 18. Jahrhunderts aufflimmern. Und endete mit der Tragik der alternden Frau, die beiseite gestoßen wurde, weil die Dynastie Napoleon es forderte.

Atemlose Stille des Miterlebens war in der Oberprima des Gottfried-Keller-Gymnasiums, als Ulrich Just diese letzte Szene aufleben ließ.

»Der letzte Akt dieser Staats- und Herzenstragödie begann – mit einer politischen Komödie. Der Kaiser hatte seine Juristen berufen. Sie wußten keinen Rat. Keiner der Scheidungsgründe des Code Napoleon paßte auf diesen Fall, daß der eine Ehegatte sich von seinem Lebensgenossen trennen will, weil er einen Erben seiner Macht und eine Verbindung mit einem der alten europäischen Fürstenhäuser erstrebt.

In früheren Zeiten hatten die Herren Autokraten derart hinderliche Ehegenossinnen geköpft, in Klöstern lebendig begraben, in feste Burgen auf Lebenszeit eingekerkert. Doch diese Methoden schickten sich nicht recht für den Mann, der das Erbe der großen Revolution angetreten hatte.

Am 15. Dezember 1809 erging an alle Würdenträger des Reiches eine Einladung, wie zu anderen Hofbelustigungen:

›Ich habe die Ehre, Eure Majestät (Hoheit, Exzellenz pp.) zu benachrichtigen, daß der Kaiser wünscht, daß Sie sich heute um 9 Uhr abends im Palais der Tuilerien, im Thronsaal, einfinden.

Der Oberhofmarschall‹

Am Abend erstrahlten die Fenster des Palastes in festlichem Lichterglanz. Kurz vor 9 Uhr begann die große Auffahrt. Die Könige, Königinnen, Prinzen, Prinzessinnen, Fürsten, Marschälle, Hofbeamten mit ihren Damen eilten zum Feste. Die Herren in Gala-Uniform mit sämtlichen Orden und Ehrenzeichen geschmückt, die Damen in großer Toilette, tiefdekolletiert.«

Just machte eine kleine Atempause.

»Man raunt, man flüstert. Man hat es schon immer gewußt, daß so ihr Ende sein wird. Was mußte sie auch so hoch steigen! Diese Dirne, diese Abenteuerin! Wäre sie doch hübsch in den Niederungen ihrer Herkunft geblieben! Dann hätte sie jetzt nicht so tief zu fallen brauchen.

Die Türen zum »Großen Kabinett« des Kaisers öffnen sich. Dem Rang nach geordnet schreitet der Festzug hinein: Madame Laetitia, Louis von Holland, Jérome von Westfalen, Murat von Neapel, Eugène, Julie, Hortense, Catharine, Pauline, Caroline. Und der Hofstaat.

Der Kaiser und die Kaiserin erwarten sie stehend, beide bleich, sie aufrecht, ganz Dame, ganz Kaiserin, wie stets in der Öffentlichkeit. Ihre Knie zittern, doch man steht es nicht durch den starr fallenden Rock der Staatsrobe. Ihr Herz bebt, doch man steht es nicht durch den triumphierenden Haß.

Eisig stehen die Hofdamen: die Ney, die Lannes, die Josephine zu Glanz und Ehre erhoben, die Rémusat, die sie fast vom Hungertode errettet hat, die Savary, ihre kreolische Verwandte.

Der Kaiser hebt die Hand. Er befiehlt kurz und markig, wie auf dem Schlachtfelde, den Staatsakt zu eröffnen.

Der Festakt beginnt.

Napoleon räuspert sich, eine Bewegung packt ihn, er schüttelt sie brüsk ab. Mit klarer Stimme spricht er:

›Gott allein weiß, wie schwer dieser Entschluß meinem Herzen fällt. Aber kein Opfer ist zu groß für meinen Mut, wenn es dem Wohle Frankreichs gilt. Es drängt mich, hinzuzufügen, daß ich niemals den geringsten Anlaß hatte, mich zu beklagen, sondern im Gegenteil immer nur Grund hatte, die Liebe und Zärtlichkeit meiner heißgeliebten Gattin zu loben.

Vierzehn Jahre meines Lebens hat sie mir verschönt. Die Erinnerung daran wird auf ewig tief in mein Herz eingegraben bleiben. Sie ist von meiner Hand gekrönt worden. Ich wünsche, daß sie Rang und Titel der gekrönten Kaiserin behält, vor allem aber, daß sie niemals an meinen Gefühlen zweifelt und in mir immer ihren besten und treuesten Freund erblickt.‹

Eine leise Bewegung schauert nach diesen Worten durch den Saal. Josephine steht aufrecht, ganz Dame, ganz Kaiserin, äußerlich. Doch sie sieht und hört nichts. Sie kann kaum denken. Etwas in ihr weint, weint ohne Begreifen: Ist alles dies denn wahr? – Nein, nein – es ist ein böser Traum. Gleich werde ich erwachen – sofort – und alles war nur ein böser Traum.

Aller Blicke hängen an ihr. Was wollen diese vielen bösen sensationslüsternen Augen von ihr?! Sie hebt die Rechte gegen die Stirn, wie eine Schlafwandlerin. Da knistert ein Papier. Ach – so! Sie hält ja ein Papier in der Hand. Die Rede, mit der sie auf des Kaisers Worte antworten soll. Dämmerhaft erinnert sie sich an etwas, was man ihr vorhin eingeschärft hat. Sie hat da nicht recht hingehört, immer geglaubt, das Wunder werde nun endlich, endlich eintreten, das dieses furchtbare, Unmögliche verhindern muß.

Der Kaiser blickt so böse. Warum sieht er sie so bitterböse an? Richtig, sie soll das da vorlesen, das, was man da auf das Blatt geschrieben hat. Ja – ja doch, sie liest ja schon! Sie will ja alles tun – bis zum Letzten.

Sie hebt das Blatt. Die Schrift schwimmt vor ihren Blicken. Sie blickt hilflos auf, sieht vor sich ihres Sohnes Eugène ernst und liebevoll mahnende Augen. Ja – ja – sie liest ja schon! Sie will alles tun – bis zum Letzten ihre Würde wahren.

Sie liest mit der süßen Melodie ihrer Stimme:

›Mit Erlaubnis – Unseres – hohen und – geliebten – Gemahls, erkläre – erklä ...‹

Die süße Melodie der Stimme bricht ab mit jäher Dissonanz. Die Kaiserin taumelt, greift nach der Lehne des Sessels.

Der Kaiser funkelt vor Zorn. Der Haß gischtet empört auf. Reynault, der Staatssekretär und Dichter, nimmt das Blatt aus ihrer zuckenden Hand. Und während sie zum erstenmal ihre Würde vergißt und bitterlich weint, vor allen diesen kalten Augen, liest er:

›... erkläre ich, daß ich, da ich keine Hoffnung mehr hegen kann, noch Kinder zur Welt zu bringen, die das Bedürfnis seiner Politik und der Interessen Frankreichs befriedigen können, bereit bin, ihm freiwillig den größten Beweis meiner Liebe und Ergebenheit zu geben, der jemals auf Erden gegeben worden ist.

Seiner Güte verdanke ich alles. Seine Hand hat mich gekrönt, auf der Höhe dieses Thrones habe ich nur Beweise der Zuneigung und Liebe des französischen Volkes empfangen.

Ich glaube, all diese Gefühle dadurch zu vergelten, daß ich in die Lösung der Ehe einwillige, die ein Hindernis des Wohles Frankreichs ist und ihm das Glück raubt, eines Tages von den Nachkommen des großen Mannes regiert zu werden, der so sichtlich von der Vorsehung erkoren ist, die Wunden einer schrecklichen Revolution zu heilen, den Altar aufzurichten, den Thron und die soziale Ordnung.

Doch die Auflösung der Ehe wird nichts an den Gefühlen meines Herzens ändern: Der Kaiser wird stets in mir seine beste Freundin finden. Ich weiß, wie sehr dieser von der Politik gebotene Beschluß sein Herz erschüttert. Aber wir beide sind stolz auf das Opfer, das wir dem Wohle des Vaterlandes bringen.‹«

Die Neunzehnjährigen der O Ia sitzen wie Marmorfiguren.

»Josephines herzbrechendes Schluchzen bildete nicht die passende Begleitung zu dieser Fanfare der Aufopferung für das Vaterland. Sie hatte nie allzuviel von der Diplomatie verstanden und bis zu diesem Tage nicht begriffen, daß sie die ›Kunst der Verstellung‹ ist. Sie steht da, blickt sich verträumt, fast ganz hilflos um. Ihre Kinder führen sie hinaus, hinab in ihre Gemächer.

Der Kaiser tritt mit dem Großkanzler in die geöffnete Tür des Kabinetts. Im Thronsaal ist die gesamte Dienerschaft des Schlosses versammelt. Laut verkündet der Kanzler: ›Die Ehe zwischen Kaiser Napoleon und der Kaiserin Josephine ist aufgelöst!‹

Betreten starren die Lakaien, laut aufschluchzt eine Frauenstimme. Es ist nur die Kammerfrau Eglè Marchery.

Hortense bringt die Mutter zu Bett. Sie ist jetzt ganz still, ganz starr, ganz leblos. Sie liegt mit geschlossenen, violetten, zuckenden Adern.

›Laßt mich allein!‹ fleht sie, kaum hörbar.

Hortense geht, bleibt noch einmal an der Tür stehen, blickt zurück auf das breite weiße Himmelbett, dann hastet sie hinaus. Draußen taumelt sie gegen die Wand und weint, daß sie ihr Taschentuch in den Mund pressen muß, damit man sie nicht hört.«

Just schloß, selbst tief erschüttert. Ute starrt auf ihn, wie alle anderen, bewundert wieder wie in so vielen früheren Stunden seine Schöpferkraft. Wieder wird sie wie die anderen berauscht, gepackt, aber anders als vor der Reise an die See. Jetzt ist in ihrer dankbaren Verehrung ein Stolz auf diesen Mann und der erhebende Gedanke: mich liebt er, mir hat er gehört. Mich liebt er noch. Ich seh es an seinem Blick, der mich heimlich liebkost. Ich fühle es aus jedem Wort über diese Frau, die auch in mir lebt als Schwester und Geschlechtsgenossin. Ute ist aufgegangen in seinem geistigen Bann, sie vergißt das düstere Heim unter seinen Blicken und Worten.

Keine seiner Zuhörerinnen merkte, daß er heut nicht mit ganzer Seele und ganzer Kraft bei seinem Werk war. Doch er merkte es, rang sich immer wieder zurück zu seinem Thema und zermarterte sich dabei das Hirn nach einem Weg, Ute zu sprechen, ohne Verdacht zu erregen. Hier in der Schule mußte er sehr vorsichtig sein. Hier war alles in überlieferte starre Formen und Bräuche eingeschnürt. Trotz des modernen Geistes, der dieses Gymnasium durchwehte. Der Verkehr zwischen Lehrern und Schülerinnen war nach unverbrüchlichen Gesetzen geregelt.

Endlich fand sein suchender Scharfsinn einen schmalen Pfad. Nach der Stunde rief er, als fiele es ihm plötzlich ein:

»Fräulein Haink, Sie wollten doch einen Vortrag halten. Wie wäre es mit dem Thema: ›Die Frauen in der Politik?‹ Ich habe hier ein Buch für Sie. Kommen Sie doch bitte mal her.«

Das war unauffällig. Solche Besprechung in der Pause geschah oft. Ute kam zu ihm. Er sprach wissenschaftlich mit ihr, bis die Klasse sich geleert halte. Dann fragte er rasch: »Was ist dir? Du siehst elend aus.«

»Oh – nichts«, wich sie aus. Sie durfte Mutters Geheimnis nicht preisgeben, nicht einmal ihm.

»Hast du zu Hause Unannehmlichkeiten gehabt? Unseretwegen?«

»Nein.«

»Ute, wir müssen uns von Zeit zu Zeit sprechen, aussprechen. So geht das nicht.«

»Gern.« Sie blühte auf.

»Heute ist Montag. Sagen wir Mittwoch.«

»Ich danke dir.«

Er nannte eine kleine Konditorei in der Joachimsthaler Straße. »Um vier. Geht's?«

»Sehr.« Sie reichte ihm die Hand. Er küßte sie hastig. Mehr wagten sie nicht in diesen Räumen.

»Bis Mittwoch, du Lieber.«

Sie eilte hinaus.

Doch bis zum Mittwoch waren ihr und sein Leben wie ein Kartenhaus im Zugwind zusammengestürzt.


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