Alfred Schirokauer
Der erste Mann
Alfred Schirokauer

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VIII

Wenige Tage darauf erfüllte sich Utes und Ulrich Justs Geschick. Der Wille ihres Blutes forderte sein Recht, triumphierte über seine eingebildete Selbstsicherheit, rannte die Schanzen im Sturme nieder, die er aus ethischen Forderungen und Moralparolen aufgeführt hatte.

Sie verführte ihn nicht. Just war nicht der Mann, der sich von einer Schülerin verführen ließ. Das Leben war, wie immer, stärker und sieghafter als alle graue Theorie und alle blassen Redensarten, die scheinheilig fragten: Was will ich denn von ihr? Was kann denn geschehen? Alles kann immer geschehen und geschieht zumeist, ohne jede Vorbereitung und Andeutung, weil es kommen muß.

Die Umgebung, das Meer, die Nacht, die Stille, alles Teile der großen Elementarmacht, forderten, förderten, bestärkten in den beiden Menschen den Willen der Natur zur Unsterblichkeit, zu der großen, kleinen menschlichen Möglichkeit, in seiner Gattung fortzuleben. Der künstliche Damm, den Just gegen ihre und seine Versuchung errichtet hatte, zerriß.

Sie saßen am Strand, eng aneinandergeschmiegt; Ute hob das Gesicht, die Augen flimmerten feucht, sie flüsterte mit ringender Stimme:

»Ich danke dir, daß du – ich hasse die großen Worte, aber ich muß es dir sagen – du bist mir das Höchste dieses Lebens; ich danke dir, danke...«

Da schrie er auf, wie ein Mann aufschreit im letzten Glück, daß er sie und alles, was sie ihm gab, erlebt hatte. Er kniete nicht vor ihr nieder. Menschen von 1931 knien nicht voreinander. Sie würden es als lächerlich und beschämend und romantisch verachten, und Justs O Ia würde es eine »fossile Geste aus der Steinzeit« nennen.

Er küßte durch das Kleid ihre Knie, sie wußte, in dieser Geste lag unausdrückbare Seligkeit und tiefste Erschütterung der Kreatur.

Kurz vor zehn mußte sie gehen. Doch immer wieder kettete das Erlebnis sie zusammen. Sie rannte über den Sand, blieb stehen und winkte immer wieder zurück.

Wie Siegerin Natur selbst steht sie da in der Nacht, dachte er, frei und stark und ohne Scham.

Er war nicht bedrückt, nicht unter eine Schuld gebeugt. Alles trug jetzt, da es geschehen war, ein anderes, ein gütiges, mildes, gewährendes Gesicht. Die banale Frage, was daraus werden sollte, tauchte nicht in ihm empor. Schicksal hatte gewaltet, war seinen unausweichlichen Weg geschritten. Gewissensbisse, Selbstanklagen schienen ihm erbärmlich und eine Schändung des Wunderbaren, das ihn begnadet hatte. Hier war kein Raum für kleinmütige Reue und philisterhaftes Bedauern. Was sollte er bedauern, wen? Ute? Sie war stolz und beglückt von ihm gegangen. Julie? Er sah lange prüfend in sich hinein. Liebte er Julie jetzt nach diesem Äußersten weniger, anders? Nein.

Was dann aber? War er völlig amoralisch? Er hatte doch – nicht vor Wahrheiten zurückscheuen! – einen Ehebruch begangen. Zum erstenmal in seiner Ehe. Er hatte die Ehe – gebrochen. Ein Wort. Ein bildhaftes, darum aber nicht weniger törichtes Wort. Nichts war gebrochen, nichts war zerbrochen. Die Ehe bestand, genau wie vor diesem Abend. Sie war für sein Gefühl ihrem innersten Wesen nach unberührt. Er liebte und achtete Julie, freute sich auf das Wiedersehen mit ihr und Gaby. Jawohl.

Er stand auf und reckte die Arme dem Nachthimmel zu. Hier stand er, der Ehebrecher, demütig und glücklich in der Liebe dieser beiden ungewöhnlichen Frauen. Mochte die Gesellschaft über ihn den Stab brechen, er fühlte sich nicht als Schuft und Schurke und Verräter, nicht als Übeltäter und verworfener Frauenjäger. Nein. In ihm war Raum und Tummelplatz für zwei große Lieben. Er wollte sie dankbar leben.

Aber er war Lehrer. Hatte sich – wie würden sie es nennen, wenn sie es wüßten? – an einer Schülerin vergangen. Sogar im Strafgesetzbuch gab es gegen dieses »Vergehen« besondere Paragraphen. Mochten sie es so nennen! Was scherte ihn das in dieser Nacht des Glücks und Triumphes.

Halt! Nicht sich leichtfertig über Pflichten hinwegsetzen. Bitte! Ein Erzieher der Jugend hatte gegen jede Anfechtung anzukämpfen, würden sie sagen. Hatte ein leuchtendes Beispiel und Vorbild zu sein. Hatte ein sittlich unanfechtbares Leben – ja, zum Donnerwetter, war er unsittlich? War das, was er heute nacht an diesem Meeresstrand erlebt hatte, unsittlich? Konnte das unsittlich sein vor der höchsten Instanz der Moral? War eine neunzehnjährige Schülerin nicht auch ein junges Weib? War sie nicht Herrin ihrer Bestimmung, ihrer Liebe, ihres Körpers, wie jede andere Frau ihres Alters, die zufällig nicht mehr auf der Schulbank saß? Wenn sie im Beruf stände, Direktrice in einem Modehaus, Privatsekretärin eines Konzern-Magnaten wäre, würde dann irgend jemand heutzutage etwas Unerlaubtes in ihrem oder seinem Tun finden? Und nur weil sie noch zur Schule ging ...?

Nein, nein. Nicht das Hochgefühl in der Brust niedertrampeln lassen, nicht sich fürchten vor Pharisäer-Stirnrunzeln und Zeloten-Kopfwackeln. Dankbar sein, daß er diese Stunde hatte erleben dürfen, dieses Mädchen, diese Hingabe, diesen Freimut des Gefühls, diese Herrlichkeit. Ganz anders war es gewesen, als damals, da Julie sich als junge, angetraute, geborgene Frau – halt! Keinen Verrat, keinen Vergleich! Julie war so, wie sie war. Ute, wie sie war. Jeder ihre Eigenart lassen und ihre Ehre! Er saß lange, nachkostend die Stunde der Erfüllung. Aber die Bedenken krochen doch immer wieder heran, tief bis ins Herz. Er trug für sie die Verantwortung. Mit Worten und Phrasen war Vertrauen und Pflicht nicht abzutun und aus der Welt zu bannen. Er wand sich in wühlender Pein. Ja, hieß denn Lehrer sein, auf dieses unnennbare Glück verzichten müssen! Hieß Lehrer sein, als stumpfer Tugendbold vegetieren! Hatte er seinen Beruf jemals so aufgefaßt, ein moralischer Musterknabe zu sein, oder vielmehr: so zu unterrichten, daß die Mädel Lust an jeder Stunde hatten und aufpaßten wie die Spürhunde und was nach Hause trugen, nicht schwarz auf weiß, aber im Hirn und im Herz fürs Leben? Hieß das Lehrer sein, oder war es wichtiger, als Mucker und Keuschheitsapostel zu beten? Wen in aller guten Geister Namen ging das etwas an, was zwischen Ute und ihm bestand, als Ute und ihn? Vielleicht Julie. Ja, Julie vielleicht auch noch. Aber sie hatte es doch – gebilligt. Hatte ihm doch ausdrücklich Urlaub aus der Ehe erteilt.

Er sann und sann und schlug sich bis in den grauenden Morgen mit seinem Gewissen herum.

Und kam zu dem Ergebnis: Er wollte, was ihm gegeben war, nicht schmälern und nicht mit Kleinmut besudeln. Aber nie wieder! Nicht mit vollem Vorbedacht seine Pflicht als Lehrer verletzen. Sie war ihm anvertraut, stand unter seinem Schutz. Das alles hätte er vorher bedenken sollen. Das wußte er. Er hatte seiner Widerstandskraft allzu sicher vertraut. Nie wieder! Nie sich und ihr wieder Gelegenheit geben. Heute war es Rausch gewesen. Morgen würde es bedachte Niedertracht sein.

Vor Kälte fröstelnd ging er ins Haus.

Ute war wieder unbemerkt ins Heim gekommen. Ein Troß Mädchen polterte grade die Treppe hinauf, die in die Schlafräume führte. Sie tauchte unbeobachtet in ihm unter.

Doch Dina Quenz hatte spioniert. Sie hatte nicht viel gesehen und gehört. Doch genug, um ihre Schlüsse zu ziehen. Sie kroch ins Bett mit einem argen Lächeln. Diese Tröpfe, die da ahnungslos rings in den Betten schliefen! Idioten! – Sie konnte keinen Schlaf finden. Eifersüchtige Visionen quälten sie. Aber die Eifersucht der Verschmähten glitt allmählich in den Hintergrund. Sie war ein betriebsames Mädchen. Sie sah andere Möglichkeiten. Noch unklare, planlose. Aber ihre niedrige kleine Seele spürte ungeahnte Chancen.

Sie hatte jetzt die beiden in der Hand. Pah, die Haink! Diese scheinheilige Pute war ihr im Grunde gleichgültig. Aber Just. Der Klassenlehrer; Herr und Gebieter über ihr Abiturium. Der hatte gewagt, ihr noch gestern zu sagen: »Wenn Ihre Leistungen sich nicht ganz erheblich bessern, laß ich Sie nicht zum Examen zu.« Hatte ihr für den letzten Aufsatz wieder eine Fünf gegeben. Natürlich, die Haink hatte wieder eine Eins. Kunststück! Wenn sie, Dina, seine Geliebte wäre, hätte sie auch in allen seinen Fächern Eins. Wie lange das wohl schon zwischen den beiden ging? Sicher schon in Berlin. Solch eine gemeine Bande.

Sie wühlte sich in die Kissen, sehr beunruhigt über ihr Examen. Es war ihr ein unerträglicher Gedanke, noch ein langes Jahr auf die Penne zu gehen. Wo man so nach Freiheit und Ungebundenheit lechzte! Und wer konnte wissen, ob es nächstes Jahr besser ging? Felipe, ihr wilder hübscher Felipe, nahm sie so sehr in Anspruch. Wie sollte man da arbeiten! Jetzt die Fünf in Deutsch schmiß sie sowieso sicher um. Aber das wollte sie doch mal sehen: Jetzt hatte sie den braven Mann, von dem alles abhing, ja in der Hand!

Ute lag im Bett, wohlig durchrieselt. Ohne Schuldbewußtsein und ohne Scham, die ganz junge Menschen selten tief verspüren. Scham über eine Handlung, ein Gewähren ist ein Leid jenseits der Zwanzig. Sie war von dem Bewußtsein durchdrungen, daß die Natur ihr den Körper, die Sinne, ihr heißes Blut gegeben hatte zur Freude, zum Genuß. Sie war den in ihr verankerten Gesetzen gefolgt. So sah und fühlte sie es. Als etwas Zwangsläufiges ihres Wesens, das ihr nichts gab als Glück.

Was würde ihre Mutter sagen, wenn sie es wüßte? Mutter war groß und frei. Freilich hatte Ute nie mit ihr darüber gesprochen, wie sie über das Leben ihrer eigenen Tochter dachte. Sie wußte nur, daß Mutter allen Frauen in Not half, soweit sie irgend helfen durfte und konnte.

Ich werde es ihr sagen, beschloß sie. Mutter soll alles wissen – wissen, wie glücklich ich bin. Trotz seiner Frau – ja, trotz allem. Glück hängt nicht an den äußeren Lebensverhältnissen. Glück gibt nur er, der Mensch, losgelöst von allem Zufälligen, allen seinen Bindungen und weltlichen Umständen.

Sie fühlte wieder seine Nähe und erschauerte im Übermaß des Gefühls. Und dann schlief sie ein, friedlich und im sicheren Besitz eines grenzenlosen neuen Glückes, schlief traumlos und unbeschwert. Ging durch ihr größtes Erlebnis ohne jede moralische Belastung wie so viele junge Frauen von heute. Vielleicht aber war sie keine Type des Mädchens von 1931. Vielleicht war sie nur Ute Haink.


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