Alfred Schirokauer
Der erste Mann
Alfred Schirokauer

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VI

Für die andern Mädchen war das Landheim auf Wollin etwas Altgewohntes. Schon in den unteren Klassen hatten sie hier dreimal im Jahre Tage der Ausspannung und fröhlicher Unbeschwertheit verbracht. Für Ute Haink aber war diese ländliche Gemeinschaft etwas Romantisches, Erstaunliches, Festliches.

Das Gymnasium, das sie bis zu den großen Ferien besucht hatte, lag in einer ärmeren Gegend Berlins und war eine der Schulen, die sich eine Erholungsstätte für Gemüt und Körper ihrer Schüler nicht leisten können.

Alles auf dieser Fahrt in das trügerisch warme Oktoberende war Utes begeisterungsfrohem Sinn Wunder und beglückende Herrlichkeit. Das hübsche große Holzhaus mit seinem Steinunterbau, die Schlafräume mit ihren übereinander gerichteten Soldatenbetten, der Kampf um die sehr bevorzugten oberen Lager, die blitzende Sauberkeit des Ganzen, das gemeinsame Schlafen und das Plaudern von Bett zu Bett bis tief in die Nacht hinein, die munteren Mahlzeiten im Speisesaal, der zugleich Unterrichtsraum war, alles wurde von ihr neugierig, enthusiastisch und dankbar genossen.

Schon diese Reise, die zu dieser späten Jahreszeit – die flinken Sommerzüge waren längst eingestellt – umständlich, lang und mit vielem Zugwechsel verbunden war, hatte etwas Abenteuerliches. Ihr erschien alles märchenhaft, auch die Kost, die das Heim für einen lächerlich geringen Preis bot. Für die Unbemittelten zahlte die Schülerkasse Fahrt und Unterhalt.

Früh um sieben schrillte das große Wecken durch die Schlafsäle. Dann ging es ausgelassen an die Reihen der Waschtische. Um Viertel vor acht läutete es zum Frühstück. Dann mußten die Betten gemacht sein, Nachzügler verfielen spöttischer Verachtung, Um acht begann der Unterricht mit der Pünktlichkeit und Strammheit der Schule.

Just verlegte ihn ins Freie, in den Wald hinter dem Haus. Die verspätete Wärme dieses Indianersommers hing schwer zwischen den Baumstämmen. Kunterbunt kauerten und hockten die Mädchen auf Baumstümpfen, auf der Erde, eine große heiterbewegte Familie. Über ihnen rauschten die grünen Wipfel der Kiefern gegen einen herbstblauen Himmel.

Vier Stunden gab Just täglich Deutsch, Geschichte, Französisch, Englisch. Es war eine Lust, in dieser reinen würzigen Wald- und Seebrise zu unterrichten und zu lernen. Der Unterricht in den Fächern, die hier draußen zu kurz kamen, sollte später in Justs Stunden nachgeholt werden.

Um zwölf jagte alles hinunter zum Meer. Das Heim lag an einer einsamen Bucht der Insel Wollin. Auch im Sommer verirrten sich nur selten wanderlustige Gäste bis hierher. Jetzt lag der Strand in den Morgenstunden öde wie das Gestade der Vergessenheit.

Doch um Mittag wurde es lebendig. Da flatterten junge Nymphen hinab in Bademänteln, in Pyjamas, in Kimonos. Geschrei, Lachen, Kreischen, Angstjuchzer stiegen auf. Todesmutig, ehrgeizig stürzte sich alles in die Fluten, die sich von der unzeitgemäßen Wärme nicht bluffen ließen und mit oktoberlicher Kälte trotzten. Aber niemand wollte hasenfüßig zurückstehen.

Selbst die Oberin hielt mit. Sie war die Witwe eines gefallenen Offiziers, eine mollige, gutmütig-forsche Frau, die nur in seltenen Momenten die Würde ihrer Stellung merken ließ. Sie wohnte das ganze Jahr hindurch hier draußen, bis auf wenige allzu kalte Winterwochen.

Sie sammelte die Nichtschwimmer, eine grotesk hopsende, jaulende Schar, um sich und jagte sie nach kurzen Augenblicken zähneklirrenden Heldentums zurück an Land. Dann betreute sie die Schwimmer.

Just wagte sich weit hinaus in das frühwinterlich aufgewellte Meer. Nur eine hielt stets mit ihm aus. Ute. Sie war eine kühne ausdauernde Schwimmerin. Dicht nebeneinander stießen sie hinaus, die Gesichter tief ins Wasser geneigt, mit wuchtigen runden Armbewegungen vorwärts kraulend, bis er rief: »Nun ist es genug, Fräulein Haink. Zurück!«

Am Strande sagte dann Dina Quenz, auf dem schleunigen Rückzug der Triefenden zum Haus, mit einem eifersüchtigen Blick auf die beiden fernen Punkte im grauen Meer: »Immer drängt die Neue sich in seine Nähe.«

»Warum tust du es nicht?« fragte Esther Mayer mit einem feinen Lächeln, »das Meer ist, wie du weißt, laut Völkerrecht frei für alle.«

Die andern lachten.

Da sagte Dina keß: »Ich bin ja nicht bis über beide Ohren in ihn verliebt.«

»Oho«, neckte eine andre. »Solltest du wirklich die einzige Ausnahme von uns allen sein!«

Nach dem Bad fiel alles mit Bärenhunger über das Essen her. Nach Tisch forderte die Hausordnung Ruhe. Der Nachmittag, nach dem Kaffee, gehörte den Schularbeiten, der Abend war frei. Bisweilen wurde musiziert und getanzt. Mit der Oberin beginnend, nahm der Studienrat jede einmal in die Arme, die andern wählten einander. Um zehn lag alles im Bett.

Just war übellaunig und mißgestimmt. Keine der nebelhaft verschwommenen Erwartungen, die ihm die Aussicht, mit Ute fern von Berlin in ländlicher Zwangslosigkeit zu leben, vorgegaukelt hatte, war in Erfüllung gegangen. Ute blieb ihm in der Ungebundenheit des Landidylls gleich nah und gleich fern.

Die gemeinsame Einsamkeit draußen im Meere hatte nichts Einendes. Ein Tango mit ihr bot keinen intimeren Reiz als der Tanz mit den andern. Zu persönlichen Gesprächen bot sich weder Anlaß noch Gelegenheit. Er fühlte sich benachteiligt und vom Schicksal betrogen. Er mied die Gesellschaft und trug nach dem Abendessen seinen Mißmut hinunter an das Meer.

Die Mädchen hatten zur Mittagssiesta Strandkörbe bis an den Rand der See geschleift. Just suchte den vordersten auf, den das Wasser fast umspülte, warf sich hinein, fühlte sich unselig und verraten und blickte hinaus auf das unruhige, dunkle, nächtlich raunende Meer. Die Einsamkeit, das Mondlandschaftliche des Strandes, die geisterhafte, vom monotonen Rauschen des Wassers vertiefte Stille erhöhte seinen gehätschelten Schmerz der Verlassenheit.

Er dachte nichts Geformtes. In ihm war eine trostlose Ermattung und Ergebung. Die Liebe zu Ute war, wie in Berlin, sein Trachten bei Tag, sein Träumen bei Nacht. Aber sie hatte sich wund und müde gelaufen. Enttäuschung quälte ihn. Obwohl er sich immer eingeredet hatte, er begehre nichts, als sie zu sehen und sein ästhetisches Gefühl an ihr, als einer der vollendetsten Kunstformen der Natur, zu erquicken.

Er hatte sich alles anders gedacht, ganz anders.

So saß er, voller Mitleid mit sich, umschauen von der Stille, dem Rauschen des Meeres, der Nacht und der Einsamkeit. Ein warmer Wind strich vom Lande her. Er rüttelte den Strandkorb.

Da hörte Just dicht hinter sich ein leises Geräusch. Er horchte auf.

Er wußte, daß die Mädchen den Strand abends fürchteten und mieden. Ein Trupp war die Landstraße nach Misdroy zu gewandert, die andern hatten sich im Haus zu einem harmlosen Kartenspiel zusammengerottet.

»Ist da jemand?« rief er verwundert.

»Ja – ich.«

Er erkannte die Stimme sofort. Ohne Blutwallung. Es war sonderbar. Alle Wirklichkeit um Ute war immer nüchterner, natürlicher als die Phantasie, mit der er sie umspann.

Er stand auf, ging zu ihrem Strandkorb .

»Nanu? So allein?«

»Ich wollte nicht spazierengehen und nicht Karten spielen.«

»Seit wann sind Sie hier?«

»Schon lange. Ich sah Sie kommen. Verzeihen Sie, daß ich Sie gestört habe.«

»Sie haben mich nicht gestört.« Er setzte sich neben sie. »Darf man?«

»Aber selbstverständlich, Herr Doktor. Ich war schon oft abends hier unten. Die Einsamkeit trägt einem so gute Gedanken zu.«

Er lächelte überlegen. Sie konnte es in der Dunkelheit nicht sehen. »Darf man fragen, was sie Ihnen zugetragen hat?«

Jetzt lachte sie, ganz leise. »Nichts Bedeutendes. Es kam mir nur in den Sinn, daß die See dort, genau so wie heute abend, seit Jahrmillionen rauscht und gegen den Sand da züngelt. Und daß in einigen tausend Jahren die See genau so rauschen wird, und Nacht wird es sein wie heute, und andere Menschen werden hier sitzen – anders werden sie sein und doch genau so wie ich, und ich werde längst vergangen sein, als wäre ich nie gewesen und hätte niemals hier gesessen und geträumt.«

»Schmerzlich?« fragte er lakonisch.

»Nein«, antwortete sie zögernd, »ein wenig wehmütig vielleicht.«

»So abgeklärt schon?«

»Durchaus nicht. Aber alles Vergängliche ist ja nur ein Gleichnis, wie unser Freund Goethe gesagt hat.«

Er fühlte, daß sie ihm vertraut zulächelte.

»Aber mit Neunzehn hat er das nicht gesagt.«

»Mit Neunzehn hatte er sich selbst und einen gewissen Doktor Just auch nicht als großen Lehrmeister«, scherzte sie.

Just lachte lautlos.

Sie sprach weiter: »Mich stimmt der Gedanke an unser Vergehen nicht sentimental. Im Gegenteil. Dann kommt ein heißer Drang über mich.«

»Drang? Wozu?«

»Zu leben, zu schaffen, zu lernen, glücklich zu sein.«

Er sah ihre Augen durch das Dunkel leuchten. Aber er war heute abend in gedrückter Stimmung. Darum entgegnete er trüb: »Was hilft einem aller heißer Drang in einer überschäumenden Nacht an der See! Was bringt uns das Leben schon Gewaltiges!«

Da wandte sie sich ihm brüsk zu. »Das sagen Sie?«

»Warum sollte ich es nicht sagen?«

»Weil das undankbar von Ihnen ist. Sie, der Sie diese Wundergabe haben, Menschen zu erziehen.«

Er verzog verächtlich den Mund. Da sie es nicht sehen konnte, fuhr sie fort mit ihrer hellen Stimme, die ihn wie eine magische Melodie der Nacht bestrickte: »Wie Prometheus kommen Sie mir manchmal vor.«

»Ich – Prometheus?!«

»›Hier sitze ich, forme Menschen nach meinem Bilde.‹ Das kam mir heute morgen in den Sinn, als Sie von Luther sprachen und ihn leibhaft plastisch vor uns auf den Waldboden stellten.«

Er schwieg. Draußen, weit im Meer, schaukelten Lichter. Fischerboote.

»Sie sehen das bißchen Paukertum viel zu großartig«, begann er endlich.

Da rückte sie dicht an ihn heran – er fühlte die Wärme ihres Körpers durch ihr Kleid und ihren Mantel hindurch – und stieß hervor: »Ich wollte Ihnen schon immer danken. Fand leider keine Gelegenheit. Draußen im Meere habe ich es einmal versucht, aber da bekam ich den Mund voll Wasser.«

»Wofür danken? Sie haben doch schon neulich in der Schule ...«

»Nein, nicht dafür – Daß Sie damals vor dem Direktor für mich eingetreten sind.«

»Das war meine Pflicht.«

»Ach Pflicht! Sagen Sie das nicht. Verkleinern Sie nicht eine mutige Tat. Es gibt davon so blutwenig im realen Leben. Glauben Sie, ich weiß nicht, was Sie mit diesem offenen Widerstand gegen den Direktor gewagt haben? Das war menschlich schön und groß.«

Er hörte ihren Atem gehen.

»War der Direktor nicht viel größer? Er hat Ihnen ehrlich und selbstverleugnend einen Irrtum und eine Schuld eingestanden.«

»Na ja«, rief sie geringschätzig parteiisch. »Sie waren ganz anders.«

Der Wind trug die letzten Worte davon, hinaus in die Weite. Aber sie blieben doch fortwirkend in dem Strandkorb zurück. Ein scheues Wünschen, ein kaum gewagtes Ahnen wurde dem Mann zur würgenden Gewißheit. Ute liebte ihn. So verblendet sah nur die Liebe.

Dina Quenz hatte recht. Ute liebte Doktor Just seit jener Stunde. Es war nicht die allgemeine Verliebtheit einer Mädchenklasse in einen Lehrer der gut aussieht, der ein ganzer Kerl ist und ihr wissenschaftlich imponiert. Eine junge starke Liebe war in ihr aufgeglüht in der Stunde, in der Just sich, ohne Rücksicht auf seine Stellung, zu ihrem Verteidiger aufgeworfen hatte.

Vom ersten Augenblick ihres Eintritts in seine Klasse an war sie dem Zauber seiner Persönlichkeit verfallen. Die aufrüttelnde, umformende, zum eigenen Denken aufpeitschende Art seines Unterrichts hatte ihre Intelligenz, ihren Lerneifer und ihr Verlangen nach geistiger Entfaltung immer tiefer in seinen Bann gezogen, hatte sie – trotz aller Selbständigkeit des Urteils und des Gefühls – geistig von ihm abhängig gemacht. Seit jener Stunde aber gehörte ihm auch ihr sehnsüchtiges Herz.

Seit jener Stunde sah sie in ihm nicht nur den überragenden Lehrer, sondern vor allem den Mann, der für sie gekämpft hatte. Seit jener Stunde liebte sie ihn, liebte sie zum ersten Male, liebte mit der Hingabe und dem Beglückungsverlangen ihrer unverbildeten, graden, großzügigen Natur. Sein Eintreten für sie hatte die Fackel in den feuergefährlichen Zündstoff ihrer Schwärmerei geworfen. Jetzt brannte sie lichterloh.

Lange saßen sie stumm, nur durch das Meer und die Nacht und das dunkle Schweigen ringsum innig verbunden. Dann sprach sie wieder. Sie war jünger, unbehinderter, naturnäher und darum unbefangener als der Mann von sechsunddreißig.

»Schön ist solcher Strandkorb«, sagte sie plötzlich. »Er schließt ab von der Welt. Man hat das Gefühl, man ist ganz allein auf der Erde, losgelöst von allem, geborgen und verschanzt gegen alles Böse und Widrige.«

Ihre Stimme klang ihm wieder wie Gesang, wie ein Lied der Einsamkeit und des Glückes. Sein Mißmut war verflogen. Etwas Junges, Ungestümes, Schwingendes trieb ihn vorwärts, ein Rausch, wie er ihn nicht mehr betört hatte seit den Tagen, in denen er in Freiburg Julie zuerst gesehen und geliebt hatte. Keck sagte er, ohne Gefühlsduselei und Schwermut, nur kühn und zugreifend:

»Ich wünschte, Sie hätten recht.«

»Inwiefern?« fragte sie erstaunt, auch über den Ton seiner Stimme.

»Ich wünschte, wir wären ganz allein auf der Welt – Sie und ich.«

In der Unwirklichkeit dieser sommerwarmen Meeresnacht hatten seine Worte nichts Ungeheuerliches.

Sie saß ganz still, ohne jede Bewegung. Das Rohr ihres Strandkorbes knisterte.

»Ich liebe Sie, Ute«, sprach er nach einer Pause höchster Spannung fort. »Schon lange. Mit Sturm und Freude im Herzen bin ich zu jeder Stunde gekommen, weil Sie da vorn auf Ihrem Platz saßen. Einmal will ich es Ihnen sagen. Sie können denken, es war das Raunen der Wellen und eine vergessene Stimme aus den Jahrmillionen. Ich weiß alles. Ein Lehrer sollte nicht so zu seiner Schülerin sprechen. Weiß ich. Aber auch ein Lehrer ist ein Mensch von Fleisch und Blut und hat Augen, die sehen, wenn etwas Köstliches sich vor ihnen entfaltet Und dann: in wenigen Wochen bin ich nicht mehr Ihr Lehrer. Dürfte sprechen. Ist die Zeitverschiebung wirklich so wichtig?«

Sie antwortete nicht. Der Wind trieb die Sandkörner rieselnd vor sich her über den Strand. Der kleine Laut verzauberte die Stille. Das Rauschen der See war nicht mehr hörbar, war zum Bestandteil des Schweigens geworden.

Da fuhr er fort: »Ich wollte nicht sprechen. Ich wollte Sie nicht aufscheuchen. Die geheimnisvollen Mächte dieser Nacht haben mir die Zunge gelöst. Lassen Sie die Worte verflattern. Alles bleibt wie es war. Nur ganz tief in Ihrem Bewußtsein liegt jetzt das Wissen, daß ein Mann Sie liebt.«

Da hörte er von ihrem Munde einen leisen Schrei, wie der scheue Ruf eines Nachtvogels war es. Dann warf sie sich mit Ungestüm an seine Brust. Und küßte ihn in einem Vergehen und einer Hingebung, wie er nie geküßt worden war. Stumm, ohne Laut, küßte sie ihn.

Dann, ehe er recht zur Besinnung kam, riß sie sich los und ging. Er sah ihre dunkle, schlanke, hohe Silhouette scharf abgezeichnet gegen den helleren Himmel und hörte den Sand unter ihren Füßen knirschen. Ihr weißes, verwehtes Haar schimmerte durch die Nacht.

Bis lange nach Mitternacht saß er im Strandkorb. Das Herz läutete feiertäglich und andächtig in seiner Brust.


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