Alfred Schirokauer
Der erste Mann
Alfred Schirokauer

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X

Ute war heimgekehrt, das Herz voll Erleben und Liebe. Sie wollte sich der Mutter offenbaren. Nie bisher hatte ein Geheimnis zwischen ihnen gestanden. Aber sie kam nicht dazu, von ihrem Geschick zu sprechen.

Die hochgewachsene Frau mit der schlanken Mädchenfigur Utes und dem gleichen feinen Oval des Gesichts stand im Wohnzimmer, als Ute hereinstürmte. Käte Hainks Haare waren schwarz und früh ergraut, ihre Züge scharf und energisch und verrieten nichts von der tätigen Güte ihres Herzens. Sie begrüßte die Tochter ohne überströmende Zärtlichkeit.

»Wie war es, mein Kind?« fragte sie. Jeder Fremde hätte überrascht aufgeblickt. Denn es war Utes warmer heller Sopran, nur reifer, nur erfahrener, nur sorgenvertiefter.

»Sehr schön«, entgegnete Ute.

Die zwei Worte rauschten daher wie ein hochbeladener Erntewagen. Sie brannte darauf, alles zu erzählen. Nur wollte sie vorher rasch den Vater begrüßen. »Wie geht's Papa?« fragte sie.

Da brach Frau Haink zusammen. Sie setzte sich schlaff nieder und begann herzzerbrechend zu weinen, mit unbedecktem Gesicht. Ein hüllenloser Schmerz, der nur darauf gewartet zu haben schien, sich endlich einmal entfesseln zu dürfen. Diese Tränen der Mutter überschwemmten Utes eigenes Geschick, es ertrank in dem bestürzenden Weh der Mutter. Nie hatte sie diese resolute und stille Frau weinen gesehen, nie eine Klage von ihren Lippen vernommen.

»Was ist geschehen?« schrie sie leise auf.

»Vater bildet sich ein, er hat Magenkrebs«, schluchzte die Frau.

»Hat er ihn wirklich?!« stieß Ute entsetzt hervor. Die grausige Erkrankung schien ihr die einzige Erklärung für die Haltlosigkeit der Mutter.

Käte Haink schüttelte den grauen Kopf. »Nichts hat er. Er ist einem Kurpfuscher in die Hände geraten. Der Mensch kommt her, wenn ich weg bin. Redet es ihm ein und schwört, daß er ihn heilen werde.«

»Aber, Mama, dann ist es doch nicht so tragisch.«

»Er fürchtet sich so«, jammerte die Frau.

»Aber wenn er dem Pfuscher vertraut! Ich verstehe nicht. Vor allem nicht, warum du dich –«

»Du kannst das nicht verstehen«, stöhnte die Mutter und starrte mit geröteten Augen vor sich hin, als blicke sie in ferne Abgründe.

Da öffnete sich die Tür der Wohnstube, eine Krankenschwester trat ein. Frau Haink raffte sich gewaltsam zusammen.

»Frau Doktor«, sagte die nette kleine, nicht mehr allzu junge Person, »Herr Haink will jetzt schlafen. Ich wollte es Ihnen nur sagen, damit Sie nicht hineingehen.«

»Danke, Schwester«, erwiderte Käte Haink, völlig beherrscht. »Das ist meine Tochter.«

»Sehr erfreut«, grüßte die Schwester liebenswürdig. Leblos reichte Ute ihr die Hand. Sie war zu betroffen, um freundlich zu sein. Die Schwester ging wieder hinaus.

»Eine Schwester ist im Haus?!« platzte Ute heraus, ehe die Tür sich noch ganz hinter ihr geschlossen hatte.

Käte Haink nickte düster. »Vater hat sie hinter meinem Rücken kommen lassen.«

»Hinter deinem Rücken?!«

»Zu seinem Schutz.«

Ute riß die Augen weit auf. »Seinem – Schutz?!«

Die Ärztin schwieg. Zupfte nervös an der Spitzendecke auf dem Tisch. Dann rang sie sich die Worte los: »Ich muß dir etwas sagen, Ute. Du mußt begreifen, was hier vorgeht. Etwas Furchtbares spinnt sich an.«

»Mama!«

»Alte Geschehnisse werden wach. Kriechen hervor aus der Vergangenheit. Ich weiß nicht, was geschehen kann. Du darfst nicht unvorbereitet getroffen werden.«

Ute hatte das Empfinden, die Mutter spräche irre. Ihr Gesichtsausdruck war auch so sonderbar. Sie weinte jetzt nicht mehr. Ihre Züge waren regungslos, nur die Augen lebten und flackerten – unheimlich schien es Ute. Ein Grauen schauerte an ihrem Rückgrat entlang.

Die Ärztin sah das Entsetzen in Utes Augen.

»Bleib ruhig, mein Kind.« Sie faßte das Mädchen am Arm. »Wir müssen ganz ruhig und normal bleiben, wir beide. Es ist schon Wahnsinn genug im Hause.«

Käte schwieg. Ute sah ihr voll Angst in das durchgeistigte, abgearbeitete Gesicht. Um die Augen zogen sich dunkle, fast schwarze Ringe. Uralt sah sie aus. Nein, eher zeitlos, wie das Schicksal, dachte Ute. Die Mutter war ihr ganz fremd in diesem Augenblick.

»Es tut mir weh, dich gleich bei deiner Ankunft mit diesen furchtbaren Dingen zu überraschen«, fuhr Käte fort. Ihre Stimme war farblos wie die Haut ihres Gesichts. »Aber ich habe das Gefühl, jeden Augenblick kann es in diesem Hause explodieren. Ein Pulverfaß steht bereit. Ein Funke –«

Sie brach ab und strich verloren mit beiden Händen über Stirn und Backen.

»Ich muß dir etwas erzählen.« Es war ein Schrei. Als ob sie sich ein Bekenntnis gewaltsam von der Seele losreißen müßte.

Ute erschrak bis ins Mark.

»Was denn?« stammelte sie gehetzt.

Käte hatte beide Arme auf den Tisch gestützt, die Schläfen ruhten in den Handflächen. Sie starrte mit leeren Augen vor sich hin, als habe sie Utes Gegenwart vergessen.

Wie eine der Nornen, zuckte es Ute durch den Sinn, die älteste, die den Faden zerschneidet. Zum erstenmal hatte sie Angst vor der Mutter und ein schüttelndes Grauen.

»Mama, sprich endlich. Du folterst mich!«

Utes Nerven erlagen fast der Spannung. Frau Haink achtete nicht auf das Drängen der Tochter.

Es währte lange, bis sie begann:

»Ein altes, längst vergessenes Leid, das wieder zu leben beginnt. Du weißt, ich war fünfundzwanzig, als ich Vater kennenlernte.«

»Ja«, nickte Ute verdutzt. Was wollte Mutter mit dieser altbekannten Erinnerung?

»Ich war junge Assistenzärztin. Kurz vorher war meine Mutter gestorben.«

»Ja«, sagte Ute wieder. Warum holte Mutter so weit aus?

»Ich war noch in tiefer Trauer, als Vater um mich warb. So nannte man es ja wohl damals. Eines Tages bat er mich, mit ihm einen Spaziergang in den Tiergarten zu machen. Ich wußte, er wollte mich fragen, ob ich ihn heiraten würde. Er war damals schon ein bekannter junger Maler.«

Die Mutter hatte weitergesprochen.

»Wir gingen in den Tiergarten. Während er sprach, rang ich mit mir, ob ich es ihm sagen sollte. Entschloß mich, es zu tun. Wahrheit sollte zwischen uns sein. Er sollte die Frau bis ins Innerste kennen, an die er sein Leben binden wollte.«

Utes Herz schlug laut. Sollte auch Mutter –? Damals galt Liebe, der ein Mädchen sich hingab, noch als kaum sühnbares Verbrechen.

Kate schwieg wieder, sah mit verschleierten Augen vor sich hin.

»Als er mich gefragt hatte, ob ich sein Weib werden wolle, sagte ich: ›Ich muß Ihnen erst etwas bekennen.‹ Damals sagte man ›Sie‹ bis zur vollendeten Verlobung. Dann sollen Sie entscheiden, ob Sie mich noch zu Ihrer Lebensgefährtin wollen.‹ Jedes Wort weiß ich noch. Er war überrascht. Und dann sagte ich ihm« – die Stimme der Mutter wurde hart, leblos, wie gefroren –, »daß ich meine Mutter getötet habe.«

Frau Haink hatte es geflüstert. Auf Utes Haupt schmetterten die Worte nieder wie wetternder Donner. Sie wollte aufschreien, die Kehle war erstickt. Im Kopf war kein klares Denken, in den Ohren sauste das Blut. Aber durch das Rauschen hindurch, eine dunkle Oberstimme, hörte sie die Mutter weitersprechen.

»Sie hatte Magenkrebs. Einen bösen, gemeinen, echten Magenkrebs. Litt unmenschlich. Jede Besserung war ausgeschlossen. Eine Operation unmöglich. Ich flehte den Chirurgen an: ›Beenden Sie ihre Qual! Lassen Sie sie in der Narkose unter dem Messer sterben!‹ Er wollte nicht, was er nicht durfte. Da habe ich sie von einem Leben befreit, das eine Hölle von Martern geworden war. Ich gab ihr die Spritze Morphium, die sie einschläferte ... ohne Erwachen.«

Lange saßen Mutter und Tochter stumm und gebeugt unter der Last der Beichte nebeneinander. In das Zimmer sank der Abend. Sie merkten es nicht. Ute hatte nach Kätes Hand getastet, hielt sie umklammert. Ohne Worte stand sie tröstend zu ihr und ihrer Tat. Sie hatten nichts mehr gesprochen. Nur der schwere Atem der beiden Frauen war zu hören.

Nach langer, langer Zeit fragte Ute mit leiser Stimme: »Und – Vater?«

Die Brust der Frau hob sich – Ute konnte es hören – doch kein Seufzer wurde laut.

»Vater war damals ein junger, begeisterter Mensch. Er nahm mich mitten auf dem Weg im Tiergarten in die Arme. Rief, es wäre eine Heldentat. So sah ich es nicht. Ich hatte als Tochter gehandelt, als Mensch und als Ärztin, die berufen ist, Menschenqual zu lindern. Er sagte, jetzt erst liebe er mich wirklich. Es scheine ihm, als sei alles Vorherige nichts gewesen gegen das, was er jetzt für mich empfinde. – Oh, vieles sagte er, aus tiefstem, wahrstem Gefühl heraus.«

Sie schwieg wieder lange, ehe sie hinzufügte: »Und dann haben wir bis heute nie wieder darüber gesprochen.«

»Und heute?«

»Gesprochen darüber hat er auch jetzt kein Wort. Aber ich fühle« – sie jagte nun die Worte hinaus –, »alles ist in ihm aufgestanden. Seitdem dieser gewissenlose Schurke ihm eingeredet hat, er habe Krebs, ist alles in ihm erwacht. Ich sehe die Todesangst in seinen Augen.«

Utes rascher Verstand erfaßte die Weite der grausigen Verstrickung sofort.

»Mama! Todesangst – vor dir!«

»Er fürchtet mich. Er weiß, wie ich ihn liebe. Er fürchtet das Schicksal meiner Mutter – von meinen Händen.«

Utes junger Körper sank unter der Wucht dieses Verhängnisses zusammen. Geduckt kauerte sie auf dem Stuhl. Alles begriff sie jetzt. Den Gram der Mutter, ihre Vernichtung, ihre Zerrüttung, ihre Verzweiflung, ihre Zermürbung. Daher die Krankenschwester – als Leibwache gegen die Mutter! Daher ...!

Käte sprach wieder: »Wenn ich im Haus bin, liegt er dort drinnen in Todesangst. Nur diese ewige Furcht macht ihn wirklich krank. Ich traue mich kaum noch in seine Nähe. Seine Augen sind mir unerträglich. Sie spionieren hinter jeder meiner Bewegungen her. Er beargwöhnt jeden Schritt, jeden Griff von mir, jede Liebkosung. Seine Blicke forschen an mir umher, suchen mich zu durchdringen, zu erspüren, ob ich seinen Tod beschlossen habe. Was ich sage, ist ihm verdächtig. Hinter jeder ärztlichen Anordnung wittert er sein Todesurteil.«

»Du – Arme!«

»Ich habe ihn gebeten, einen anderen Arzt zuzuziehen. Er hat sich wie gegen heißes Eisen gewehrt. Aus seinen Worten habe ich deutlich herausgehört: du steckst mit ihm unter einer Decke. Euch Ärzte kenn ich.«

Stumm streichelte Ute die zuckenden mageren Hände mit den dicken Adersträhnen.

»Ich hätte dir dieses Böse gern erspart, Ute. Aber ich dachte mir, du mußt es wissen. Ich weiß ja nicht, was er in seinem Wahn noch tun wird. Und dann, wenn du alles weißt, kannst du ihn eher verstehen und beruhigen.«

»Ja, Mama. Aber wäre es nicht vielleicht besser, du sprichst dich offen mit ihm aus? Sagst ihm, daß er doch eigentlich gar nicht leide, daß also kein Grund für dich ...«

»Nein, nein. Das habe ich auch erwogen. Dann ist alles verloren. Die Angst sitzt zu tief. Ich muß tun, als ahne ich nichts. Als dächte ich nicht an diese alten Dinge, als hätte ich alles vergessen. Ich kenn ihn. Ich kann ihn nur durch scheinbare Harmlosigkeit einlullen. Du mußt auch ganz heiter tun. Wenn er aufwacht, geh zu ihm hinein. Bezwing dich. Setz eine frohe Miene auf. Sag ihm, daß ich dir gesagt hätte, ich glaube nicht an Krebs.«

Da sprang Ute auf, sank vor der Mutter nieder, küßte die Hände, die jetzt schlaff und hilflos herabhingen.

»Ich bewundere dich«, schluchzte sie. »Es war eine Heldentat. Vater hatte damals recht. Von einem so gütigen Menschen, wie du bist, war es das größte und schwerste.«

»Ich bin nicht phantastisch«, sagte Käte, wieder mit Tränen kämpfend. »Aber ich bin ganz irr geworden. Ich habe immer geglaubt, ich hätte damals recht gehandelt. Aber jetzt – manchmal faßt eine abergläubische Gespensterfurcht nach mir – als ginge eine späte Rache in meinem Leben um.«


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