Alfred Schirokauer
Der erste Mann
Alfred Schirokauer

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III

Als Just die Klasse betrat, sah er unter den Mädchen, die sich zu seinem Empfang erhoben, nur sie.

Nicht, weil sie die Schönste der Oberprima war. Andere waren schöner. Nicht, weil ihr weißhelles dicht an die Kopfform geschmiegtes Haar wie eine Fackel leuchtete. Nicht, weil sie die Größte war, ihre hohe Gestalt hatte Ebenbürtige an Anmut, Schlankheit und Biegsamkeit. Nein, weil von ihr ein Fluidum von Natürlichkeit und Wärme und lebendigster Gegenwart ausströmte, und weil der Studienrat Doktor Ulrich Just für ihre geistige und körperliche Ausstrahlung der natur- und schicksalbestimmte Empfänger war. Mit anderen Worten, weil er sie liebte.

»Guten Morgen, meine Damen!«, rief er, und erkannte seine Stimme nicht wieder.

»Guten Morgen, Herr Doktor!«, antwortete der Chor der hellen und tiefen, der durchpulsten und trägen Stimmen. Dann sprach die Vertrauensschülerin das Gebet.

Just senkte gewohnheitsmäßig das Gesicht, sah dabei aber unter den Lidern hervor auf Ute. Sie hielt das Gesicht gradeaus gerichtet, die dunkle Bläue ihrer Augen, von dem blauen Lackanstrich der Tische und der Sitze der Stahlstühle, der Klassenschränke, der Tür und der Fensterkreuze kräftig vertieft, leuchtete ihm ins Herz.

Jetzt, in ihrer Gegenwart, war jedes Empfinden einer Schuld in ihm erloschen. Sie beherrschte die Stunde und sein Leben. Nur Freude an diesem Prachtexemplar modernen jungen Frauentums und ein helles Glück durchläuteten ihn. Es schien ihm, als atme er von seinem Platz die duftende Frische ihrer Haut, als spüre er bis hierher die blitzblanke Reinheit ihres Gemüts und ihrer Kleidung.

Das Gebet war gesprochen. Rascheln: Sechsundzwanzig junge Damen rauschten auf ihre Sitze nieder. Die Luft, die am Ende der Stunden gesättigt war von junger Lebenswärme und verbotenem Parfüm, war jetzt noch morgenkühl und würzig.

Just setzte sich an seinen Platz. Der Lehrertisch stand in der Öffnung des Hufeisens, das die blauen Stahlstühle bildeten. Formalitäten wurden erledigt, Fehlende ins Klassenbuch eingetragen. Dann stand Just auf, trat dicht an den ersten Tisch heran, an die Seite, an der Ute nicht saß. Er wollte jede verräterische Näherung vermeiden.

Jetzt hatte er sich in der Hand, auch seine Stimme hatte ihren gewohnten hart-metallischen Klang wiedergewonnen, als er sprach. Wohl fühlte er – wie immer – stark Utes Gegenwart. Es war gut, daß sie dort drüben saß, ihr heller Kopf scharf abgezeichnet gegen die Beigefarbe der Wand, und ihm aus erwartungsvollen schimmernden Augen auf die Lippen sah. Es beschwingte ihn. Er sprach für sie, doch nicht nur für sie. Er war so beflügelt und schaffensheiter in ihrem anspornenden Lauschen, daß in seinem geistigen Schwelgen auch Raum blieb für die fünfundzwanzig anderen.

In der Klasse war es lautlos still. Er eröffnete jede Stunde mit einem Vortrag, der einer jeden, auch der Teilnahmlosesten, auch der Denkfaulsten eine Anregung gab, ein Aufmerken abzwang.

»Ich möchte gern«, begann er, faltete die Hände auf dem Rücken und wippte sacht auf den Sohlen, »daß Sie von der Schule einen Begriff Goethe mitnehmen, der etwas Blutwarmes ist, der lebendig in Ihren Adern rollt, wenn Sie draußen im Leben stehen. Nicht ein ragender kalter Koloß, nicht ein unbegreiflich fernes Wunder soll der Mann für Sie sein, der den »Fischer« gedichtet und den »Faust« geschrieben hat und die »Morphologie der Pflanze«. Ich möchte Ihnen, einer jeden von Ihnen, persönliche, eigene Beziehungen zu dem größten deutschen Menschen, grade dem Menschen mitgeben, daß er in Ihnen weiterwirkt als Führer und Helfer, als Tröster und Wegweiser.«

Es war jetzt so still in der weiten Klasse, daß man durch das offene Fenster die welken Blätter auf dem Boden des Schulhofes rascheln hörte. In Justs Stunden vergaßen auch die Ausgelassensten den Schabernack, den sie sonst ausgiebig austobten.

»Den Menschen Goethe möchte ich Ihnen als Begleiter und Geleiter ins Leben mitgeben. Nie ist eines schöpferischen Mannes Erleben unlöslicher mit seiner Dichtung zusammengeströmt als bei ihm. Irgend jemand hat einmal gesagt – ich weiß im Augenblick nicht, wer es war – ist auch unerheblich – man könnte immer nur den Goethe des Alters verstehen, in dem man selbst stehe. Das bezweifle ich herzlich. Dann könnten Sie allenfalls noch den Goethe von Straßburg mit ihrem Hirn und Herzen erfassen. Ich nehme an, Sie protestieren gegen diese Unterstellung.«

Die braunen, schwarzen, blonden Köpfe in allen Farbennuancen, wenige mit Haarknoten, andere mit hängenden Locken und Pagenschnitt, stimmten ihm heftig bei.

»Ich gebe gern zu«, fuhr er lächelnd fort, »es gibt einen Goethe in den Sechzigern, der uns verhärtet und versteint erscheint. Aber dann, zu Beginn der Siebzig, nach der schweren Krankheit von 1822, wird dieser angeblich verhärtete Gelehrte wieder so erschütternd menschlich und zum Opfer und Dichter der gewaltigen, ewig jungen Leidenschaft.«

Er hatte es bisher vermieden, Ute anzusehen. Jetzt zwangen seine großen, braunen Augen sich zu ihr Bahn.

»Der Vierundsiebzigjährige verliebt sich mit der unbedenklichen Vehemenz eines Jünglings von Zwanzig in Ulrike von Levetzow. Sie war neunzehn. Sie hat ihn abgewiesen. Ob sie ihn nicht geliebt hat, ob andere Gründe sie trieben, weiß man nicht. Jedenfalls hat sie seinen Eheantrag, den der Großherzog von Weimar in Marienbad überbrachte, hinzögernd abgelehnt.«

»Und auf der Heimreise von Karlsbad nach Weimar dichtete er den verzweifeltsten Schmerz und das tragischste Verzichten, das in deutscher und fremder Sprache geklagt worden ist. Er nimmt den erschütterndsten Abschied von der Liebe dieses Lebens, der jemals in menschlichen Worten laut geworden ist. Ich spreche von der »Elegie«, die als Motto die Worte aus dem Tasso trägt:

»Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.«

Er machte eine Pause. In seiner Stimme bebte eine Erregung, von der er nur wußte, wie persönlich sie war. Die Mädchen saßen ohne Regung, ihr Atem ging unhörbar und schwer. Jede war gepackt von einem Leid, das vor hundert Jahren geschehen und ewig war, weil Leid und Liebe ewig-menschlich sind.

Mit leichteren Worten fuhr er fort:

»Bevor wir uns in den Schmerzgesang dieses abgewiesenen großen alten Mannes versenken, will ich eine Frage an Sie richten. Ulrike von Levetzow war neunzehn. In Ihrem Alter. Und nun bitte ich Sie: stellen Sie sich das Erlebnis dieser jungen Dame vom Jahre 1823 einmal als das Ihre vor. Denken und fühlen Sie sich mit allen Kräften Ihrer Phantasie und Ihres Empfindens in die Vorstellung hinein, ein Mann wie Goethe liebe Sie und halte um Ihre Hand an. Denken Sie, Sie liebten ihn – oder auch nicht. Wie Sie wollen. Und bedenken Sie alles. Er war damals 74. Noch erkannten nur wenige seine übernationale Größe. Noch wußten sehr wenige, daß es nichts gibt in der geistigen Welt, was er nicht gedacht oder geahnt hat. Daß er das Weltgenie schlechthin ist. Aber vergessen Sie auch nicht: er galt schon damals für den größten Dichter und den größten Mann seiner Zeit. Er war geehrt wie ein Fürst. Er erhob Weimar zu einem Heiligtum und zum Mekka der Geistigen aller Nationen. Und stellen Sie sich vor, dieser erlauchteste Mann seiner Tage begehre Sie zum Weibe. Bedenken Sie: er hätte jede Frau zur ersten Frau des Jahrhunderts erhoben. Beachten Sie: schon durch seine Werbung hat er Ulrike von Levetzow unsterblich gemacht. Wer wüßte heute etwas von ihr? Aber die Weihe der Liebe Goethes trägt sie durch die Jahrtausende. Und nun sagen Sie mir: wie hätten Sie entschieden?«

Die Abteilung A der Oberprima des Gottfried-Keller-Gymnasiums war an Ueberraschungen bei ihrem Klassenlehrer gewöhnt. Man mußte bei ihm stets auf etwas Bestürzendes vorbereitet sein. In jeder Stunde. Diese höchst intime Frage aber überrumpelte diese Mädchen von 1931. Ein Knistern geisterte durch die Reihen der Tische, als die Körper der jungen Frauen sich in verlegener, belustigter oder ernster Überlegung vor- oder zurückbeugten auf den Stahlstühlen. Keine wagte sich zum Worte.

Just wartete. Er sah auf Ute. In diesem Augenblick des Harrens wußte er untrüglich, daß die Liebe zu ihr und die Erwartung ihrer Antwort ihn zu der »Elegie« geführt hatten. Er wollte sie über Liebe und Leidenschaft sprechen hören.

»Nun, meine Damen?« Er zwang seiner fiebernden Hoffnung das ermutigende Lächeln ab, mit dem er seiner Klasse manche heikle Antwort abgewonnen hatte.

Da fand Dina Quenz ihre flinke Zunge. In allem Schriftlichen war sie erbärmlich, auch im Mündlichen an Qualität keine Freude, an Quantität der Antworten aber die erste. Ihre Selbsteinschätzung stand in umgekehrtem Verhältnis zu ihrem wahren Wert.

Sie reckte ihre kleine zierliche Gestalt – so zierlich, wie sie glaubte, war sie freilich auch nicht – bot dem Lehrer ihr hübsches – auch über ihre Schönheit war ihre Ansicht übertrieben – brünettes Gesicht entgegen und rief: »Wie kann man einen 74jährigen Greis lieben! Ich finde es eine Zumutung von einem 74jährigen Mann, ein 19jähriges Mädchen heiraten zu wollen. Ob es nun Goethe ist oder ein anderer. Eine Ehe ist doch nicht nur Literatur! Es gibt doch auch Momente, in denen –«

Sie stockte verrannt. Die Klasse begann zu kichern. Jede der Mitschülerinnen wußte, daß Dina in sehr engen Beziehungen zu dem Mitglied einer fremden Gesandtschaft stand. Sie prahlte scheulos mit ihrer Eroberung.

»Ruhe!« donnerte Just. »Sprechen Sie weiter, Fräulein Quenz. Ich denke, wir sind alle hier reif genug, über Natürlichkeiten ohne albernes Getue zu reden.«

»Ich meine –« Dina hatte ihre selbstbewußte Unverfrorenheit wiedergewonnen – »eine junge Frau will –« sie brach wieder ab.

»Wenn ich Sie recht verstehe, meinen Sie, von Ihrem Standpunkt aus völlig gerechtfertigt, eine junge Frau verlange in der Ehe auch eine Befriedigung ihrer Sinne, und Sie glauben, daß ein alter Mann ihr diese nicht gewähren könne.«

»Allerdings«, rief Dina emphatisch. »Ich finde es überhaupt furchtbar unästhetisch und widerlich.«

Die Klasse siedete. Erörterungen über geschlechtliche Dinge waren bei Just nichts Neues. Alles wurde in den Kreis der Debatten gezogen, auch die Erotik. Kein Thema schien ihm von würdiger Behandlung ausgeschlossen.

Dann brach ein Sturm los, ein Orkan der Zustimmung und des Widerspruchs. Der Bann war gebrochen, die erste Scheu gelöst. Viele meldeten sich drängend zum Wort. Die kluge, stille Esther Mayer, schon seit der Sexta die Beste der Klasse, erhielt es.

Ihr bleiches, von schwerem, glänzendem schwarzem Haar umschattetes Gesicht leuchtete alabastern, wie von innen erhellt.

»Ich finde nichts Unästhetisches oder gar Widerliches in dem Gedanken. Eine Ehe mit einem Genie bietet, wenn man ihn liebt – und das ist doch die Voraussetzung jeder wahren Ehe –, andere Beglückung als eine Ehe mit einem ruhmlosen Mann. Das Körperliche tritt dabei völlig zurück.«

Unterdrückter Widerspruch bei den Leidenschaftlichen wurde laut.

»Und dennoch hätte ich gehandelt wie Ulrike von Levetzow.«

Atem der Überraschung wehte durch das Zimmer. Von der feinen klugen Esther hatten alle das Gegenteil erwartet.

»Bitte«, mahnte Just zur Fortsetzung.

»Ich denke mir das Zusammenleben mit solch einem überragenden Geist sehr lähmend und erdrückend.«

»Nanu?« rief eine vorlaute Stimme. Just drohte mit dem Blick in die Richtung der Unterbrechung.

»Selbst wenn die Frau von hervorragender Klugheit und ungewöhnlichem Wissen wäre. Was kann alle Klugheit und alles Wissen neben einem Goethe bedeuten! Nichts. Man muß sich dauernd klein und nichtig, töricht und erbärmlich vorkommen. Man wird aus Furcht und Hochachtung, und weil man sich in seiner Nichtigkeit aufdringlich erscheint, aus Scham noch unbedeutender, als man wirklich ist. Lebt ständig unter dem Alb der eigenen Unzulänglichkeit, wagt keine Meinung mehr zu äußern, kurz, erstickt unter dem ungeheuren geistigen und seelischen Übergewicht, das auf einem lastet. Verliert aus Befangenheit jede Selbständigkeit und jeden Mut des Gedankens –« sie warf den ausdrucksvollen Kopf zurück – »nein, ich hätte aus Selbsterhaltungstrieb gehandelt wie Ulrike, und ich glaube fast, sie hat aus meinen Gründen darauf verzichtet, die erste Frau ihres Jahrhunderts zu werden.«

Wieder folgte ein Raunen, ein Flüstern nachdenklichen Wägens und überzeugter Beistimmung.

Da hob sich Utes Stimme aus dem dumpfen Schwall. Ihre Stimme war wie ihr Haar. Hellweiß und funkelnd schien sie Just, und warm wie ihr Wesen, und erregt wie ihr lebhaftes Blut. Er sah sie nicht an, er genoß nur diese so körperlich wohltuende Stimme. Er wußte, noch ehe sie sprach, wie sie entscheiden würde.

»Wir sprechen von Goethe«, begann sie langsam, suchend. »Aber wir können verallgemeinern. Wir sprechen von der höchsten Liebe und Leidenschaft überhaupt.«

Just wandte sich ihr langsam zu, sah ihr von der Glut innigsten Erlebens erhitztes Gesicht. Ihre Wangen – schmale ovale Wangen – waren gerötet. Ihm war, als spräche sie Geheimstes ihres Gemüts aus, ein Geheimnis zwischen ihr und ihm.

»Da spielen die Jahre keine Rolle. Liebe ist zeitlos.«

Sie sah ihm klar und fest in die Augen. Der Blick schien ihm Bekenntnis und Verheißung.

»Wenn ein Mann von Goethes hoher Ethik Ulrike zum Weibe begehrte mit der Leidenschaftlichkeit, die aus der Elegie loht – ich denke an die Verse« – sie nahm das Buch auf und las:

»Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren,
Der ich noch erst den Göttern Liebling war;
Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren
So reich an Gütern, reicher an Gefahr;
Sie drängten mich zum gabeseligen Munde,
Sie trennten mich und richten mich zugrunde –

dann war er sich bestimmt bewußt, ein Mann zu sein in des Wortes verwegenster Bedeutung. Ob er 74 war oder 24, erscheint mir dabei völlig nebensächlich. Er allein konnte wissen und wußte es sicher auch sehr genau, ob er es wagen durfte, eine Neunzehnjährige zu freien.«

Die Klasse lauschte hingerissen dieser klugen melodischen Stimme. Sie kannten Ute Haink nun seit Wochen und wußten, daß sie stets ganz, mit aller Kraft und allem Können für ihre Ueberzeugung eintrat. Dieses restlose Einsetzen ihrer Persönlichkeit hatte ihr Achtung und Bewunderung erworben.

»Ein famoser Kerl, die Ute«, lautete das wohlwollende Urteil der Klasse. Doch so hingegeben an ihr Thema hatten sie die »Neue« noch nie gesehen.

Heftiger fuhr sie fort: »Wo da etwas unästhetisches oder Peinliches liegen soll, begreife ich nicht. Liebe ist doch nicht an Jahre gebunden. Ach, ich wiederhole mich. Verzeihung. Und, um nun auf das zu entgegnen, was Esther Mayer gesagt hat: ich kann mir nicht vorstellen, daß ein erhabener Geist einen schwachen, strebenden, suchenden unterdrückt und erstickt. Vor allem kann ich mir das von dem Manne nicht denken, der gesagt hat: Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen. Nein, ich denke mir, je höher einer steht, desto liebevoller ist sein Verständnis für jeden Ringenden. Neben einem Manne von Goethes Rang zu leben, als sein Weib, als seine Geliebte – ganz gleich – als sein Weggefährte – muß das Erhebendste sein, was ein Mensch ersinnen – was einer Frau beschieden sein kann.«

Just vergaß auf Sekunden seine Liebe. Der Erzieher und Lehrer in ihm jubilierte. Diese Generation, diese Jugend von heute! dachte er beglückt, wie sie redet! Wunderbar, herrlich! Auch sie ist ja nur eine von vielen.

Dann sah er wieder nur Ute, die er liebte, die ihn mit jedem ihrer heißen, tapferen Worte ins Herz traf, sah Ute, das junge Weib, das rücksichtslos ihr innerstes Wesen bloßlegte.

»Für jedes Gute und Hohe in mir das weiteste und weiseste Begreifen zu finden, jedes kaum angedeutete Gefühl und jede spürende Erkenntnis verstanden zu wissen, das erscheint mir das höchste und erträumteste Frauenglück dieser Erde.«

»Danke«, stieß Just mühsam hervor. »Ich habe nicht die Absicht, mir eine Entscheidung anzumaßen. Ich wollte nur Ihre Ansicht hören und Sie bewegen, sich einmal mit allen Sinnen in die Lage Ulrikes von Levetzow zu versetzen, wie ich Sie oft gebeten habe, auf Augenblicke in die Hülle anderer historischer Personen zu schlüpfen und deren geschichtliche Entscheidung nach ihren eigenen Gesetzen nachzuentscheiden. Jetzt wollen wir die Elegie auf uns wirken lassen. Bitte, Fräulein Kunz«, wandte er sich an die beste Leserin der Klasse.

In der Pause bildeten sich, wie oft nach Justs Stunden, erbittert debattierende Gruppen. Nie Anregung wirkte nach, oft tagelang. Just wußte es und wollte es.

Er ging langsam ins Lehrerzimmer. Von 9 bis 10 hatte er eine Freistunde. In ihm war Sturm und Aufruhr. Sein Wunsch war erfüllt, Ute hatte bewegt über die Liebe gebeichtet. Er war über das Enthüllende ihrer Worte nicht überrascht. Er hatte sich ihre Einstellung nach allem, was er von ihr wußte, ähnlich gedacht. Sie war ein Mensch, der kein feiges Schwanken kannte, der selbständig und kühn war in seinen Gedanken und seinem Tun. So hatte er ihre Stellung zu dem Problem Ulrike gedacht.

Aber was hatte ihre Stellung zu dem Problem mit ihm zu tun, mit ihm und seiner törichten wahnwitzigen Liebe? Was? Sie würde einmal einen Mann lieben mit der reinen verschwenderischen Glut ihres Wesens. Wie hatte sie doch gesagt? Liebe ist zeitlos. Ein schönes Wort einer Neunzehnjährigen. Aber was hatte dieses Bekenntnis mit ihm, dem Studienrat Doktor Just, zu schaffen? Was barg es Beglückendes für ihn? Was hatte er bezweckt, als er die Klasse und sie vor diese Probe stellte? Inwiefern berührte ihr Glaubensbekenntnis der Liebe ihn? Hatte sie ihm ihre Liebe gestanden? Sah sie ihn überhaupt als Mann? War er ihr irgend etwas anderes, Wichtigeres, Bedeutsameres als irgendein anderer Lehrer?

Ja, um alles in der Welt, was wollte er denn erreichen?! Was wollte er denn aus ihr herauslauschen und herauslocken? War er denn irrsinnig geworden? Eine Schülerin. Er liebte eine Schülerin, mit einer Liebe, die seit Wochen in ihm umging und nun zu einem Verhängnis geworden war, das ihn und seine Stellung und seine Ehe und sein Leben zu zermalmen drohte.

Er erkannte, daß der Boden unter seiner Existenz wankte, unter ihm wegglitt. Und floh vor sich und seiner Verlorenheit zu den anderen, zu den Kollegen, zu den Menschen, die noch waren wie er gewesen war, ehe die Liebe zu Ute Haink über ihn hereingewettert war.

Er rannte gehetzt ins Lehrerzimmer.


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