Alfred Schirokauer
Der erste Mann
Alfred Schirokauer

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II

Am nächsten Morgen ging Ulrich Just in bebender Erwartung, wie seit Wochen, zur Schule. Noch heute pochte zum ersten Male in diese froh-beglückende Erregung ein dunkler Mißklang der Schuld. Eine dumpfe Bedrücktheit, deren er sich, aller Vernunft und allem Trotz zuwider, nicht erwehren konnte.

Gaby machte, wie immer stolz auf ihren schönen, berühmten Papa, mit ihren nackten, besockten, sonnen-braunen Beinchen neben ihm komische Springeschritte. Es war ihr Ehrgeiz, mit »Papsel« Tritt zu halten. Sonst verwehrte er es ihr lachend und mäßigte die Gangart. Heute beachtete er ihre drolligen, eigenwilligen Bemühungen nicht. Sie gingen immer zusammen zur Schule, wenn Just die erste Stunde hatte. Dann plauderte er lebhaft, ergriff jede Gelegenheit, spielerisch, unauffällig den Wissenskreis seines einzigen Kindes zu erweitern und zu klären. Heute, wie oft in der letzten Zeit, schwieg er. Auch Gaby hielt die plauderfrohen Lippen fest geschlossen.

Sie verehrte den Vater als ein überirdisches Wesen. Sie wußte, daß er für den besten und beliebtesten Lehrer der Schule galt, kannte die Verehrung, mit der die Schülerinnen der obersten Klassen – o ferner Traum! – an ihm hingen. Ein Abglanz seines Glorienscheins leuchtete auch auf sie herab unter Lehrern und Schülern. Sie fühlte, daß sie um ihren Vater beneidet wurde. In ihrem Herzen war er der bedeutendste und größte lebende Mensch. Auch von Mama hatte sie ähnliche Urteile vernommen.

Sie war andachtsvoll überzeugt. Wenn Papa, wie heute, schwieg, türmten sich in ihm große Gedanken. Mit Riesenschritten kämpfte sie sich neben ihm dahin, bemühte sich trotzdem, leise aufzutreten, und schoß zornige Blicke auf jedes Auto, das es wagte, hupend oder ratternd die Gedankenarbeit ihres Abgotts zu stören.

In der Nähe des Gymnasiums gerieten sie in den Strom der Schülerinnen. Sie wußte, wie ein kleiner Soldat, der mit einem hohen Offizier geht, daß sie nicht mitgrüßen dürfe, wenn Papa die Knickse der Jüngeren, die Verbeugung der obersten Vierhundert dankend quittierte. Aber ganz steif und gereckt vor Zugehörigkeit ging sie doch.

Da rief eine Stimme sie mit Namen. Sie wandte sich um. Es war ihre Busenfreundin Liselotte. »Willst du mit ihr gehen?« fragte Just. Er lechzte nach Alleinsein; das Kind störte ihn heute sonderbar.

»Aber nein!« empörte sich Gaby und nahm seine Hand, eine Anhänglichkeit, die sonst, als einer großen Gymnasiastin unwürdig, voller Verachtung streng verpönt war.

»Ich mag Liselotte überhaupt nicht mehr. Sie schimpft immer so auf ihren Vater.«

»Schimpft?« fragte Just automatisch. Seine Gedanken waren weit weg von den Worten des Kindes.

»Ja«, berichtete Gaby wichtig, »er hat Liselottes Mutter doch verlassen. Ist aus dem Hause weg. Er liebt eine andere.«

Justs Teilnahme war plötzlich gepackt. »Was ist das?«

»Ja. Und Mutti hat gestern auch gesagt, als ich es ihr erzählt habe, es wäre eine Gemeinheit, die Frau mit ihren drei Kindern zu verlassen.«

»Man soll nicht Geschichten aus andern Häusern weitertragen«, tadelte er sanft. »Das führt stets zu schiefen Urteilen. Kein Fernstehender kann in eine fremde Ehe hineinsehen.«

»Nicht wahr?!« rief Gaby kindlich feurig. »Ich habe auch zu Mutti gesagt, man weiß doch nicht, wie sie zu ihm gewesen ist, wenn keiner dabei war!«

Just stutzte schuldbewußt über den verteidigenden Eifer des Kindes.

»Wir wollen uns nicht um anderer Leute Privatangelegenheiten kümmern«, wehrt der Pädagoge in ihm. Dann aber fuhr er fort, als suche er bei seinem Kinde Hilfe und Verstehen in seiner Seelennot.

»Es kommt in einer Ehe nicht allein darauf an, Gaby, wie die Menschen zueinander sind. Liebe ist etwas unendlich Schweres – und Zartes. Schuld und Nlchtschuld spielen darin keine ausschlaggebende Rolle. Auch nicht Güte und Unverträglichkeit. Liebe kommt und geht. Liebe ist kein Verdienst für Treue und Zärtlichkeit. Liebe ist eine unverdiente Gnade und unverschuldete Schuld. Aber das verstehst du wohl noch nicht, kleine Gaby.«

Sie sah zu ihm auf aus ihren klugen braunen Augen, die den seinen wundersam glichen, und sagte nichts. Aber in der leuchtenden Iris stand ein altkluges ererbtes Begreifen, weit über ihre Jugend hinaus.

Sie kamen in das Vestibül der Schule, das widerhallte von dem stürmischen, lebensvollen Andrang Hunderter junger Menschen. Just strich über Gabys dunkles, unbedecktes Haar.

»Auf Wiedersehen, Gaby.«

»Auf Wiedersehen, Papsel.«

Sie stob kindlich wild davon.

Langsam stieg er die Treppe zum Lehrerzimmer hinauf. Auf dem Flur des ersten Stockes zögerte er. Er wollte nicht zu den Kollegen, konnte jetzt keine Gesellschaft ertragen.

Ruhelos ging er auf und nieder. Die Worte Gabys hatten ihn aufgewühlt. Kinder sprachen schon weise über Ehen! Jeder meinte, sich über Ehen ein Urteil anmaßen zu dürfen. Was wußte man von fremden Ehen – und von der eigenen?

Es zuckte verzagt um seinen bartlosen Mund. Nichts, nichts wußte man. Man lebte Jahre, elf Jahre, im Wahn der glücklichsten körperlichen und seelischen Gemeinschaft, und plötzlich – – Unsinn. Er liebte Julie. Ja doch. Wie immer, wie alle diese langen Jahre. Sie war sein bester, sein einziger Kamerad und Freund.

Er war immer in seiner Ehe aufgegangen. Hatte alles, alles Geistige und Wirtschaftliche, mit Julie besprochen, sie teilnehmen lassen an seinem Werden und Wachsen und Planen, seinen literarischen, pädagogischen Arbeiten und seinen Erfolgen. Hatte außer ihr keinen Geistesgenossen. Auch nicht unter den Kollegen, von denen mancher ihm wissenschaftlich nahestand. Aber Freund? Freund war ihm nur Julie mit ihrer seelischen Einfühlung und ihrem rasch erfassenden Verstand. Und dennoch – trotz allem – liebte er Ute Haink! Ja, warum eigentlich nicht? Es war doch töricht und anmaßend, zu glauben, die Liebesfähigkeit eines Menschen erschöpfe sich in einer Liebe. Mit fünfundzwanzig, nach dem Staatsexamen, hatte er geheiratet. Und damit sollte jede weitere Liebe ihm verschlossen sein!

Ein Wahn, ein Vorurteil, ein Aberglaube, den die Ehe aus Selbsterhaltungstrieb und Notwehr erfunden hatte. Eine Frauenerfindung. Er war ein lebendes Zeugnis dafür, daß Männer zur gleichen Zeit zwei Frauen lieben konnten. Frauen liebten anders. Aber Männer! Männer konnten zwei – vielleicht auch mehr – Frauen zur selben Zeit lieben mit der gleichen Kraft und Tiefe. Der Mann liebte ja in jeder Frau etwas anderes, andere Eigenschaften, andere Gaben, andere Verführungen und Beglückungen.

Just blieb stehen.

Hm, belog er sich nicht? Wahrhaftig nicht?! Liebte er Julie noch so ausschließlich, wie er sie geliebt hatte, ehe Ute in sein Leben getreten war? War er ganz ehrlich gegen sich – gegen sie?

Er ging gesenkten Hauptes durch den einsamen Korridor, in den der Atem des belebten Hauses hineinfauchte.

Ganz ehrlich sein! Keinen Lug und Trug in sein Leben einschleichen lassen! War nicht schon seit Monaten, noch ehe Ute Haink auf die Schule gekommen war, eine Müdigkeit in ihm gewesen, eine Sehnsucht nach Jugend und Rausch, nach Abenteuer und neuen Spannungen? Ein Fluchtwunsch aus dem geruhigten Gleichmaß des Altgewohnten, eine seelische Bereitschaft und ein tief innerlich bohrendes Verlangen nach Umschwung, nach Abwechslung, nach Aufruhr? War das alles in ihm gewesen, unbewußt vielleicht, oder bildete er es sich jetzt nur ein, weil das Neue, dieser Ausbruch aus der umzäunten Bahn einer elfjährigen Ehe über ihn gekommen war?

Die Glocke schrillte durch die Korridore. Just ging langsam auf seine O Ia zu.


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