René Schickele
Himmlische Landschaft
René Schickele

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Fünf vor Null

Das Lipburger Tälchen

Eines Nachts ging ich in den Mond bis zu einer Bank, von der man über ein kleines, vielfach bewegtes, aber geschlossenes Tal blickt. Die Bank steht neben einem niedrigen Steinkreuz am Waldrand.

Es ist ein wunderbarer Platz zum Alleinsein, zum Schauen und jener tieferen Art von Schau: dem Horchen . . . Der Mond hielt noch hinterm Wald, ich konnte ihn nicht sehen. Um so inbrünstiger leuchtete in der Schale des Tälchens die Nacht. Tief um die Bäume gesammelt hingen die Wiesen im Abgrund. Obenauf schwamm der kleine Friedhof.

Die Mauer, die in einer Ecke das Gebeinhaus hielt, stieg unvermittelt aus den Wiesen. Die Gräber waren ihnen nicht fremder als der gepflügte Acker dem unaufgebrochenen Weidestück daneben – vom Kreis der Berge, über den Rand eines unerschöpflichen Brunnens, strömte die Stille.

Die schmiedeeiserne Tür war immer angelehnt, 109 immer schien gerade jemand den Friedhof verlassen zu haben, aber nie hatte ich hier einen Menschen getroffen. Die Gräber waren gepflegt in der Art der winzigen Bauerngärten, nicht zuviel, nicht zuwenig. Für jede Jahreszeit stand eine Staude bereit und dazu die eine oder andere Sommerblume.

Hier wollte ich einmal ruhen, bis die Posaunen des ewigen Sommers mich weckten.

 
Herbstpflanzung

Mein Tisch liegt voller Blumenzwiebeln, einer Dynamitladung von Farben, die jetzt heimtückisch in den Boden versenkt werden, Flatterminen, die das nächste Frühjahr zur Explosion bringt . . .

Zuerst werden die gelben Wintersturmhüte losgehn, noch unterm Schnee. Wir haben sie mit weißen Krokussen und Schneeglöckchen durchsetzt und einen Hartriegelstrauch, der ganz früh und gelb blüht, in die Nähe gerückt. Das gibt die erste Fanfare, schmelzelnd mit dem Schnee, dann anwachsend unter der Sonne, die die schwarze Gartenerde freilegt – bis wenige Tage später, aus einer entlegenen Ecke, in plötzlich auftauchenden Massen die gelben Riesenkrokusse einfallen . . . Weiß Gott, ich fühle den Tumult schon im Blut, die gelbe Sarabande, deren Töne auf Sonnenstrahlen durch den Garten flitzen!

110 An den ersten schönen Abenden bläst das Orchester kleine Wiegenlieder, die keiner vergißt, der sie einmal gehört hat, und morgens rühren sie die Klappern zum Wecken.

Sollten dann böse Tage folgen, wird die Vorhut tapfer gegen Sturm und Schneetreiben stehen und den Frühling am Rockzipfel festhalten.

Bald stellen Szilla und Schneeglöckchen sich ein, es marschiert die bunte Truppe der Tulpen auf, die frühen, mittleren, die Darwintulpen, die Papageientulpen, die neuentdeckten »Bizarren« unserer Großmütter, ein langer, feierlicher Zug, dem die Krokusse voraustanzen wie die Kinder der Wachtparade.

Jetzt herrscht Fülle. Der Tag dehnt sich, wird üppig, kleidet sich immer reicher. Der Abend vergeht im kristallklaren Duft der Dichternarzissen (der schönsten aller Narzissen, trotz der kostbaren Neuzüchtungen). Die Camassia ist auch da, von der ich glauben möchte, sie sei die blaue Blume des Novalis, die Ixia und viele andre kleine Dinger, die einen wahr und wahrhaftig verzaubern, Zwiebelfeen, Luftgeister, die mit der Nabelschnur an der Erde festhängen und an die man sich nie gewöhnt, so oft einem auch der Frühling durch sie bis ins Blut geschaut hat . . . Es läuft mir über den Rücken, wie ich in meinem Zimmer zwischen geheiztem Kachelofen und beschlagenem Fenster an ihre Gesichtchen und ihr lustiges Wesen denke!

111 Aber auch die Herbstkrokusse, die gefüllten Herbstzeitlosen und andere Herbstblüher kommen jetzt in den Boden, und dann ist die Pflanzung beendet. Mit diesem in die Beete versenkten Donnerwetter und Gezwitscher aufrührerischer Farben beschließen wir die Vorbereitungen für die nächste Spielzeit unseres Blumentheaters.

 
Der Abschied

Schöne Herbsttage überlebten sich verzückt in der Mondnacht.

Der Morgen lag von Reif glitzernd unter einem sanften Himmel, lautlos weideten Kühe den Hang herauf.

Die Jungen, die sie hüteten, waren stumm.

Einmal knallte einer mit der Peitsche, was ein schönes Spiel ist, aber nicht lange, dann fühlte er sich von dem knatternden, gleichsam schulmeisterlich verweisenden Echo aus dem Wald unangenehm berührt, es war wieder still, und die kleinen Hirten samt ihren Kühen fuhren in den Fäden des Altweibersommers traumhaft hin und her über die Wiesen.

Von Zeit zu Zeit kam ein Windhauch, ein plötzlicher Seufzer des Waldes – da flog die Stille über das Land.

Kaum daß man die Zeichnung der Vogesenkette erkannte. Dunst wie ein Paradiesgartendickicht schloß die Ebene ein.

112 Als ich auf die Terrasse trat, legte mir die Sonne eine schwere Hand auf die Schulter.

Ich verstand, daß es der Abschied war.

 


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