René Schickele
Himmlische Landschaft
René Schickele

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Lilienwiese und Kaiserstuhl

Ich will so genau sein, daß jeder den Weg findet.

Man steigt die kleine Paßhöhe jenseits Badenweilers, »die Schwärze« genannt, hinauf, schlägt, oben angelangt, den Waldweg zur Rechten ein und geht darauf weiter, bis links ein Pfad abzweigt, der einen bald an den Waldrand führt.

Hier stehn die Wiesen im Juni voller Türkenbundlilien.

Es gibt sogar eine Bank. Freilich habe ich da nie jemand sitzen sehn. Es ist eine jener komfortabel eingerichteten Einsiedeleien, wie es sie hier überall gibt, die jahrzehntelang von einigen wenigen als Geheimnis gehütet werden. Denn der Kurpark wirkt wie Fliegenpapier, alle bleiben sie dort hängen, und wer weiterwill, der geht die eingelaufenen Wege oder nimmt ein Auto. Deshalb fürchte ich auch nicht, daß meine Wegbezeichnung der Türkenbundwiese abträglich wird.

 

Einmal bin ich doch jemand begegnet. Es war zur 62 Zeit, da man auf allen Wegen abwechselnd mit »Heil Hitler!« und »Heil Moskau!« begrüßt wurde.

Da sah ich, wie eine junge Frau in weißem Kleid sich vom Waldrand löste und im hohen Gras eine Lilie brach. Als sie sich aufrichtete, erblickte sie mich. Sie legte den Finger auf die Lippen und ging, die Lilie in der ein wenig vorgestreckten Hand, langsam den Hang hinunter – dem rebenumkränzten Dorfe zu, das sich mit seinem Abendläuten und dem sanften Rauch der Kamine auf das Geheimnis der Verkündigung vorbereitete . . .

Ich wunderte mich nicht. Ich fand es ganz natürlich, daß der Engel der Verkündigung sich auf dieser Wiese versorgte.

 

Vom Waldrand bei der Türkenbundwiese schaut man in die Ebene hinein. Zwischen den Reben, in den Feldern ahnt man schlafende Wesen, die einträchtig mit Himmel und Erde atmen.

Mittendrin erhebt sich der Kaiserstuhl, fein eingenebelt in Sonnendunst, und führt Geheimgespräche einerseits mit dem Schwarzwald, andrerseits mit den Vogesen.

Ich heiße ihn einen großen, geduldigen Kuppler. 63

 


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