René Schickele
Himmlische Landschaft
René Schickele

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Ich höre das Gras wachsen

Wie Anno 1931 der Frühling ankam!

Er kam sehr spät, aber dann in einer Sturzsee von Grün. Als die Überschwemmung mit Frühling die Vorberge erreicht hatte und die Flut stillstand, blies noch einmal der Föhn darüber, und die Weite glänzte vom Gischt eines bewegten Meeres.

Das waren die Obstbäume, die dieses Jahr alle auf einmal blühten.

Freilich hatten die Kirschen einen kleinen Vorsprung, aber die andern holten ihn so schnell ein, daß man es kaum merkte.

Eines Morgens lag dichter Nebel über der Ebene. Da begannen die Glocken zu läuten, und ich sah eine Ortschaft nach der andern aus den Fluten tauchen, sie blitzten mit ihren Fenstern und Dächern, und als die Glocken ausgeläutet hatten, herrschte eine Stille, als ob das Land den Atem anhielt in übergroßer Beglückung. Zum erstenmal besaß die Sonne die Erde. Ein Hahn krähte ängstlich. Der Amsel blieb das Lied in der Kehle stecken.

40 Am Mittag desselben Tages standen alle Bäume zwischen Schwarzwald und Vogesen auf ihrem trächtigen Sommerschatten.

Es regnete. Ich lehnte am Stamm eines blühenden Apfelbaumes und glaubte zu sehn, wie das Gras in die Höhe schoß. Warum auch nicht? Alles in der Natur wächst ruckweise. Jedenfalls hörte ich es wachsen.

Unterm Regen sirrte und knisterte es – die zarten Halme bogen sich unter den Wassertropfen und schnellten in die Höhe, sobald der Tropfen abfiel, und dabei rieb sich einer am andern.

Bald darauf schien die Sonne und ein Wind stellte sich ein, der machte den Gräsern Bewegung, damit sie besser wüchsen, und brachte nebenbei das Rosa im Weiß der Apfelblüten zum Schäumen.

Allmählich vernahm ich, wie auch das Trocknen der Gräser an der Sonne einen Laut gab. Es war das zarteste Geräusch, das es gibt – das Flüstern einer Haut, die sich zusammenzieht. 41

 


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