René Schickele
Himmlische Landschaft
René Schickele

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Des Doktors Advent

I

Wenn es am 21. oder 22. Dezember Mitternacht schlägt, tritt unser Freund, der Doktor Savarin, an einen gotischen Kirchenleuchter, der in der Ecke seines Zimmers steht, und entzündet eine dicke, gelbe Kerze. Darauf löscht er das elektrische Licht und feiert gleichzeitig Weihnachten und Advent.

Für ihn beginnt die Adventszeit gerade im Augenblick, wo sie für die übrige Welt zu Ende ist – nämlich wenn die Sonne ihren tiefsten Stand erreicht hat und, nach dem Kalender, der Winter beginnt. Mit andern Worten: nach der Meinung des Doktors leuchtet Weihnachten dem Frühling auf den Weg, von Weihnachten an herrscht die große Erwartung des Tages, da auf einmal der Föhn die kahlen Wälder schüttelt, daß die Erde selbst zu tanzen scheint, tausend kleine Bäche mit dem Ungestüm froher Botschaft den Berg hinabrennen und im Schnee die Frühlingsblumen auftauchen: Anemonen, Veilchen, Primeln, Lungenkraut. Dieser Tag kann sehr bald kommen, Ende Januar schon, sicher aber im Februar, und wenn dann 25 auch der Winter Rache nimmt und die erlöste Erde nochmals vergewaltigt, so ist es dennoch schon Frühling gewesen und wird es bald wieder.

In solchen Jahren, wo der Frühling öfter vom zurückschlagenden Winter übermannt wird und er sich seinen Weg gewissermaßen sprunghaft erkämpfen muß, in solchen Jahren erkennt der Doktor und preist die Kraft und Zuversicht des Knaben, seine verwegene Tollheit, die übrigens gar nicht so verwegen ist, wie es den Anschein hat, da sie auf der größten Gewißheit der Erde, dem Bündnis mit der Sonne, beruht. Immer höher steigt die Sonne, der Frühling springt ihr nur nach! Aber daß er es wie ein Verliebter tut, davon wird die Erde schallend vor Heiterkeit und Wagemut.

Vom Augenblick an, da die mächtige gelbe Kerze brennt, lebt der Doktor in seiner Erwartung. Das ist sein Advent, und so erklärt er sich, daß es in seinem Kalender keinen Winter gibt. Die Unruhe aber, die jeden beim Nahen des Weihnachtsfestes befällt, selbst den Widerstrebenden, selbst ihn, den Doktor, dieses durchaus frühlingshafte Kribbeln deutet er als den Vorboten des Heils und seiner blühenden Schauer.

Als Junggeselle verbringt er seit vielen Jahren den Heiligabend in unserer Familie. Er tritt vor den Lichterbaum mit der Überlegenheit eines Hochzeiters, der sich bewußt ist, das Wesentliche bei der Braut in aller Stille 26 bereits vorweggenommen zu haben, also in falscher Bescheidenheit und glühend vor Besitzerfreude.

II

Was folgt, ist eine Ballade.

Der Riesenmohn hatte im Dezember frisches Laub gezeigt, im Januar prahlte er mit dicken Knospen. Bald darauf verbrannte ihn der Schnee. Den Schnee trank die Erde, gleich trieb die Pflanze unter den schwarzen Blättern wieder aus.

In den Polstern von Sedum, Steinbrech, Sempervivum kam und ging ein farbiges Gewimmel. Die Blätter einer Donnerwurz behielten ihren perlmutternen Schimmer selbst unter dem Schnee. Wenn in den Mittagsstunden der Schnee schmolz, verrichteten sie das Amt von Leuchtbojen für Käfer und Würmer, deren Seefahrt ich, tief in die Knie gekauert, mit Ernst verfolgte.

Es kam eine unruhige Nacht.

Der Föhn blies, und in den Wolken torkelte ein voller Mond, der Hofhund bellte ihn heulend an, bis der Kerl über den Dachfirst verschwand.

Aber noch immer dröhnte der Wald und knirschte, wie wenn verankerte Schiffe sich im Sturm aneinanderreihen.

Am andern Morgen stieß mein erster Blick aus dem Fenster auf Reihen von Maulwurfshügeln, die sich im Schnee hervorhoben. Das waren aber keine 27 Maulwurfshügel, sondern Schollen des umgelegten Gartens, und daran erkannte ich, daß es taute, bevor noch die Sonne da war.

Und zwar taute es diesmal im großen.

Als Savarin nach Beendigung seiner Morgenbesuche zu mir heraufkam, brannte die Sonne auf dem Hof. Dem angeketteten Hund zerging der Schnee unter den Pfoten. Du lieber Gott, taute am Ende auch der Hund? Der Doktor blieb erschrocken stehn. Das Wasser schien dem Tier die Beine hinabzulaufen, ganze Pfützen hatten sich unter ihm angesammelt. Offenbar teilte der Hund die Befürchtung des Doktors, denn er blickte bekümmert auf den Schneemann beim Brunnen und wieder auf seine Pfoten.

Auf der Straße fuhren Wagen mit Langholz vorbei. Die Enden der geschälten Tannen, die über die Hinterräder hinausragten, schwangen und versendeten Blitze. Zwischen den beschneiten Ästen und ihren kohlschwarzen Stämmen leuchteten silbrig die Mähnen der Pferde.

Vögel jubelten. Tiefer unten, auf der Wiese hinter dem Gartenzaun, traten die Maulwurfshügel ans Licht – diesmal die richtigen, die Plumpuddings, die mit Regenwürmern gespickt sind.

Die Amseln zumal schmetterten vor Appetit. 28

III

Der Hund hockte noch immer kläglich auf seinem Platz, niemand nahm ihn von der Kette, er zürnte und flehte. Begreiflich! Sah er sich nicht schon in Schneewasser aufgelöst? Der Schneemann am Brunnen machte es ihm ja vor! Endlich erbarmte ich mich.

Kaum losgelassen, brachte der Hund sich in Sicherheit, indem er in den nächsten Schatten sauste, und er wagte sich erst wieder hervor, als er seiner Haltbarkeit halbwegs gewiß war. Zur Probe setzte er zweimal über den Zaun. Nachdem er zweimal unbeschädigt gelandet war, hoppelte er zufrieden auf die Terrasse, von wo er sein Echo anbellte – den einzigen Feind, der sich im Augenblick auftreiben ließ.

Das Echo klang märchenhaft rein. Es war der Geist eines Hundes, der Antwort gab.

Der Dauersieg ermüdete ihn, und er streckte sich zum Schlafen aus.

Indessen hockte, wie Savarin weiter bemerkte, die Katze auf einem Querbalken der Weinlaube und putzte sich vor dem Spiegel eines Himmels, in dessen Bläue das Licht wie eine Schicht Quecksilber durchschlug . . . Der Doktor dachte an einen Tag am Mittelmeer. Es war lange her . . . Er stand hinter einer Frau. Die Frau war jung, hellblond. Sie saß am Toilettentisch und machte sich schön. Durch die offenen Fenster strömte das Licht von 29 Meer und Himmel, und der Doktor entsann sich genau des Gefühls, das ihm in köstlicher Weise die Brust eingeschnürt hatte, des Gefühls, als wäre das Zimmer ein großer Fahrstuhl, der lautlos in die Höhe glitt. Sie hieß Pauline.

IV

Savarin schüttelte ein wenig den Kopf, und wir brachen zu unserm gewohnten Spaziergang auf, nur vergaßen wir diesmal, den Hund mitzunehmen. Der Wald rauschte von all dem Wasser, das den Berg hinabstürzte. Aus dem Laub des vorigen Jahres stießen Anemonen, jeder vom Schnee befreite Ast trug einen Vogel aus Licht, der sich im leichten Winde wiegte. Alles war heutig, schön und frisch. Noch einmal begann das Leben von neuem.

Wir verließen den Pfad und stiegen steil den Berg hinauf. Wir gingen immer schneller, als gelte es eine Eroberung. Savarin zog Rock und Weste aus und schließlich auch das Hemd. Er schwitzte in Strömen, schwitzte, wie er es nannte, seinen alten Adam aus, gewaltig, und stöhnte vor grimmer Lust.

Als wir zurückkamen, schlug es unten in Badenweiler zwölf – dumpf, als schlüge es in der Erde.

Der Hund war weg. Wahrscheinlich hatte er seinen Herrn gesucht und nicht gefunden.

Die Katze aber war da. Sie saß noch immer wie vor dem Spiegel und putzte sich. Bei ihrem Anblick empfand 30 der Doktor nicht nur jene Wehmut, die eine unvermeidliche Begleiterscheinung des Frühlings ist, sondern einen rechten Verdruß an der Welt. Sie kam zu leicht vom Geliebtesten los, die Welt, von der Weisheit des vorigen Jahres und dem Überschwang des folgenden und erst recht vom Leid des nächsten, aber niemals, niemals vom Spiegel, den sogar der Himmel dieser unglückseligen Welt vorhielt!

Eine Weile stand er in ratloser Verfinsterung wie ein Junge, den man infolge eines Mißverständnisses von der Schule gejagt hat . . . Und er haßte die Katze, die auf dem Weingang saß und so anmutig und schuldlos ihre Pfoten gebrauchte. Er haßte sie, wünschte, sie fiele, von einem Blitz aus dem heitersten Himmel getroffen, tot vom Stuhl und läge da, verbraucht und nutzloser als das Laub vom vorigen Jahr.

Bald aber schüttelte er ein wenig den Kopf, bloß ein wenig, genau wie er es vorhin getan hatte, pflückte einige Krokusse, ging nach Hause und legte die Blumen, die er jetzt heimlich für sich »tote Kolibris« nannte, als ein Dankopfer auf die Schale seines Adventleuchters. 31

 


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