René Schickele
Himmlische Landschaft
René Schickele

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Der Bergbriefträger

I

Der Briefträger, der das Blauenhaus versorgt, hat im Frühjahr ein abwechslungsreiches, aber schweres Leben. Er macht täglich die Reise von Badenweiler nach Spitzbergen und zurück.

Wenn bei uns die Krokusse ausschellen, der Tulpenzirkus sei unterwegs, liegt der Berggipfel in Eis und Schnee, und nichts verrät, daß unten die Wässerlein rennen, was sie können, die Vögel geschwätzig Nester bauen oder ausbessern und vollgefressene Amseln ihr Mittagsschläfchen an der Sonne halten.

Wenn bei uns die Kirschen verblühen, sind auf dem Blauen die Buchen noch in einen Sprühregen von Knospen gehüllt, den die Nacht in Eiskristalle verwandelt.

Droben liegen noch Haufen Schnee, da schwimmen auf den Bächen Veilchen mit langen Stielen, die die Kinder weggeworfen haben, weil es zu viel davon gibt. (Man sieht den Veilchen an, daß sie im Wasser weiterblühn. Sie treiben lustig dahin, drehen sich auf den 104 kleinen Strudeln, und an Stellen, wo der Bach aufstrahlend ihre Farbe annimmt, weil er den Himmel spiegelt, erlöschen sie wie ein Licht.)

 

Der Briefträger kommt oben heiser an und muß sich dauernd räuspern, wenn er mit Vater Haas, dem Blauenwirt, redet. Bei seiner Heimkehr riecht er nach Grog, aber die Stimme ist klar.

Er trägt in seiner Tasche Schlüsselblumen hinauf und Schneeklumpen an den Stiefeln hinunter, und wo er stehenbleibt, bildet sich eine Wasserlache.

Unten fragt man ihn gern, ob heute Alpensicht sei. Er hat noch nie »Nein« gesagt, denn er ist gut Freund mit Vater Haas.

 

Einmal, der Flieder blühte schon, marschierte er als Weihnachtsmann durch den Ort, schneeweiß von Kopf zu Fuß.

Die Jungens, hinter ihm her, sangen höhnisch »O Tannenbaum . . .« und taten, als ob sie Schneeballen kneteten und nach ihm würfen, während die Mädchen, auch kalendermäßig hinter den Jungen zurück, mit scheinheiliger Miene versicherten: »Von drauß' vom Walde komm ich her – Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr.«

105 Andre Male freilich liegen wir blöd und kurzsichtig im Nebel, und oben ist alle Pracht des sonnigen Hochgebirges versammelt – die alte Erde entsteigt, aus dem Ei geschält, einer Sintflut schmutziger Nebel.

Und wir hören den Briefträger über uns lachen.

II

Im Sommer steigt er täglich auf den Berg, statt, wie in der übrigen Zeit, bloß zweimal in der Woche.

Dafür erlangt er aber auch eine unvergleichliche Stellung, der gemäß ein etwas weniger bescheidener Mann sich ruhig gestatten dürfte, allen andern Briefträgern aus tausend Meter Höhe auf den Kopf zu spucken. Was sind die brieftragenden Zwerge der Täler neben ihm? Verweser des Alltäglichen, Beamte des stündlichen Kleinkrams, Umlaufmännchen eines Uhrwerks . . .

Hingegen er! Sein Auftauchen auf dem Gipfel ist dem Ruhm eines Landes vergleichbar, im Augenblick, wo Schiffbrüchige es betreten, oder, umgekehrt, der magischen Erscheinung jenes Schiffes, das Robinson von seiner Insel erblickte.

Alle die Menschen, die sich vor der Geschäftigkeit der Welt auf die himmeloffene Arche des Berggipfels geflüchtet haben, stürzen bei seinem Anblick infolge eines plötzlichen Bebens über Bord. Die harten Kämpfer hingen gleichsam in der Luft, nun fassen sie kräftig Boden. 106 Den in vierundzwanzigstündiger Einsamkeit halbverwilderten Frauen winkt Stab und Halt.

Ein Liebesbote taucht aus dem Wald auf, schwitzend von der Last der Herzensergüsse, die er den Berg heraufschleppt, ein Prophet entledigt sich seiner Bürde. In jeder Ecke, wo Zeitungen gelesen werden, munkeln noch stundenlang die Orakel, brutzelt der Zorn der Zeit auf dem Spirituskocher.

Die Frauen sind mit ihrer Post in den Wald entschwunden.

 

Es gibt den »Briefträgerweg« auf den Blauen.

Das ist ein grober, von den Stiefeln vieler Briefträgergeschlechter ausgetretener Pfad, der stracks durch dick und dünn auf den Gipfel führt und von dem gewöhnliche Bergsteiger nur mit Hochachtung sprechen. Es ist ebenso beschwerlich, ihn abwärtszugehn wie hinauf. Richtig, von Anfang bis Ende, hinauf geht ihn auch der Briefträger nicht, aber hinab kennt er keinen andern Weg, und sicher ist die Talfahrt das größere Kunststück . . .

Ich schlendre, Zitto an der Kette, den Berg hinab. Auf einmal wird der Hund unruhig. Zwei, drei Steinchen kollern über den Weg, sonst ist alles ruhig. Der Hund zerrt an der Kette und stößt immer wieder gegen die Böschung vor.

Jetzt vernehme ich über mir ein Rasseln, von kurzen, 107 wilden Schreien unterbrochen, die Reste einer Steinlawine, die eine Brombeerhecke abfängt, bröckeln auf den Pfad – Zitto heult auf.

Gleich darauf erblicke ich ihn, wie er senkrecht den Wald herabgesaust kommt. Er fährt auf den Steinen wie auf Rollschuhen. Der Uniformrock ist geöffnet, das Hemd – das Gesicht glüht. Die Stiefel sprühen Funken. Sein Mund steht offen, er singt und schwingt den Stock.

Mit einem Sprung setzt er über den Pfad, rollt weiter, weicht blitzschnell vor einem Baum aus und ist weg.

Der Hund schnuppert winselnd in den Schweißschwaden, der quer über unserm Weg steht, und es dauert lange, bis er sich beruhigt . . .

Das war der Bergbriefträger auf seiner Talfahrt. 108

 


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